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Gefühlshochdruck mit Lähmungserscheinungen

von Dieter Stoll

Erlangen/Nürnberg, 23. Mai 2011. Noch ehe die letzten Vorstellungen nach Reizmomenten zwischen Schattenspiel und Zirkus fischten, hatte sich eine Bilanz des 17. Internationalen Figurentheater-Festivals im fränkischen Städte-Verbund von Nürnberg, Erlangen und Fürth aufgedrängt. Ja, es war mit 20.000 Besuchern zwischen 13. und 22. Mai ein Erfolg! Nein, es hat keine Einsichten gebracht, nach denen die Geschichte dieser frei zwischen den Sparten swingenden Kunst umgeschrieben werden müsste.

© Lutz Anthes
"Kasperls Wurzeln". © Lutz Anthes

Altmeister Gyula Molnár macht mit Kaufmann & Co. bei der spöttischen Betrachtung von "Kasperls Wurzeln" im Planquadrat von König und Krokodil immer noch genau so viel hintersinnigen Spaß wie das mit 25-Jahres-Jubiläum per Werkschau und Ausstellung gewürdigte elitäre Bildertheater der Belgier Moussex-Bontè auf Kopfzerbrechen abonniert ist. Auch die Uraufführung des "Fränkischen Jedermann", dem Autor Fitzgerald Kusz statt der Buhlschaft eine "Herzala" anhängte, blieb in der dröhnend volkstümlichen Fassung von Stefan Kügels Theater Kuckucksheim im konventionellen Rahmen von Maskenspiel mit Song-Attacke. Und der von Festival-Fans hartnäckig als Superstar gefeierte Neville Tranter hechelte mit seiner halbgaren Miniatur "Punch & Judy in Afghanistan" den politischen Entwicklungen mit dem Jux ins Allgemeine hinterher.

Das Tri-Tra-Tullala der Kulturpolitik

Weil offensichtlich die ganz spektakulären Entwicklungen in der Sparte ausgeblieben (oder wegen des zu schmalen Etats unerschwinglich geworden) sind, haben im kolossalen Spielplan von 55 Ensembles aus 15 Ländern die "Klassiker" ein Übergewicht gegenüber den Innovativen bekommen. So faszinierend die in allen drei Städten gefeierte Compagnie Genty aus Frankreich mit ihrem poetischen Bilderrausch samt einiger Verbeugungen vor Pina Bausch auch blieb: Ein 14 Jahre altes Stück in kaum veränderter Neuinszenierung als unumstrittener Programm-Höhepunkt ist der Hinweis darauf, dass sich eine sonst so aufs Originelle bedachte Kunstsparte hilfesuchend nach rückwärts gewandt hat.

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Dort geraten auch die zaghaften Kulturpolitiker ins Blickfeld, die immer noch nicht begriffen haben, welche Profilierung diese Szene der Metropolregion alle zwei Jahre bietet und zumindest im Festival-Zentrum Erlangen die dort vor 32 Jahren gegründete Veranstaltung beinahe gekippt hätten. Die Bevölkerung protestierte, Siemens sprang als Sponti-Sponsor ein und ließ wissen, dass dies nur für 2011 gelte. Die Zukunft bleibt also von den Rathäusern abhängig, und da ist das Tri-Tra-Trullala derzeit viel mehr üblich als bei Kasperls großformatigen Nachfahren.

"City Now": mit Hooligans durch die Nacht

© Georg Pöhlein, 2011
"City Now". © Georg Pöhlein, 2011

Ein ästhetisches Wechselbad sorgte in Erlangen, wo der alle Herausforderungen annehmende Festival-Manager Bodo Birk für den Herzrhythmus des Events sorgt, kurz vor dem Finale für Gefühlshochdruck mit Lähmungserscheinungen. Im E-Werk, wo es sonst rockt, hatte das holländische Objekttheater Hotel Modern, das vor Jahren mit Auschwitz als hochtechnisiertem Spielzeugpark für intelligente Aufregung sorgte, sein Urknall-Stück "City Now" reanimiert. Aus Pappkartons ist eine Häuserschlucht aufgebaut, auf Laufband-Straßen fahren Brötchen als Autos (das Kasten-Brot ist der Bus, ein Baguette fliegt über die Stadt), Sixpack-Bierdosen ziehen am langen Arm der Puppenspieler als Hooligans grölend durch die Nacht, eine Pizzaschachtel fährt sich selber aus. Dazwischen grüßen lebende Gestalten aus dem Wohn-Klo und ein Referent für Raumordnung empfiehlt gegen alle Großstadtprobleme Blumenkästen und Springbrunnen. Eine hübsch handgemachte "Lichter der Großstadt"-Satire ist das, von der technokratischen Perfektion der späteren Video-Installationen weit entfernt.

"Kindertotenlieder": die große Depression

© Erich Malter, 2011
"Kindertotenlieder". © Erich Malter, 2011

Was die Französin Giséle Vienne mit "Kindertotenlieder" im Markgrafentheater bot, bleibt in jeder Betrachtungsweise "ein starkes Stück". Eine Zumutung für alle, die Mahler erwarteten und Black-Metal bekamen oder gar dem Stichwort "Tanz" zu sehr vertraut hatten. Das tiefschwarze Requiem, das Vienne mit ihrer Compagnie und Standpuppen in Menschengröße zelebriert, läuft wie ein eben grade noch lebendes Bild ab, das an der eigenen Melancholie festgefroren scheint. Es geht um einen ermordeten Freund und immer wieder aufbrechende Anzeichen von Einsamkeit und Gewalt, die sich wie ein Virus ausgebreitet haben. Begleitet von Passagen höllisch lauter Klänge (der Veranstalter verteilte fürsorglich Ohrstöpsel) und gezielt nervenzerrender Spiel-Entschleunigung wird unter der schön anzuschauenden, aber ziemlich abgegriffenen Schneegestöber-Metapher die große Depression beschworen. Verständlich, dass viele Zuschauer am Ende keine Geduld mehr mit der Hingabe an den bohrenden Schmerz hatten, aber vielleicht staunten sie auch über die Nachwirkung dieser Eindrücke auf dem Heimweg. Von daher war das besonders umstrittene Gastspiel ganz sicher ein bedeutendes.

© Ruedi Steiner
"Urhu". © Ruedi Steiner

"Urhu": drei Sirenen und ein Handwerker

Handwerk hat nicht immer nur goldenen Boden, manchmal auch doppelten. Für den Nürnberger Teil des Festivals hat der Schweizer Bastel-Artist Georg Traber eine neue Art von "Werkstattgespräch" erfunden. In 75 Minuten baut er in "Urhu" live einen Leiterwagen zum Uhrenhaus um und lässt sich dabei vom Trio Vocal Norn begleiten. "Objekttheater mit Gesang" nennt man das – selbst im Genre ohne Grenzen hat das gewisse Irritationskraft. Drei Sirenen umschwirren einen Handwerker, der zimmermannhaft auch an Metaphern schraubt. Die Girls singen lautmalermeisterlich in einer gar nicht existierenden Sprache, während Georg Traber sein Wägelchen anmutig in Einzelteile zerlegt.

Die Girls tänzeln sich durch ihre Song-Sammlung, der Bastler wird zum Verwandlungskünstler. Das mitgebrachte Objekt schrumpft (Vergänglichkeit?), ein anderes entsteht (Schafft Neues!). Unter dem Ausverkaufs-Motto "Alles muss raus" verschwindet tatsächlich jedes Einzelteilchen in der anderen Existenz. Das Transportmittel ist nach 70 Minuten pünktlich beim letzten Song zum tickenden Häuschen geworden, zur Wiederverwertungs-Skulptur. "Theater" macht die Performance nur bedingt . So bestaunte man die Aktion als ob jemand eine 70-Minuten-Wette bei Gottschalk erfolgreich eingelöst hätte.

"A Clockwork Orange": Zwitterwesen

© Bjørn Jansen
"A Clockwork Orange". © Bjørn Jansen

Dafür war das Junge Theater Konstanz – auf dem Weg zur Auslese des Jugendtheater-Treffens in Berlin auch beim Figurentheater in Nürnberg an der richtigen Adresse – eine angenehme Überraschung. Mit der zupackenden Regie-Hilfe von Hans-Jochen Menzel wagten drei mutige Akteure (Magdalena Schaefer, Rodrigo Umseher und Arne van Dorsten) den Griff nach "A Clockwork Orange" – und bewiesen, dass das zynisch hochgewirbelte Gewalt-Thema, mag man den Burgess-Roman oder eher den Kubrick-Film im Sinn haben, nach wie vor Wirkung zeigt. Die jungen Schauspieler verwandeln sich dabei in Zwitterwesen aus Mensch und Puppe, bleiben immer ein Teil der Maske. Nur mit der Kunst-Sprache, dem lange vor der Rap-Welle flirrenden Brutal-Singsang, kommen sie nicht ganz zurecht. Was sie im Rahmen des Festivals bewiesen haben, ist das Vitalitätsangebot von Puppenspiel im Großformat, jenseits aller Rangordnungen zwischen lebenden und lebendig gemachten Wesen auf der Bühne. Dafür hat das Festival denn doch einiges getan.

 

17. Internationale Figurentheater-Festival in Erlangen, Nürnberg, Fürth und Schwabach
vom 13. bei 22. Mai
Festivalleitung: Bodo Birk (Erlangen), Hubertus Lieberth (Nürnberg), Claudia Floritz (Fürth), Annette Edler (Schwabach).

www.figurentheaterfestival.de

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