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Angelernte Anmut

von Ulrich Fischer

Oberhausen, 20. Mai 2011. Als Fürst Myschkin bemerkt: "Ich hab' mir den Abend ganz anders vorgestellt", lacht das Publikum in Oberhausens Großem Haus. Tatsächlich hatten sich wohl die meisten die Bearbeitung und Inszenierung von Dostojewskijs Roman "Der Idiot" anders vorgestellt. Ganz anders.

Dabei hält sich Andriy Zholdak, ein bei uns noch wenig bekannter Theatermann aus der Ukraine, eng an die Handlung. Sie beginnt mit der Heimkehr von Fürst Myschkin aus der Schweiz. Er lernt im Zug nach Petersburg Rogoschin kennen, einen schwerreichen Kaufmann, der leidenschaftlich Nastassja Filippowna liebt, eine junge Frau, die von Herren der besten Petersburger Gesellschaft als Kurtisane ausgehalten wird. Der Fürst will sie aus ihren Verstrickungen retten, die Wirren nehmen zu – und am Ende stehen ein blutiger Mord und Wahnsinn.

Der Clown mit der Pauke

"Der Hauptgedanke des Romans“ notierte Dostojewskij, "ist die Darstellung des im positiven Sinne schönen Menschen." Als Regisseur zeigte Andriy Zholdak genau das Gegenteil, er vertritt ein Theater der Hässlichkeit, der Deformation. Zu Beginn tritt ein Clown auf, setzt sich seine rote Nase auf und haut auf die Pauke – ein programmatischer Auftakt. Alle Figuren sind plump komisch, keine hat Überblick, immer wieder wird der ein oder andere Opfer seiner Leidenschaft. Ein schöner Mensch ist weit und breit nicht zu sehen.

Die Aufführung geht gleich von Anfang an auf die Nerven – ganz bewusst. Die Musik von der Konserve (Sergey Patramanskiy) ist zu laut, deshalb sind die Schauspieler gezwungen, forciert zu sprechen, zu schreien, mitunter auch zu brüllen – so kommt die An- und Überspannung gut über die Rampe. Bei den Frauen macht Zholdak besonders klar, woher die allgemeine Hysterie kommt: Die Damen treten immer wieder im weißen Tutu auf, gehen an die Stange und machen bis zum Überdruss Exercices. Die Anmut ist angelernt – und falsch. Wenn es um Männer geht, kommt die Konkurrenz rasch zum Ausdruck. Warum die Herren so außer Rand und Band sind, wird nicht erklärt, sondern gesetzt

Verrückte im Dutzend

Denkt Zholdak, die russische Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts wäre pathologisch gewesen, so dass sie Verrückte im Dutzend produzierte? Oder meint der Regisseur, Dostojewskij sei ein sonderbarer Schriftsteller, seine Psychologie, die ansonsten so gerühmt wird, vor allem seine Bewertung der Sexualität sei abwegig? Offenbar nicht EntwederOder, sondern SowohlAlsAuch. Tatyana Dimova deutet mit ihren Kostümen an, dass der Befund sich nicht nur auf Russland und das 19. Jahrhundert bezieht, sondern auch auf unsere Gegenwart, weiter in Europas Westen.

Die Schauspieler werden gefordert, ja überfordert. Michael Wittes Myschkin ist verwirrt, seinen überreizten Sinnen preisgegeben.  Nora Buzalka lässt bei ihrer Nastassja Filippowna keinen edlen Zug gelten, keine Uneigennützigkeit. Ihre Kurtisane nutzt ihre betörende Schönheit egoistisch bis zur Menschenverachtung, handelt dann aber auch wieder völlig irrational. Ellen Günthers alte Generalin ist beispielhaft für das ganze Ensemble: Sie kichert wie ein Backfisch, spricht viel zu hoch, kiekst und rastet aus, als sie das Porträt Nastassjas sieht. Sie zittert und zuckt, als säße sie auf dem elektrischen Stuhl. Sie drückt die Hysterie der besseren Damen der guten Gesellschaft aus, die die Rivalin fürchten, weil sie die Gatten verführt, die sich in den Betten ihrer hochadligen Gemahlinnen tödlich langweilen. Das Spiel ist abseits aller psychologischen Wahrscheinlichkeit völlig gekünstelt: exzessiv expressiv und hochkomisch. Klaus Zwick führt als Gatte der Generalin den Slapstick weiter bis hin zu den Karikaturen von Wilhelm Busch.

Fragen, die bleiben

Das Ensemble gibt alles, was es hat. Es wird getanzt und geschissen, gepisst und geküsst. Wer keinen Flamenco kann, hebt die Arme und stampft, der Rest kommt aus den Lautsprechern. Überzeugen kann Zholdak mit seiner Inszenierung dennoch nicht – wie seine Schauspieler, die am Ende deutlich Ermüdungserscheinungen zeigen, überfordert er mit seiner überfrachteten Inszenierung auch das Publikum. Dostojewskijs Roman ist gerade wegen seiner einfühlsamen Psychologie, wegen seiner präzisen Schilderungen überzeugender als diese wüste Aufführung. Aber sie hat doch Schwung und Zholdak kann vor allem zwei Fragen aufwerfen: Wird Dostojewskij nicht schrecklich überschätzt? Und ist die Handlungsweise dieser Figuren wirklich folgerichtig zu analysieren, ist sie nicht vielmehr bis zur Absurdität irrational?

Ein anstrengender Theaterabend, bei dem weniger mehr gewesen wäre. Aber Zholdaks Fragen lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen.

 

Der Idiot
von Fjodor M. Dostojewski
Regie: Andriy Zholdak, Bühne: Tatyana Dimova, Andriy Zholdak, Kostüme: Tatyana Dimova, Musik: Sergey Patramansky, Dramaturgie: Rüdiger Bering.
Mit: Nora Buzalka, Michael Golab, Ellen Günther, Henry Meyer, Manja Kuhl, Moritz Löwe, Vanessa Saubke, Michael Witte, Klaus Zwick.

www.theater-oberhausen.de

 

Mehr zu Dostojewskis Idiot? Bei Frank Castorfs legendärer Roman-Adaption hat es nachtkritik.de leider noch nicht gegeben, bei Alvis Hermanis' Versuch einer Anverwandlung Der Idiot. Anfang des Romans in Zürich 2008 schon.

 

Kritikenrundschau

"Dostojewski unter Strom", befindet Jens Dirksen in der WAZ Kultur/NRZ Feuilleton (23.5.2011). Regisseur Zholdak setze auf ein Theater der Über-Stilisierung: "Achtung!, sagt das gekünstelte Sprechen, zu hoch oder zu tief, und alles andere sagt auch: Achtung! Selbst die Tassen, die immerzu klirren und kreiseln und klappern, weil hier ja keiner mehr welche im Schrank hat." Eine Grundhysterie beherrsche das Ensemble, "nur darin ist dieses Stück tatsächlich von heute. Die Musik dazu kommt vom Band, meist im Stil transbalkanischer Hochzeitspolkas, und ist immer zu laut, weshalb alles brüllt und schreit, aber eben nicht zum Wohle der Verständlichkeit." Am Ende bleibe man auf seiner Augenlust sitzen, "ohne so recht zu wissen wohin mit den vielen zartbitteren, nachhallend schönen Bildern dieser Inszenierung, die einer überragenden Lichtführung (Alexander Eck) entspringen."

Zholdak erzähle den 1000-Seiten-Roman "wie einen opulenten russischen Historienfilm im Breitwandformat und 3 D – allerdings mit reichlich Überlänge", schreibt Klaus Stübler in Emsdettener Volkszeitung (23.5.2011). Alle neun Schauspieler überzeugten mit zum Teil grotesk überzeichneten Figuren. "Bei der Premiere lichteten sich die Reihen nach der Pause. Der Abend hatte Längen, ist aber sehenswert."

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