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Die Welt im Wassertropfen

von Dorothea Marcus

Recklinghausen, 14. Mai 2011. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, ist das schon lange nicht mehr egal. Doch weltumfassende Konsequenzen von kleinen Ereignissen gab es auch schon vor rund 500 Jahren. Etwa, als Fernao de Magelhaes, genannt Magellan, vor den portugiesischen König trat und ihn um eine Flotte zur Entdeckung eines Süddurchgangs durch Amerika zu bitten. Heraus kam nach der Ablehnung: die Weltumsegelung unter spanischer Flagge. Wahrscheinlich hätte sie unter portugiesischer besser geklappt.

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© Kerstin Schomburg

Mit dieser vermutlich weltgeschichtlichen Weichenstellung beginnt "Das Ding" von Philipp Löhle, vom Schauspielhaus Hamburg und Jan Philipp Gloger im Festzelt der Ruhrfestspiele Recklinghausen uraufgeführt. Gloger steckt den störrischen portugiesischen König (Janning Kahnert) und den schon ältlichen Eroberer Magellan (schön stoisch: Tim Grobe) in bunte, bieder historistische Stoffkostüme unter Perücken.

Durch Raum und Zeit reisen

Nach diesem Vorspiel, das an sommerliche
Burgfestspiele in Kleinstädten erinnert, geht es spröde weiter wie in der schlichtesten szenischen Lesung: zwei Pappkartons, Mikrophone, fünf Stühle. Darauf sehen wir: fünf Schauspieler, die sich aus den Kartons ihre Perücken holen und jene Requisiten, die in Löhles Globalisierungsmanifest als Leitmotive durch Raum und Zeit reisen und immer furioser vor uns die ganze Welt eröffnen.

Denn alles hängt mit allem zusammen: Weil ein brasilianischer Sojabaron einem argentinischen Bauern das Land wegnimmt, können wir so leckeres Schweinefleisch essen - denn das Soja wurde nach China, als Futter verarbeitet nach Rumänien, und schließlich als Schwein zum Fleischer unseres Vertrauens geflogen.

Absurde Versuchsanordnung

Es ist nicht einfach, Philipp Löhles Geschichte nachzuerzählen. Spät erst begreift man, was "Das Ding" überhaupt ist: Eine Baumwollsaat. An ihrem Beispiel erzählt Löhle eine moderne Weltumquerung. Ähnlich, wie Magellan einst mit fünf Schiffen in Sevilla aufbrach und immerhin ein einziges davon zwei Jahre später in den gleichen Hafen wieder zurückkehrte, rast eine heutige Baumwollsaat um den Globus: wird von Afrikanern gepflückt, von Chinesen gepult, zum Trikot verarbeitet, erlebt etliche Fußballtore der Nachwuchshoffnung Patrick Dräger (Martin Wißner spielt ihn als prosaisch-pragmatischen Nerd von nebenan), den Unfalltod seiner Schwester Julia, die Internet-Porno-Versuche seiner anderen Schwester Katrin (lieblich und tough zugleich: Maria Magdalena Wardzinska), wird von einer Kugel des chinesischen Baumwollpulers und Geschäftsmanns Li getroffen, der sich in Katrin verliebt hat und extra wegen ihr nach Deutschland geflogen ist.

Falsch getroffen hat er sie übrigens, weil ihr Exfreund Beat zum Entwicklungshelfer geworden ist, in Afrika mit Öko-Samen bankrott ging und nun alte Bürgerkriegswaffen zu Geld gemacht hat, die von der UNO untauglich gemacht wurden. Und schließlich reist das durchlöcherte Trikot als Altkleidung wieder zurück nach Afrika, zu jenem Mann, der es einst als Öko-Samen pflückte.
Das klingt kompliziert und ist es auch. Doch Löhle hat sein komplex gebautes Stück fein austariert: eine absurde Versuchsanordnung, die durchspielt, was wäre, wenn wirklich alles zusammenhinge.

Zeichenhafte Vertreter fremder Welten

Sprachlich ist "Das Ding" recht einfach und umgangssprachlich gestrickt, erinnert zudem stark an Roland Schimmelpfennigs "Goldenen Drachen", ist dafür aber auch weniger bösartig und brutal und zeigt im Gegensatz zu Schimmelpfennig echte Menschen. Gleichzeitig schwingt es sich zur gewaltigen, poetischen und nebenbei auch komischen Weltmetapher auf, in der Leitmotive wie Koi-Karpfen, Pistolen, Schweinefleisch vertikal und horizontal durch Raum und Zeit reisen.

Löhle macht zudem erfrischenderweise nicht den folkloristischen Versuch, sich in Afrikaner oder Chinesen einzufühlen, sondern behauptet betont naiv, ihre Verhältnisse und Motive zu kennen, ganz einfach, weil sie menschlich nachvollziehbar sind. Daher ist es nur stimmig, wenn Regisseur Gloger seine fünf Schauspieler alle rund 15 Figuren des Stücks spielen lässt, sie wahlweise unter Perücken oder afrikanische Kappen steckt und einfach so weitersprechen lässt, wie sie auch vorher gesprochen haben - zeichenhafte Vertreter von fremden Welten, die man sich nicht anmaßen kann, zu kennen.

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Und nebenbei handelt das Stück auch noch die globalen Absurditäten des Kunstmarkts, des Ökolandbaus, des Internets, der Entwicklungshilfe und der Reststoffverwertung ab. Zugleich erzählt es glaubhaft von Katrins und Thomas' Ehekrise, von der Lust an Grenzüberschreitung, vom Gegensatz zwischen Glaube an "Magie" und bodenständig-prosaischer Zielorientiertheit, davon, wie schnell sich menschliche "Visionen" in kapitalistische Ausbeutungsmechanismen verwandeln.

Patrick Dräger etwa ist, nachdem er seine Schwester Julia in einen tödlichen Unfall verwickelte, unfreiwillig zum Kunststar geworden, weil er ihr verwaistes Kinderzimmer knipste – und reist nun zu den immer gleich banalen Fernsehinterviews in der ganzen Welt. Katrin dagegen hat ausgerechnet den eifersüchtigen und biederen Reststoffverwerter Thomas geheiratet, der nach dem Fitnesstraining immer ein ordentliches Stück Schweinefleisch gegen Muskelkater isst.

Tragisch-auswegloses Spiel

Just an dem Tag, an dem der verliebte Chinese sie fast erschießt, sind die Schweine aus Rumänien wegen Sojamangels ausgegangen – und Thomas (Stefan Haschke) kommt zu spät. Auch wenn er ja ohnehin viel zu egozentrisch gewesen wäre, um sie zu retten. Doch man kann sie letztlich alle verstehen, niemand ist so richtig schuldig in diesem tragischen, ausweglosen Spiel der Globalisierung.

Die Schauspieler spielen das leichtfüßig, cool und lustvoll herunter, Haschke feuert auf dem Höhepunkt seiner Ehekrise cholerisch das Publikum an, ihn "Schlappschwanz" zu nennen, am Ende hüpft die afrikanische Baumwollbauern-Tochter mit dem durchlöcherten Shirt davon und sind natürlich längst die Bühnenwände eingestürzt.

Denn die Welt öffnet sich in einem Wassertropfen, oder: einem kleinen Theaterzelt in Recklinghausen.

 

Das Ding (UA)
von Philipp Löhle
Regie: Jan Philipp Gloger,
Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Karin Jud.
Mit: Maria Magdalena Wardzinska, Stefan Haschke, Martin Wißner, Tim Grobe, Janning Kahnert, Alva/Paula Diederich.

www.schauspielhaus.de
www.ruhrfestspiele.de



Kritikenrundschau

"Viele bestechende Dialoge" hat Elisabeth Elling für den Westfälischen Anzeiger (16.5.2011) in Löhles neuem Stück vernommen, das "großartig gespielt", teils von "Szenenapplaus" begleitet, in Recklinghausen zur Uraufführung kam. "Löhle baut ein vielschichtiges Modell der globalen Verflechtung. Er konkretisiert Entfremdung, Vereinsamung, Beliebigkeit, sucht aber keine moralische Position: Niemand ist verantwortlich, jede Entscheidung ist nachvollziehbar."

Löhle versuche sich an einem großen ökonomischen Welttheater, dessen Beginn er in einem überraschenden Vorspiel bei dem portugiesischen Entdecker Magellan verortet, so Arnold Hohmann im WAZ-Portal derwesten (17.5.2011). "Regisseur Jan Philipp Gloger tut in seiner Inszenierung das einzig Richtige: Er verknappt die ständig rotierende Handlungswelt mit ihren zahlreichen Rollen auf fünf Schauspieler und fünf Stühle und lässt mit nur wenigen Requisiten zum Publikum gewandt drauflos spielen, bis all die vielen Handlungsstränge plötzlich einfach und durchschaubar scheinen." Fazit: "Hier wurde in kleinem Zelt ein künftiger Klassiker der kleinen Form geboren".

Die "rührende Lebensgeschichte einer Baumwollfluse", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (17.5.2011), sei "mehr als der Abenteuerroman einer Fußballtrikot-Faser. Sie ist eine Globalisierungsparabel". Philipp Löhles Seitenhiebe zielten auf "Hobby-Weltverbesserer", "Fair-Trade-Gefasel" und den "Irrsinn des Kulturbetriebs". Doch seien die "epischen Eindrücke aus der Sicht der Baumwolle berührender als die Spielszenen dazwischen". Die Uraufführung kehre dieses Verhältnis um. "Die Szenen schlagen situationskomische Funken, die 'Ding'-Poesie dagegen verraucht." Jan Philipp Gloger präsentiere die Geschichte als "muntere Impro-Show kalkulierter Lacher". Der "schrullig-trockene Tim Grobe" und der "hanseatisch-schnoddrige Janning Kahnert" spielten in den Nebenrollen souverän auf. Doch den Erzählstrang vom 'Ding', das ja "die absurden Weltzusammenhänge" verkörpere und von dem man bei Löhle auch erst gar nicht begreift, was genau es ist", verspiele die Inszenierung. "Verteilt den leise-traurigen 'Ding'-Text launig auf alle Schauspieler, die ihn mit Baumwollbällchen und Perücken illustrieren." Die Globalisierung sei aber spannender als ein gespielter Witz.

Eine "derart perfekte Umsetzung, wie sie Gloger Löhle angedeihen lässt, muss man erst mal hinkriegen", jubelt Stefan Keim in der Welt (20.5.2011). Löhle sei der "Wirtschaftsexperte unter den Jungdramatikern, ihn interessieren die Strukturen, nach denen die vernetzte Welt funktioniert." Genau diese Komplexität erkennt der Kritiker auch in Glogers Uraufführung, die mit permanenten Rollenwechseln operiere und, der Beschreibung nach zu urteilen, mit souveränen, virtuosen Schauspielern besetzt ist. Löhles Stück sei "bei allem Spaß am Trash keine Groteske, sondern eine Komödie. Es geht um Menschen."

In der Frankfurter Rundschau (21.5.2011) legt Keim noch eins drauf: Jan Philipp Gloger beweise, dass er zu Recht als Regie-Shooting-Star gehandelt wird: "Löhles 'Ding' ist auch seins, das Stück erlebt eine perfekte Uraufführung, ein hellwacher Spielrausch mit philosophisch-gefühlvollen Untertönen am Schluss. Wer sich nach einer intelligenten, zeitgemäßen, kritischen Komödie sehnt, die zudem pures Schauspielerfutter bietet: Hier ist sie."



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