Was durch schmale Schlitze dringt

von Ute Nyssen

Paris, Mai 2011. Joël Pommerat hat den Quantensprung geschafft. Die französische Tageszeitung "Libération" widmete seiner letzten Theaterarbeit im März vier volle Seiten. Das sprengt bei "Libé" jeden Rahmen. Die Aufführungsserie seines neuesten Stücks "Ma chambre froide" am Théâtre de l'Odéon war ab der zweiten Vorstellung ausverkauft. Mit diesem Stück wurde nicht allein die Probe aufs Exempel erbracht, dass Frankreich wieder einen bedeutenden zeitgenössischen Dramatiker vorzuweisen hat, sondern ebenso die, dass das französische Subventionssystem bei seinem Werdegang hilfreich sein konnte. Denn es unterstützt und bevorzugt das Theatermodell Schauspieltruppe, und Pommerat als Bühnenautor und Regisseur nutzte dieses Angebot: er ist Gründer einer eigenen Truppe, der Compagnie Louis Brouillard, und sein Durchbruch verdankt sich auch deren Leistung. Seine Schauspieler wurden im Odéon mit enthusiastischem Beifall bedacht. Im April 2011 schließlich folgten Auszeichnungen mit dem "Molière" für das beste Stück und zum ersten Mal für den 1963 geborenen Pommerat als Dramatiker.

Explodierende Lichterkränze, ästhetische Geschlossenheit 

In "Ma chambre froide" sitzt das Publikum wie im Amphitheater. Die neun Schauspieler treten im Stockdunklen auf und ab. Alle Pommerat-Inszenierungen charakterisiert ein raffiniertes Spiel mit Dunkel, Schatten, Licht, einem schimärischen Licht (ständiger Mitarbeiter für Bühnenbild und Beleuchtung ist Eric Soyer). Weil es minutiös genau funktioniert, stellt sich eine Verzauberung ein, die jede Theatertechnik vergessen lässt. Wie von Geisterhand gelenkt sinkt aus dem Bühnenhimmel ein Lichterkranz herab, verpackt eine Nebelmaschine die Hauptfigur Estelle und ihre erzählten Alptraumbilder in Rauchschwaden. Einzelne Figuren, Gesichter oder Raumelemente werden scharf herausgeleuchtet, als gelte es, sie für ein Verhör unter die Lupe zu nehmen. So stechen in "Ma chambre froide" plötzlich weiße Stühle ins Auge. Sie verweisen auf einen runden Tisch, an dem später eine schlimme Betriebskonferenz stattfindet.

chambrefroide1_alain_fonteray
Szenerie "Ma chambre froide" © Alain Fonteray

Der eng begrenzte, kreisförmige Schauplatz verstärkt das Empfinden von Konzentriertheit der Handlung. Die ist aus zahlreichen Geschichten und Aspekten zusammengesetzt. Aber sie kennt einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Dramaturgisch hat der Autor den Spannungsbogen gefunden, der in vorangegangen Stücken manchmal fehlte. Denn so leicht, berührend, verstörend Cercles/fictions (2010), Je tremble, Teil 1 und 2 (2008), Cet enfant (2006) daherkamen, ihr fragmentierender Aufbau erschwerte gelegentlich das Verständnis des Zusammenhangs.

Ein Chef und sein unheimliches Erbe

Aus dem Off spricht eine Kollegin von Estelle – die wie Estelle von jedermann schamlos ausgenutzt wurde, aber nie den Himmel und die Sterne vergass. Auf der Suche nach Estelles Lebensetappen, bildet ihre Stimme den Rahmen. Tritt die äußerlich unscheinbare junge Frau auf, vermittelt sich auf Anhieb die Aura eines "guten Menschen". Ihr Widerpart ist Blocq, ihr Arbeitgeber, der pausenlos aufs Unverschämteste seine Mitarbeiter abwatscht. Aber, obwohl ihm so verhasst wie er ihnen - ein ironischer Hinweis Pommerats auf einen weitverbreiteten Zustand in Frankreich -, er vererbt ihnen überraschend seine vier mittelständischen Unternehmen. Er ist tödlich erkrankt.

Eine Bedingung stellt er: Sie müssen als Amateurschauspieler sein Leben auf die Bühne bringen, damit es als Theaterstück gerettet werde vor dem Zerfall in totale Nichtigkeit. Nur Estelle hält ihm entgegen, dass ausschließlich die Selbstveränderung dies bewirken könne. Die Angestellten nehmen das Erbe an. In kurzen, ruhelosen Szenen wird ihr Lernprozess dargestellt. Cool führt Pommerat vor, wie sie als Unternehmer hautnah erfahren, dem unbeeinflussbaren Druck der Konkurrenz oder gesamtwirtschaftlicher Veränderungen ausgesetzt zu sein.

Die Unmöglichkeit der menschlichen Metamorphose

Aber obwohl sie weder vor Betrug noch vor Entlassungen zurückschrecken, nähert sich bald der geschäftliche Ruin. Zunehmend auch Verzweiflung über die eigene professionelle und menschliche Unzulänglichkeit. Diese schafft sich ihren grotesken Ausdruck, wenn sie in dem bestellten Stück zu Bestien mutierte Zirkustiere darstellen. Estelle, die alle zwingt, gellend im Chor zu schreien "Theater ist notwendig", spielt dabei die brutale Kunsteinpeitscherin. Diese Szenen sind von feinster, grausamer Komik. Das Publikum lacht wie toll, wenn sich Flamingo, Bär, Affe und Dompteur beim Tanz lieb an der Hand nehmen müssen.

Estelles utopische Vorstellungen von Selbstveränderung und Metamorphose aber offenbaren ihre fundamentalistische Kehrseite. Wenn sich die Schauspielerin dann in der nächsten Szene stumm umzieht, wird fraglich, wann der gute Mensch Estelle agierte (die am Ende des Stücks verschwunden ist) und wann einer ihrer vielen "Brüder". Denn ein Bruder, der jedermann schikaniert, schien sich in ihr selbständig gemacht zu haben.

Pommerat greift Brechts Einfall aus "Der gute Mensch von Sezuan" auf, entwickelt ihn jedoch weiter. Am Schluss nämlich ist es die Sehen machende Kraft des Theaters, vor allem aber der Bruder Estelles, der Blocq auf dem Sterbebett zu einem Anderen macht. Er hat erlebt, dass er einen Menschen braucht.

Ökonomischer Druck, soziale Praxis

Schon vorangegangene Inszenierungen Pommerats zeichnete ein beispielloses Ensemblespiel aus. So auch "Ma chambre froide“. Niemand ist Star, oder wenn, dann alle. Die Story im Stück, die von den Problemen gemeinsamer Unternehmensführung handelt, also von denen eines Ensembles, schien sich stark aus der Erfahrung der Darsteller als verantwortliches Kollektiv zu speisen, so authentisch wirkten Spiel und Figuren. Pommerat legte kein fertiges Stück vor, es entstand erst während der Zeit der Proben und basiert auf Improvisationen mit den Schauspielern.

081203_chaperonpommeratpbhervbellamy
"Le petit chaperon rouge", eine Arbeit, die 2007 am Pariser Théâtre Bouffes du Nord entstand, wo Pommerat von 2007 bis 2010 als artist in residence eingeladen war.

Was bestimmt die Besonderheit dieses Dramatikers? Ich glaube, es ist die einzigartige Ausgangslage der Produktionsbedingungen: Pommerat arbeitet als Bühnenautor, Regisseur, Tourneeunternehmer in einer Person. So unterscheidet sich seine Positionierung von der eines Schreibtischautors. Die Aufgaben eines Tourneeunternehmers setzen ihn starker ökonomischer Belastung aus, die des Regisseurs seiner eigenen Stücke bringen anhaltende soziale Auseinandersetzungen. Seine Stücke reflektieren diese gesellschaftliche Praxis und Weltkenntnis. In einem Interview spricht er von sich als "petit patron" und bemerkt, das sei "kein unbedingt vergnüglicher Aspekt". In den Problemen der "führenden" Figuren Estelle/ Bruder und auch Blocq in "Ma chambre froide" darf man wohl die von Selbstporträts lesen. Um die Belastungen eines Truppendirektors zu konkretisieren eine Zahl: Die Produktionskosten von "Ma chambre froide" betrugen € 540 000. Die zusammenzukratzen ist in der Tat kein Spaß.

Regisseur werden, um Autor zu sein

Pommerat hat als Schauspieler begonnen, fing bald an zu schreiben, wollte von jeder Abhängigkeit (insbesondere von der der Regie) frei bleiben, und so war es schon bei seinem ersten Stück selbstverständlich, dass nur er es inszenieren würde. "Gerade um wirklich Autor zu werden, habe ich versucht, mir das Terrain der Bühne zu erobern", sagt er in seinem Essay "Théâtres en présence" (2006). "Ich hatte begriffen, wie sehr auch Inszenieren Schreiben ist".

Da sich für einen französischen Bühnenautor, der außerhalb des Boulevards beständig erfolgreich sein will, nur ein Weg empfiehlt, schlug Pommerat ihn ein: 1990 gründete er seine "Compagnie Louis Brouillard“. Sie spielt ausschließlich seine Texte, 19 bislang – jedes Jahr ein neues Stück, schwur er -, und die Compagnie stellt gewissermaßen das Familienunternehmen bereit, das bedingungslos seine Entwicklung als Dramatiker unterstützt, auch wenn diese Zeit brauchte. Eigenregie eines Autors wurde früher abschätzig beurteilt. Aber da Pommerat ein wunderbarer Regisseur ist, zahlte sich die Treue aus auch für die Truppe, die in den vergangenen Jahren mit fast einem Dutzend wichtiger Preise ausgezeichnet wurde.

Schmerzhafte Sicherung des Lebensunterhalts

Die Themen der meisten Stücke kreisen um Arbeit und den Wechsel oder Verlust von Rollen. Die Handlung spielt sich zumeist auf äußerster Gefahrenstufe ab, in einem Zustand, wie er auch für sein eigenes Unternehmen gilt. Denn jahraus jahrein mit Stücken des Gegenwartsautors Pommerat (und nicht mit einem Klassiker) den Lebensunterhalt einer Truppe zu verdienen, ist ein halsbrecherisches Risiko. Noch dazu benutzt Pommerat keine tradierten Theaterstoffe, sondern schreibt über hier und heute; über die claustrophobische Welt der Reichen beispielsweise in "Au monde" ("In der (gehobenen)Welt"), über die einer Fabrikarbeiterin in "Les Marchands" ("Die Händler").

Die Figuren tragen zumeist keine Namen, so auch die Frau in "Les Marchands", einem der schmerzhaftesten mir bekannten Texte über Arbeit überhaupt. Sie wurde entlassen. Buchstäblich vom (gesellschaftlichen) Dialog ausgeschlossen spricht allein sie. Alles, was sie berichtet jedoch, vollzieht sich stumm gleichzeitig auf der Bühne, inszeniert von ihrer Erinnerung, ihren Fiktionen und Reflexionen. Diese markante szenische Idee demonstriert noch einmal, wie sehr das dramatische Konzept des Autors Pommerat mit seiner Phantasie als Regisseur Hand in Hand geht. Arbeitgeber der Frau war eine wichtige Firma der Waffenindustrie. Dass auch sie, als Ausgebeutete, einer Mordmaschinerie diente - und wieder dienen wird -, wird ihr langsam klar und als man ihr die frühere Stelle neuerlich anbietet, nimmt sie sie wieder an, diesesmal wissentlich. Doch wie mit einem Zerrspiegel aufgenommen erscheinen ihre wahren Impulse im letzten Protokoll von einer ebenfalls arbeitslosen Kollegin: diese stieß aus dem Fenster eines Hochhauses ihren neunjährigen Sohn hinunter.

Sich verändernde Rollen

Mit grausamerer Härte, auch gegenüber den "Opfern", lässt sich die Macht der Verhältnisse kaum darstellen. In dem Ton von Pommerats Stücken erklingt durch seine Figuren hindurch der eines sezierenden Forschers. So trägt noch "Cet Enfant" Züge eines nüchternen Reports, obwohl ein total ruinöses Verhältnis zwischen Kindern und Eltern beleuchtet wird, die aktuelle Aushebelung uralter, scheinbar unverrückbarer Rollen. Spürbar wird nur eine ganz leise, manchmal boshafte Trauer. Erst in "Ma chambre froide" findet der Autor zur Teilnahme an seinen Figuren, in eins mit komischer, witziger Distanz.

Wieso ist Pommerat als Autor nicht präsent, insbesondere nicht in Deutschland? Die Antwort ist einfach: Andere Regisseure schrecken vor den Stücken von Kollegen zurück. Der Dramatiker Pommerat zahlt auf diese Weise für seine Praxis als Theatermann, auch in Frankreich werden seine Stücke nicht nachgespielt, obwohl sich in ihnen nur ein viel älteres Berufsverständnis neu ausspricht. Man kann da zurück bis zu Molière denken. Gewisse Parallelen existieren beispielsweise auch zu René Pollesch. Das französische Theatersystem jedenfalls liefert für die Übernahme des Beispiels Pommerat chancenreiche, wenn auch nicht gerade einfache Voraussetzungen. Wie weit es zukunftsweisend ist, wird sich zeigen. Weitere Anläufe gibt es schon.

 

Ute Nyssen
Dr. phil., Bühnenverlegerin, mit Jürgen Bansemer Gründung eines eigenen Theaterverlags. Herausgeberin mehrerer Buchausgaben, u.a. mit Stücken von W. Bauer, E. Jelinek, B. Behan, Th. Jonigk. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Rundfunk.

 

Mehr zum Theater in Frankreich: Theaterbrief aus Paris (1) zu deutschen Autoren auf französischen Bühnen, Theaterbrief aus Paris (2) zur zeitgenössischen Komödie, Theaterbrief aus Paris (3) zur immer wieder neuen Sprengkraft der Klassiker, Theaterbrief aus Paris (4) beschreibt, wie die französischen Dramatiker Ronan Chéneau, Marie NDiaye, Fabrice Melquiot und Christophe Pellet mit dem Erbe der französischen Geschichte umgehen, Theaterbrief aus Paris (5) porträtierte die Arbeit von Sylvain Creuzevault.