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Lob des Nudelsalats

von Rainer Petto

Saarbrücken, 26. Mai 2011. Für dieses Stück verlangt Wolfram Lotz schwer bis gar nicht Realisierbares vom Theater. Den Auftritt prominenter Zeitgenossen etwa wie Josef Ackermann oder Arbeitgeberpräsident Hundt, oder einer historischen Person wie Bakunin. Ziemlich aufwändig ist das bis in die Details des Nudelsalats vorgeschriebene kalte Büffet angelegt; dass ein Schauspieler von einer echten Schlange verschlungen wird, wäre allein schon ethisch bedenklich, während die Installation von ins Unendliche führenden Rolltreppen – wie der Autor selber einräumt – "physikalisch unmöglich" wäre.

Armer Regisseur, armes Theater! Ist "Der große Marsch", ausgezeichnet mit dem Werkauftrag des Stückemarktes beim Berliner Theatertreffen 2010 und mit dem Kleistförderpreis für junge Dramatik 2011, etwa doch nur ein Lesedrama? Und ist vielleicht dieser ganze Jungstar Wolfram Lotz überschätzt, über dessen kürzlich in Weimar uraufgeführtes Stück Einige Nachrichten an das All die Urteile ja ziemlich auseinander gingen?

Nur das Büffet ist echt

Die Ruhrfestspiele und das Saarländische Staatstheater machten mit Aufführungen in Recklinghausen und jetzt in Saarbrücken die Probe aufs Exempel. Regie bei der Koproduktion führte Christoph Diem, der mit vierzehn Darstellerinnen und Darstellern beinahe das komplette Schauspielensemble des Saarbrücker Hauses zum Einsatz brachte.

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Und so wurden sie denn von Schauspielern verkörpert, der Ackermann (Heiner Take) und der Hundt (Marcel Bausch) und natürlich auch der Bakunin (Hans-Georg Körbel) – was soll Diem auch anderes machen? Regieanweisungen für Unrealisierbares lässt er sprechen. Statt der Rolltreppe sehen wir Lichteffekte auf einer Treppe. Nur das Büffet ist echt, und das Publikum darf es aufessen.

Lieblingsrolle: Konsument

Nun kann man natürlich fragen, warum ist gerade der Nudelsalat echt? Weil er am einfachsten zu machen war? Oder hat das eine tiefere Bedeutung? Jedenfalls, indem das Publikum mit der Einladung zum Büffet auf die Bühne, die eine Bühne darstellt (Bühnenbild: Florian Barth) gelockt wird, ist es Mitspieler in diesem Stück, und zwar in seiner Lieblingsrolle: als Konsument. Zur Strafe dafür müssen die Zuschauer auf der Bühne bleiben und für den Rest des Abends den Platz mit den Schauspielern tauschen, die nun von den rasch umgebauten Sitzreihen aus agieren.

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Pappkamerad Ackermann in "Der große Marsch" © Thomas M. Jauk

Um beim Büffet zu bleiben: Eigentlich war es vom Autor ja für eine Gruppe von echten Sozialhilfeempfängern gedacht. Aber auch die werden hier von Schauspielern gespielt und weigern sich, getreu dem Text, das gewünschte Beispiel für echte Armut abzugeben. Derlei Szenen am Anfang des Stückes und ein paar flapsige Anspielungen könnten zu der Ansicht verleiten, wir hätten es hier mit einer Kritik am oder einer Parodie aufs dokumentarische bzw. politische Theater zu tun. Das ist Gott sei Dank falsch. Als Kritik am Theater wäre "Der große Marsch" ein kompletter Reinfall, viel zu ungenau, viel zu oberflächlich.

Der Kohl im Garten

Ich glaube, Lotz hat ein anderes, und zwar ein sehr ernst gemeintes, quasi ein philosophisches Anliegen. Das wird nach der Ess- und Umbaupause immer deutlicher. Das Theater steht hier nicht fürs Theater, sondern ist nur ein Beispiel für einen Ort in der Welt, an dem sich das Hier und Jetzt ereignet. Wie können wir überhaupt Echtheit und Realität gewinnen, fragt der Autor zunächst, um dann in ein heftiges Plädoyer für die Überwindung der Wirklichkeit überzugehen.

Bakunin etwa, der alte Anarchist, will partout nicht einsehen, dass er tot ist. Er will selbst bestimmen, wann er stirbt, er lässt sich den Tod von seinen Biografen nicht vorschreiben, jederzeit kann er hinaus in den Garten gehen zu seiner Mutter, die dort Kohl pflanzt. Der Kohl sei längst verschimmelt, entgegnet die das Realitätsprinzip verkörpernde "Schauspielerin" (Katharina Ley), aber je länger dieser absurde Disput geht, desto armseliger kommen einem ihre Einwände vor. "Ab jetzt bestimmt die Fiktion die Wirklichkeit, und nicht mehr andersherum!", ruft Bakunin.

Zwischen Klamauk und Tiefsinn

Dass die Passagen, in denen es dem Autor ernst ist, nicht untergehen, dass alles dann aber doch nicht zu ernst wird, ist Verdienst einer geschickt zwischen Klamauk und Tiefsinn balancierenden Regie. Diem, der immer wieder Szenen ineinander verschiebt, schafft es, die simple Struktur des Stückes vergessen zu machen. Denn im Grunde ist es nicht viel mehr als eine ziemlich undramatische Aneinanderreihung von Gesprächen mit der als Moderatorin fungierenden "Schauspielerin".

Das an diesem Abend überwiegend junge Publikum in Saarbrückens Alter Feuerwache nahm die Inszenierung mit sehr freundlichem Beifall auf. Das Stück hat sich als spielbar, sogar als unterhaltsam erwiesen. Und ein junger Autor darf ruhig Fragen aufwerfen, die Ältere längst abgetan haben. Ein Lob der Regie, ein Lob dem Autor, und ein Lob auch den unbekannten Zubereitern des Nudelsalats.

 

Der große Marsch (UA)
von Wolfram Lotz
Regie: Christoph Diem, Ausstattung und Video: Florian Barth, Musik: Alexandra Holtsch, Dramaturgie: Holger Schröder.
Mit: Katharina Ley, Gabriela Krestan, Gertrud Kohl, Heiner Take, Pit-Jan Lößer, Marcel Bausch, Benjamin Bieber, Georg Mitterstieler, Boris Pietsch, Natalie Hanslik, Nina Schopka, Saskia Petzold, Hans-Georg Körbel, Klaus Meininger.

www.theater-saarbruecken.de

 


Kritikenrundschau

Offenbar ist Lotz irgendwann in seinem noch recht jungen Leben in eine Hardcore-Inszenierung geraten, deren Impetus er nicht recht verdaut hat, so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (27.5.2011). Denn sein Stück sei eine Satire, die sich mithin darum scheren müssen, weite Bereiche des Theaters auszublenden. "Doch im Umkehrschluss wirkt Lotz' Haltung albern reaktionär, weil er das konservative Theater gänzlich ausblendet, nur aufs politische draufhaut und somit jedes Bemühen um Auseinandersetzung mit Gegenwart im Theater für lächerlich erklärt." Kurzum: Lotz' Utopie hause nur im engen Stübchen seiner Lyrik - und da könne sie auch drin bleiben. "Gleichwohl nimmt sich Regisseur Christoph Diem des Textes liebevoll an, bringt ihn ungekürzt auf die Bühne, setzt sogar die merkwürdigen Regieanweisungen akkurat um.“ Anfangs gehe es rasant zu, Hamlet komme vorbei, Josef Ackermann stellt sich den Fragen, es gebe Buffet mit Nudelsalat, "dann kommt der Tod. Der des Theaters, weil Diem viel zu skrupulös ist, um den Text zu bearbeiten".

Noch direktere Worte findet Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (24.5.2011): "Die Uraufführung bei den Ruhrfestspielen ging derb daneben." Wolfram Lotz karikiere ein engstirniges Agitproptheater, das den Zuschauern seine Weltsicht aufdrücken will. Das könnte lustig sein, wenn es so etwas noch gäbe. "Man wird das Gefühl nicht los, dass Lotz das Theater der 70er Jahre angreift. Als Satire auf das Gegenwartstheater führt 'Der große Marsch' ins Nichts. Es stimmt einfach nicht, was Lotz behauptet." Natürlich sei der Text besser als diese Aufführung. "Von Virtuosen doppelbödig gespielt, könnte 'Der große Marsch' recht lustig werden. Dennoch ist Wolfram Lotz alles andere als eine Entdeckung. Selbstverliebt und kenntnisfrei schreibt er an seinem Thema vorbei."

Lotz biete "ein Stück über das Theatermachen, das über ein paar lustige, interessante und auch ziemlich geistreiche Umwege zu einer recht banalen Erkenntnis kommt", sagt Sven Rech im Saarländischen Rundfunk SR 3 (27.5.2011). Die besagte Erkenntnis stecke in Teil 3 und laute, "nicht die Wirklichkeit (Ackermann, Hartz IV usw.), sondern die Fiktion mache den Menschen im und durch das Theater unsterblich." Über andere Erkenntnisse von Lotz zeigt sich der Kritiker ironisch erfreut: "Im zweiten Teil geht es um die empörende Tatsache, dass der Mensch sterblich sei, die Seegurke aber nicht. Letzteres war mir neu. Ich mag Stücke, in denen ich etwas Neues von der Welt erfahre. Seegurken also. Sieh an." Regisseur Christoph Diem und sein Ensemble hätten aus dem Text "zwar bravourös mit viel Phantasie und Witz und Selbstironie zu einem unterhaltsamen Abend geformt", aber die Grundfrage, "warum man sich als Theaterzuschauer mit Problemen des Theatermachens auseinandersetzen soll", vermochten sie nicht zu beantworten. "Von einem Bäcker erwartet man auch keine Backrezepte, sondern Brötchen."

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