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Kratzen an der Tür

von Ute Grundmann

Magdeburg, 20. Mai 2011. Schon die leisen Stimmen ihrer Kinder lassen die Frau zusammenzucken. Je drängender, bedrohlicher die "Mama, Mama"-Rufe werden, desto mehr wehrt sie sich dagegen, schreit, droht, wünscht sich weit weg, würde die Kinder gerne mal vergessen, nur für eine Weile. Dass das nicht geht, zeigt eindringlich die Magdeburger Inszenierung des Romans "Durst" von Michael Kumpfmüller. Schauspieldirektor Jan Jochymski hat ein beklemmendes Kammerspiel von Überforderung, Aggressivität und Hilflosigkeit ins Studio gebracht.

Kumpfmüllers Roman orientiert sich an einem authentischen Fall und kommt wie ein nüchternes, distanziertes, von einem Unbeteiligten geschriebenes Tagebuch daher. Und es bricht, ebenso wie jetzt die Bühnenfassung, mit einem Klischee: dem der stets liebenden, geduldigen, selbstlosen Mutter, die keine anderen Interessen als ihre Kinder hat. Doch diese junge Frau, mit Anfang zwanzig allein mit zwei Söhnen, hat noch andere Interessen: Sie will mit der Freundin shoppen gehen, bei ihrem Liebhaber sein, in der Disco tanzen, einfach mal schlafen. Und so beschließt sie weniger als dass es einfach passiert: Sie stellt den Kindern Essen und Trinken hin, schließt sie im sommerlich heißen Kinderzimmer ein und geht.

Zwischen Aggression und Ankuschel-Wunsch

Diese helle Holztür leuchtet im Bühnenbild von Jan Freese wie ein Menetekel, sie ist immer da und man ahnt immer mehr, was sich dahinter abspielen mag. Davor erstreckt sich ein grünes Teppichbodenband wie ein Laufsteg, rechts und links warten auf Wartezimmerstühlen Vater, Mutter, Freundin, Freund auf ihren Auftritt. Die Hauptfigur hat Jan Jochymski auf eine junge Frau (Luise Audersch) und eine etwas ältere Frau (Michaela Winterstein) verteilt, so bekommt sie etwas Exemplarisches und nicht nur ein Gesicht.

Sie sprechen ihren Text mal gemeinsam, mal beginnt die eine einen Satz und die andere vollendet ihn, mal scheint die ältere die junge Frau wie aus der Distanz zu beobachten. Luise Audersch und Michaela Winterstein spielen das sehr intensiv zwischen Aggression und dem Wunsch, sich anzukuscheln, zwischen liebevollen und fast bösartigen Gedanken an die (unsichtbar bleibenden) Kinder. Und Jochymski lädt Kumpfmüllers fast nüchternen Text mit heftigen Emotionen auf.

Schreiten, Kämpfen, Klammern

Denn so sehr die von ihren Kindern (über-) forderte Frau verbal und mit Gesten um sich schlägt, so sehr stürzt sie sich in das Leben "danach": Geht endlich mit der Freundin shoppen, hofft, dass ihr Freund sich nun mehr Zeit nimmt, als nur kurz über sie herzufallen. Sie lässt sich treiben, trampt, geht für Geld mit einem Mann mit.

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"Durst". © Nilz Böhme

Den Textfluss bricht Jochymski immer mal wieder mit choreografiertem Schreiten, Szenen von Kämpfen und Klammern. Ein leuchtendrotes Kleid wird zum Symbol für das neue Leben, aus dem sie das alte aber nicht ausblenden kann. Und so zählt sie, zählt der Text den "zweiten, dritten Tag ohne die Kinder". Sie umkreist die Wohnung, die Tür, beruhigt sich selbst mit dem Eindruck, die Stille dahinter könnte Gutes bedeuten. Als es dann kurz an dieser Tür klopft und kratzt, zuckt nicht nur die Frau zusammen.

Es ist auch dieses Unausgesprochene, die Vermutung, Ahnung, was hinter der Tür passiert, aus der die Inszenierung ihre hohe Spannung bezieht. Denn ob die Mutter nun Fernseh-Talkshows guckt oder in der Disko flirtet, sie kann nicht wegrennen aus ihrem Leben, so gerne sie es auch möchte. Als die anderen – die Eltern, denen die eigene Tochter auch manchmal lästig ist, die oberflächliche Freundin – endlich fragen, wie denn das neue Leben gehe mit den zwei Kindern, wo sie denn seien – da ist es zu spät. Aber so wie die ganze, 90-minütige Inszenierung, so wertet auch der Schluss nicht, fällt kein Urteil, lässt Fragen offen.


Durst
von Michael Kumpfmüller
Regie und Fassung: Jan Jochymski, Bühne: Jan Freese, Kostüme: Christiane Hercher, Dramaturgie: Dag Kemser.
Mit: Luise Audersch, Michaela Winterstein, Iris Albrecht, Heide Kalisch, Silvio Hildebrandt, Konstantin Marsch.

www.theater-magdeburg.de


Kritikenrundschau

"Ein langer Beifall", dem "man eine große Nachdenklichkeit anspürt", erhebe sich am Ende dieses Abends, berichtet Gisela Begrich in der Magdeburger Volksstimme (23.5.2011). Die Protagonistin doppelt zu besetzen, sei "eine gelungene Erfindung der Bühnenfassung"; beide Identitäten "agieren bisweilen in mannigfaltigen Bezügen auf eine choreografische Art, auch mit anderen, in einem geometrischen Feld, das das kindliche Spiel von Himmel und Hölle zitiert". Dabei erscheine Michaela Wintersteins Figur "wie der Grauausdruck einer verspielten Zukunft" ihres jüngeren verbitterten Ich (Luise Audersch). "Diese Spiegelung vom eigentlichen Wollen und seinem Resultat beeindruckt durchgängig in der klaren Diktion von Audersch und Winterstein sowie in ihrer körperlichen Präsenz."



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