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Gyges zwischen Slip und Burka

von Alexander Kohlmann

Hannover, 14. Mai 2011. Gyges (Janko Kahle) vögelt gerne. Mit besonderer Vorliebe vernascht er die Praktikantinnen der mit Freund Kandaules (Rainer Frank) gemeinsam geführten Werbeagentur. Ausgerechnet eine Image-Kampagne für ein positives Islambild sollen die beiden hippen Kreativen jetzt entwickeln. Erste Slogans gibt es bereits – Kostprobe: "Islam kann auch sexy sein" oder "Entdecke den Islam". Vorerst hat Gyges allerdings erst mal die ziemlich westliche Sexbombe Sarah (Carolin Eichhorst) entdeckt, und gleich im ersten Drittel des Abends wird der Zuschauer Zeuge, wie die beiden so ziemlich jede Stellung des Kamasutras durchprobieren.

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Gyges, Kandaules und die Wasserpfeife
© Katrin Ribbe

Es ist ein visueller Overkill, der noch verstärkt wird durch die völlig außer Kontrolle geratenen Phantasien Gyges, der sich – untermalt von rhythmischen Klängen und Schummerbeleuchtung – schon einmal vorstellt, wie es auch noch der ausländische Putzmann (Thomas Mehlhorn) mit seiner immer bereiten Praktikantin treibt. Irgendwann hat man von Sarah und Gyges genug, und als mitten in diese orgiastische Szenerie plötzlich Nyssia (Meriam Abbas), die frischangetraute Ehefrau von Freund Kandaules, platzt, erscheint die – unter einer schwarzen Burka vollverschleierte – Frau plötzlich überhaupt nicht gefährlich oder gar bedrohlich, sondern ziemlich sympathisch.

Was immer noch niemand sehen darf

Endlich mal eine, die nicht ihren rosa Slip auf dem Servierteller präsentiert. Endlich mal eine, die sich unter dem schwarzen Stoff ein Geheimnis bewahrt. Nur die dunklen Augen und erkennbar schöne Wimpern bekommt Freund Gyges von Kandaules orientalischer Schönheit zu sehen. Und wie der frischgebackene Ehemann berichtet, wie er sich auf einer kurzen Reise in seine islamische Heimat ausgerechnet in eine vollverschleierte Frau verlieben konnte, gehört zu den wirklich faszinierenden Augenblicken des Abends.

"Ursprung der Welt" ist eigentlich ein Gemälde von Gustave Courbet und steht für einen langlebigen Kunstskandal: Es zeigt in fast fotografischer Detailtreue einen nackten, weiblichen Unterkörper mit allem was dazu gehört und damit etwas, das, verfolgt man die Rezeptionsgeschichte von 1866 bis in die jüngste Vergangenheit, offenbar auch in der westlichen Welt niemand sehen darf, es sei denn, er ist der Ehemann.

Die unverhüllte Frau des besten Freundes

Und wenn man so will, finden sich Courbets gespreizte Schenkel auch in Stefan Hageneiers Bühnenbild wieder. Zwei weiße Wände, dazwischen ein Halbrund, das sich öffnen kann und den Blick auf ein orientalisches Paradies freigibt. Hier tanzt die nackte Nyssia im Springbrunnen, während Freund Gyges sie – wie schon bei Herodot erzählt – heimlich beobachtet. Nur ein einziges Mal will er die Frau seines besten Freundes unverhüllt sehen.

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So brachialsymbolisch wie die feuchte Höhle im Ursprung der Welt sind jedoch leider auch die Charakterzeichnungen von Regisseurin Tina Lanik. Bruder Azad (Thomas Mehlhorn) fuchtelt schon mal mit Sonnenbrille und Pistole herum, um die Ehre von Schwester Nyssia zu verteidigen. Diese ist nämlich mitnichten eine orientalische Schöngeistin. Am wenigsten, wenn sie gespickt mit ziemlich vulgären Schimpfwörtern die Verteidigung ihrer Ehre einklagt.

Überzeichnete Figuren bei der Arbeit

Ihre Figur bleibt hinter diesen Ausbrüchen nur sehr oberflächlich erkennbar. Unklar, warum sie Kandaules geheiratet hat. Unklar, was ihre wirklichen Gefühle sind angesichts eines Verrates, der auch eine westlich sozialisierte Frau nicht kalt lassen würde. Wie es ausgeht, erfährt man bereits in der allerersten Szene: Begleitet von bedrohlichen, fernöstlichen Klängen wird nicht Voyeur Gyges, sondern Ehemann Kandaules erschossen. Nur einer darf Nyssia nackt sehen, so steht es im Textbuch.

Sicher, das Ganze ist eher als Komödie, vielleicht sogar als Farce angelegt. Und es macht durchaus Spaß, den überzeichneten Figuren bei der Arbeit zuzusehen. Aber in dieser Konfrontation zweier Kulturen wäre auf einer tiefenpsychologischen Ebene so viel mehr zu entdecken gewesen, dass es einen wirklich ärgern kann.

Da helfen dann auch kein orientalischer Schmuck im Foyer und keine leckeren Falaffel auf der Premierenparty.

 

Ursprung der Welt (UA)
von Soeren Voima
Regie: Tina Lanik, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Rainer Jörissen, Choreografische Mitarbeit: Wesley D´Alessandro, Licht: Mariella von Vequel-Westernach, Dramaturgie: Volker Bürger.
Mit: Rainer Frank, Janko Kahle, Carolin Eichhorst, Thomas Mehlhorn, Meriam Abbas.

www.schauspielhannover.de


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Kritikenrundschau

Die Geschichte in "Der Ursprung der Welt" sei "so an den Haaren herbeigezogen, dass die Gattungsbezeichnung Komödie oder Farce angemessen wäre. Der Autor nennt es aber hochtrabend 'verschleierte Tragödie'", schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (16.5.2011). Im Grunde seien es "zwei Stücke: die Komödie um die verschleierte Frau an der Seite des westlichen Mannes in der coolen Kommunikationsbranche und die Geschichte vom verbotenen Blick auf die unbekleidete Frau. So recht passt beides nicht zusammen." Zwischendurch streue Voima "reichlich Wikipedia-Wissen zum Islam ein. Da wirkt das Stück dann wie ein Vortrag in der Volkshochschule." Der Zugriff von Tina Lanik sei leider "so gar nicht zupackend". Die Schauspieler pflügten "eilig durch den stellenweise unangenehm kabarettistisch anmutenden Text." Es sei "erstaunlich, wie man einen flachen Text noch weiter verflachen kann."

In der Neuen Presse (16.5.2011) schreibt Siegfried Barth: "Das Stück arbeitet sich an aktuellen Schlagworten ab, stellt westliche Sexgier gegen das Reinheitsgebot des Islam, Nacktheit gegen die Burka. Alles ist intellektuell einleuchtend, aber theatralisch mühsam. Der Autor geht einen schlingernden Weg zwischen Tragödie und Komödie, und Tina Laniks Regie fällt abrupt von einem Fach ins andere. Dabei gewinnt die Komödie keine Leichtigkeit und die Tragödie keinen Ernst. Vieles wirke "demonstrativ und erklärend, ist illustriertes, konstruiertes Gedankentheater. Szenen werden umgeblättert wie ein Lehrbuch für Toleranz, Lektion für Lektion, man fühlt sich beschlaumeiert."

In der tageszeitung (17.5.2011) schreibt Klaus Irler: "Ursprung der Welt" erzähle auf "tragikomische Weise" von der Konfrontation zwischen "westlichen Werbemenschen" und "orthodox gelebtem Islam". Die Schwarz-Weiß-Dichotomie in Kostüm und Bühne treffe "genau in das Zentrum von Soeren Voimas Stück", denn ein einvernehmlicher Umgang sei nicht möglich. Voima erzähle mit "den Mitteln der Komödie eine tragische Geschichte", schnell die Dialoge, überzeichnet die Figuren. "Um Witz in die Geschichte zu bringen, schlachtet Voima die gängigen Klischees aus." Unterm Strich stünden zuletzt der "Islam, den die Krankheit des Fanatismus befallen hat, und die westliche Welt, die sich für aufgeklärt hält, blöde da. Die Regisseurin Tina Lanik bestärke "mit Slapstick-Nummern den spielerischen Umgang mit den Klischees. Ihre Umsetzung dieses interessanten, aber auch überfrachteten Stückes ist gelungen."

Michael Laages sprach in Fazit (14.5.2011) auf Deutschlandradio Kultur über die Inszenierung. Mittlerweile kann man den Text auch nachlesen: Für Laages handelt es sich um "den aktuellen Kommentar zur Integrationsdebatte nach Sarrazin". Eine "freche, flotte, politisch angenehm unkorrekte Komödie", in der sich das hannoversche Ensemble, voran Janko Kahle und Rainer Frank sowie Carolin Eichhorst, Meriam Abbas und Thomas Mehlhorn exzellent in "schwindelnder Höhe" bewege. Allerdings leide das Stück an der "leicht überkonstruiert wirkenden Struktur". Das Karrieremädel an Gyges' Seite verschärfe zwar die Vorgänge, lenke aber auch stark ab. Einen ähnlichen Effekt bewirke die Bruder-Figur an der Seite der verschleierten Frau. Voima wolle einfach zu viele "Rand-Aspekte in diesem Zusammenprall der Zivilisationen und Kulturen mitverhandeln", dabei übernehme er sich. Tina Lanik setze "obendrein" im ersten Drittel "verstärkt auf allerlei Jux und Dollerei" und es falle ihr im letzten Drittel nicht leicht "zum tödlichen Ernst der Geschichte zurück zu finden". Der Autor beziehe sehr deutlich Position gegen die allgegenwärtige mediale Verfügbarkeit von weiblicher Sexualität, ob dieses Sich-Wehren allerdings notwendigerweise in mörderische Rache ausufern muss, werde weder vom Autor noch von der Inszenierung ernstlich diskutiert. Das sei schade, da der Abend insgesamt das Kunststück fertig bringe, "diese im deutschen (und europäischen) Alltag so dramatische und vorurteilsbeladene Debatte extrem entspannt und unerhört heiter zu verhandeln."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.5.2011) verzeichnet Nicole Korzonnek Unterschiede zwischen Hebbels und Voimas Version der alten Gyges-und-Kandaules-Legende: Statt eines "reformwilden Lydierkönigs" gebe es bei Voima einen "weichgespülten Moslem", während aus dem "Unglücksgriechen" ein "dauergeiler Werbefuzzi" werde. "Der Zauberring wird durch eine Burka ersetzt, der Schlaf der Welt durch eine Aufklärungskampagne für den Islam." Das röche sehr nach Klischee, da aber sei Tina Laniks Regie vor. Sie treibe Janko Kahle als Gyges-Yuppie durch die Szenen. Zusammen mit Rainer Frank als "langhaarigem Moslem-Kandaules" treibe er die Handlung voran, kommentiere sie, bringe sie auf den Punkt. Wenn die Zuschauer später wie Voyeure auf Meriam Abbas als entblößte Nyssia schauten, verschwinde alles Oberflächliche. "Es ist ein ganz stiller, wahrer Moment, in dem sich etwas vom Schlaf der Welt erahnen lässt, an den man nicht rühren sollte." Ein Moment, den die Regie dem Drama schenke.

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