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"Wetten, dass..." für Boatpeople

von Shirin Sojitrawalla

Mainz, 19. Mai 2011. Hinter dem sonnigen Titel wartet das Elend der Welt. Ein junger Afrikaner vertraut sich einem Schlepper an, der ihn nach Deutschland bringen soll. Der kongolesische Autor Fiston Mwanza schildert Einwanderung als Vabanquespiel. Seit vier Jahren lebt der 1981 geborene Autor in Europa, 2010 war er Stadtschreiber in Graz. Für "Eine Fahrt ans Mittelmeer" erhielt er beim Wettbewerb "Text trifft Regie 2010" des Staatstheaters Mainz und UniT Graz den Preis für das beste Stück.

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© Bettina Müller

Dabei handelt es sich eher um eine Spielanleitung als um ein Stück. Äußerst knapp schildert Mwanza die Flucht und Ankunft des Afrikaners, um in einem Appendix ins Herz der europäischen Finsternis vorzudringen. Das macht er mit viel Sinn für absurde Komik, Sprachwitz, aufgeweckter Poesie und wachem Blick für die Realitäten. Regisseur Johannes Schmit würfelt die einzelnen Teile für seine Inszenierung munter durcheinander, dichtet so manches hinzu und gießt alles in die Form einer Spielshow, wie sie schlimmer im Fernsehen nicht vorkommt. In der Mitte der Bühne glänzt eine verspiegelte Zelle, die wie ein eben gelandetes Raumschiff wirkt. Die Zuschauer sitzen drumherum und erfahren sehr rasch, dass Kinshasa nicht Mainz ist und Mainz auch nicht Kinshasa. Auf jeden Fall ist hier, also auch in Mainz, die Welt noch in Ordnung.

Auf nach Europa! Dalli Dalli

In einer Art "Wetten, dass..?" im RTL-Format dürfen die Zuschauer auf einen Kongolesen setzen, also wetten. Wetten, dass der Afrikaner es bis nach Mainz schafft? Die Außenwette gilt. Dann ertönt die fast verdrängte, aber unverwüstliche "Dalli Dalli"-Musik, und die vier Schauspieler flitzen um die Wette um den Zauberkasten in der Mitte, verbreiten Fernsehmoderatoren-Gutelaune und bequatschen das Publikum, sich zu entspannen. Zwischen der Spielshow und dem eigentlichen Text von Mwanza öffnet Schmit noch eine dritte Spielebene, auf der die Schauspieler das Unbehagen am Text und seiner möglichen Darstellung zum Ausdruck bringen und damit dem Kern des Stücks nahe rücken, indem sie Schwarz-Weiß-Schemata offen legen. Wie soll man als weißes Ensemble die Geschichte eines Schwarzen erzählen? Können/dürfen/sollen Weiße überhaupt Schwarze spielen, Othello einmal ausgenommen? Und wie?

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In ihren saukomischen und schön zynischen Reflektionen über den offensiven Umgang mit dem Text, der Scheitern als Chance und Spiel erkennt, erzeugt das Ensemble eine Atmosphäre heiterer Gelassenheit. Dabei werden en passant alle Diskussionen um Neue Stücke und den überförderten dramatischen Nachwuchs mit grober Selbstironie abgewatscht und mit manch einer Bösartigkeit auf die Spitze getrieben. Da fragen sich die Akteure etwa, ob Heidi Klum nicht womöglich mehr übers Hungern weiß als so ein kongolesischer Autor.

Der Menschenschlepper schmaucht Zigarre

Später widmen sie sich dann ohne Worte der Verschleppung der Zeit. In überreizter Langsamkeit, die nach der anstrengenden Showbiz-Hektik ruhige Hoffnung sät, bewegen sich Ulrike Beerbaum, Stefan Graf und Johanna Paliatsou wie Wesen von einem anderen Stern auf die Zuschauer zu und starren wie in dem alten Kinderspiel "Wer zuerst lacht, hat verloren", ohne ihre Mienen zu verziehen. André Willmund sitzt derweil als Schlepper im Glashaus und schmaucht Zigarre wie ein afrikanischer Despot. Die anderen spielen Flüchtling, nehmen Kontakt mit den Zuschauern auf, schauen einzelnen von ihnen direkt in die Augen und halten den Kontakt, während sie eindeutige und nicht deutbare, in jedem Fall aber bedeutungsschwere Gesten vollführen, die in ihrer Sprachlosigkeit den Blick und manchmal auch das Herz bannen.

Immer wieder zaubert Schmit mit seinem unverkrampft agierenden Ensemble bei allem Jux und aller Tollerei solche Momente in den Bühnenraum. Momente, die nicht in erster Linie etwas erzählen wollen, sondern atmosphärisch zu den Dingen vorstoßen. Zum Ende wird es dann sehr dunkel. Der Afrikaner, der keiner ist, aber auch ein Wettkandidat sein könnte, bettelt um unsere Anteilnahme. "Ist jemand da?", ruft er uns zu. Doch keiner wagt, die Stimme zu erheben. Und alle wissen, dass sie es nicht wagen. Die Masse schweigt. Im Theater wie vor den Fernsehgeräten.


Eine Fahrt ans Mittelmeer (UA)
von Fiston Mwanza
Deutsch von Elisabeth Müller und Gerhard Theissl
Regie: Johannes Schmit, Ausstattung, Co-Regie: Markus Wagner Dramaturgie: Barbara Stößel.
Mit: Ulrike Beerbaum, Stefan Graf, Johanna Paliatsou, André Willmund.

www.staatstheater-mainz.de


Kritikenrundschau

Ziemlich beschwingt nimmt Lena Fölsche in der Allgemeinen Zeitung aus Mainz (21.5.2011) den Sound des Fernseh-Spektakels auf: "Nach Anlaufschwierigkeiten schlägt dieser Fernsehabend im Theater das Publikum in den Bann. Niemand geht mal eben in die Küche, Chips holen oder aufs Klo." Stattdessen leuchteten Sätze auf "wie ein glühendes Gelübde: 'Lieber komme ich um vor Kälte, wasche Leichen, verkaufe wieder meinen Körper, als gedemütigt wieder zurückzukehren.'" Die Tragik dieses Schicksals werde durch die Moderatoren-Troika gründlich bagatellisiert. "Fazit dieser Lach- und Sachgeschichte: Für afrikanische Einwanderer wartet hinter jedem EU-Türchen der Zonk."

"Beklemmendes Gegenwartstheater" hat Mur gesehen, wie er in der Frankfurter Neuen Presse (21.5.2011) schreibt. Schmit stelle in seiner Inszenierung die gesellschaftlichen und zivilisatorischen Positionen klar gegenüber: "unsere hektische und vergnügungssüchtige Welt, dargestellt am Beispiel oberflächlichen Fernsehkonsums im Spielshowformat, dagegen die quälende Orientierungslosigkeit unerwünschter Flüchtlinge." Wenn die Akteure "in atemloser Stille durch die Arena der Zuschauer" gingen, entstehe eine beklemmende Atmosphäre: "Ich bin ein Mensch! Da habt ihr gefälligst zu reagieren!"

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