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Die zehn Gebote des guten Sprechens

von Sarah Heppekausen

Recklinghausen, 26. Mai 2011. Die drei alten DDR-Damen sind jung geworden. Trude, Elly und Lotte sind die Heldinnen in Einar Schleefs Tetralogie "Totentrompeten 1-4". Im thüringischen Provinzdorf Sangerhausen – Schleefs Heimatstadt – sind sie sehnsüchtig auf der Suche nach Männern, Geld und neuen Welten. Der vierte Teil "Gute Reise Auf Wiedersehen" spielt nun nach der Wende. Aber Regisseur Ernst M. Binder hat die drei gealterten alten Schachteln mit recht jungen Darstellerinnen besetzt. Als Träumende von großen Reisen und neuer Freiheit haben sie sich verjüngt.

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Schleef-Kenner Binder hat schon die ersten drei "Totentrompeten"-Teile uraufgeführt, 1995, 1997 und 2000, alle in Schwerin. Auch das Finalstück sollte dort inszeniert werden. Schleef starb 2001. „Gute Reise Auf Wiedersehen“ war fast, aber nicht ganz fertig geschrieben. Erst elf Jahre später also führt es Binder auf, jetzt im Theaterzelt der Ruhrfestspiele Recklinghausen, koproduziert mit dem freien Theater dramagraz (dessen Leiter Binder ist).

Moskau? Amerika? Berlin?

Wie bei der Uraufführung des dritten Teils führt der Regisseur auch diesmal mit einer Dia-Show in die Vorgeschichte des DDR-Requiems ein, zeigt Bilder des 30.000-Einwohner-Städtchens Sangerhausen und der vorherigen Aufführungen, stellt die "lustige Witwe" Trude, "Schnapsdrossel" Elly und die verstummte Lotte vor. Die wollten wie die Tschechow-Schwestern erst nach Moskau, dann nach Berlin – und jetzt nach Hause.

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"Gute Reise Auf Wiedersehen". @ dramagraz

"Gute Reise Auf Wiedersehen" ist ein berührender Text über enttäuschte Erwartungen und die mangelnde Bereitschaft zur Veränderung. "Der Aufbruch wird Tag für Tag hinausgeschoben, ohne besonderen Grund, einfach so, nicht die Politik, die eigene Trägheit hängts Gewicht an die Füße", sagt Trude am Ende. Die drei haben sich auf den Weg gemacht, vielleicht nach Amerika, vielleicht nach Berlin, und vor dem Hotelzimmer lärmt unentdeckt das Leben. Binder belässt es auf der Bühne bei einer Nicht-Verortung, bloß eine gepolsterte Wartebank zeugt von einer Reise. Die könnte sich allerdings auch nur in Gedanken der schrullig-keifenden und sehnsuchtsvoll-jammernden Frauen abspielen.

Enervierender Alptraum

Dies könnte ja ein guter Ansatz sein, spannend in seiner Offenheit mit dem Hang zur melancholischen Absurdität. Aber es funktioniert so nicht. Schleefs verkürzte Sprache, in deren Sätzen mal ein Prädikat, mal ein Artikel, mal ein ganzer Nebensatz fehlt, findet an diesem Abend keinen Rhythmus. Die Schauspieler sagen den (durchaus schwierig zu sprechenden) Text auf, als wäre er ein Accessoire ihrer Figuren. Dabei sollten die Figuren doch aus der Sprache entstehen. Ein mühsam geschleckter Schokokuss, die Trauermiene zum Jammersatz, die Breitbeinigkeit zur derben Ausdrucksweise – das sind gestische und mimische Übertragungen, die der bilderreiche Text nicht braucht, nicht gebrauchen kann.

Der Abend verspricht den Traum, neigt aber zum Naturalismus. Gegen die Leibschmerzen wird auf einem echten Klo gesessen. Weil sie Männer suchen, tragen die Frauen Hochzeitskleider. Zur Partylaune wird eine Clownsnase aufgesetzt. Und weil nebenan gebohrt wird, fallen Schutt und Ziegel auf die Bühne. Kurios-Phantastisches verheißt dann höchstens noch die sirrende Frau im angedeuteten Lufthansa-Stewardess-Kostüm. Wenn ihre Kehlkopfklänge zum Kehlkopfkrähen mutieren, wird das Beiwerk allerdings auch schnell zum enervierenden Albtraum.

Zermürbender Stillstand

Binder hat dem Stück noch ein Vorspiel und eine Nachrede beigefügt. Zu Beginn tritt der stotternde Polizist Meyer aus Teil 3 auf. Der wird in diesem Fall aber nicht von Trude, sondern von einem West-Hauptkommissar mit den zehn Geboten des guten Sprechens und unaufhörlichen Zungenbrechern malträtiert. Am Ende hält Ingo Waszerka, der während der Uraufführungen der ersten zwei Teile Schauspielchef in Schwerin war, als alter Mann einen Monolog aus "Gertrud 2": Gestützt auf seinen Stock erzählt er vom Verwurzeltsein, das in seiner Unmöglichkeit zur Beweglichkeit einem Gefängnis gleicht. Ein rührend-verzweifelter Text über den zermürbenden Stillstand. Aber auch Waszerka vermag diesen Sätzen kein Leben einzuhauchen. Sie bleiben Zitat, selbst nicht verwurzelt in einer Figur, in einer Inszenierung, die nicht mehr ist als Abbildung. Ein Schleef-Zitat wie der Blecheimer auf der Bühne oder der Chor der Frauen. Das alles ist irgendwie durchdacht, findet aber keine eigene Sprache.

 

Gute Reise Auf Wiedersehen
von Einar Schleef
Regie/Raum: Ernst Marianne Binder, Musik: Bettina Wenzel, Dramaturgie: Ingo Waszerka, Ausstattung: Vibeke Andersen.
Mit: Werner Halbedl, Jochen Strodthoff, Bettina Wenzel, Katja Brenner, Sophie Engert, Ninja Reichert, Ingo Waszerka.

www.ruhrfestspiele.de



Kritikenrundschau

Bis auf den Schluss gehe diese Aufführung gründlich schief, konstatiert Stefan Keim in der Welt (27.5.2011): "Aus den Totentrompeten sind schrille Blockflöten geworden. Viel Text haben die jungen Leute auswendig gelernt, den sie zwei Stunden auswalzen, unterbrochen von abgestandenen Regiegags." Dann aber, in der Nachrede, verkörpert Ingo Waszerka Einar Schleef: "Der alte Mann bebt innerlich. Die Stimme zittert, ist kurz davor, pathetisch zu werden. Das freilich lässt der Körper nicht mehr zu. Von seinen Wurzeln spricht der Mann, der Unfähigkeit, sich im Alter einfach los zu reißen." Diesen kurzen Epilog "sollte man gesehen haben".

Binder inszeniere eine stimmige Komposition, findet hingegen Elisabeth Höving auf dem WAZ-Portal Der Westen (27.5.2011). "Er beginnt mit einem komödiantischen Prolog, in dem ein West-Polizist einem Ex-DDR-Vopo korrektes Hochdeutsch antrainiert, lässt den eigentlichen elegischen Hauptteil folgen und endet mit einem Epilog über die unabänderliche Verwurzelung eines Menschen. 'Meine Wurzeln haben mich im Griff. Kein Entkommen.' Besser kann man Einar Schleefs Thema dieses theatralischen Kosmos’ kaum zusammenfassen."  Hövings Fazit: eine respektable, wenn auch phasenweise zu pathetische Inszenierung.

Kommentare  
Gute Reise, Recklinghausen: Frage
Woher der Imperativ "Dabei sollten die Figuren doch aus der Sprache entstehen"? Das mag eine konventionelle Meinung (eher: Forderung) sein, aber ist das so? Wer trägt, wer wird getragen?
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