Jahrmarkt der Geschichte

von Elena Philipp

Berlin, 26. Mai 2011. Hinter dem verrosteten Zaun rottet ein Schwanenboot. Halb überwuchert steht ein Oldtimer-Wägelchen im Grün, die Dachplane eingerissen, der Verschlag geborsten. Überreste eines Vergnügungsparks. Keine Bühnendekoration, sondern der ehemalige Spreepark im Berliner Plänterwald. Ein geschichtsträchtiger Ort, und ein Politikum: 1969 als einziger Vergnügungspark der DDR eröffnet, mit aus dem Westen importierten Fahrgeschäften, wanderte das Grundstück 1990 in westlichen Besitz. Die Schaustellerfamilie Witte übernahm den Betrieb. 2001 waren die Wittes pleite. Ihrem Streit mit dem Bezirk Treptow-Köpenick über die Schulden im zweistelligen Millionenbereich wie über die Schuld an der Pleite verdankt der Spreepark seinen Dornröschenschlaf.

Vergnügungsstätte und politisches Aushängeschild

Und dann entdeckte das Hebbel am Ufer den pittoresken Park für eine seiner Stadtinterventionen. Vier Tage lang ist das Gelände als "Lunapark" nun temporär wiederbelebt - mit thematischen Führungen, Konzerten, politischer Diskussion, einem stadtweiten Spiel und Karussells für die Kinder.

Sabrina Witte, die die ehemaligen Fahrgeschäfte vorstellt, ist im Spreepark groß geworden. Zu jedem Ort fällt ihr eine Episode ein: Im Teich unter der Wildwasserbahn ist sie früher geschwommen, erzählt die Tochter der Betreiberfamilie auf ihrer Tour. Jetzt ist das Wasser algenüberwuchert, Frösche quaken. Privilegien hatte sie nicht, musste sich wie die übrigen Besucher zwei Stunden anstellen, um mit der Loopingbahn zu fahren. Ihr erstes Geld verdiente sie mit Waffelbacken in einer der Imbissbuden, die überall herumstehen – die Scheiben zerbrochen, die Türen aus den Angeln gehoben. Millionen D-Mark zerbröseln zu Müll.

180 Kilo im Fliegenden Teppich

Die quicklebendige junge Frau mit dem Leopardenshirt und den gepflegten Fingernägeln ist weder sentimental noch zimperlich und plaudert bereitwillig aus dem Nähkästchen. Nach der Spreepark-Insolvenz kehrte ihre Familie Deutschland fluchtartig den Rücken und reiste mit sechs  Fahrgeschäften nach Peru. In Lima lief es nicht besser als in Berlin. Bei seiner Rückkehr 2003 schmuggelte ihr Vater Norbert Witte mehr als 180 Kilogramm Kokain im Stahlmast des Fahrgeschäfts "Fliegender Teppich", wie die 26-jährige ungerührt fröhlich erzählt. Er saß in Berlin eine kurze Haftstrafe ab und wohnt seither in einem Wohnwagen auf dem Spreepark-Gelände. Sein einziger Sohn sitzt in Peru noch immer im Gefängnis, die Familie hat den Kontakt zu ihm abgebrochen. Aber wie ihr Vater hofft Sabrina Witte auf eine Zukunft für den Spreepark und sieht das Theaterwochenende als "Probelauf" für eine Wiedereröffnung.

Voller Dramatik ist die Familiengeschichte der Wittes. Spektakulärer wird es nicht im "Lunapark", brisanter oder unterhaltsamer auch nicht. Der Belfaster Berlin-Guide Finn Ballard zum Beispiel gibt auf seiner "Trouble with Tourism"-Tour Anekdoten zum Besten, über Touristen, die sich nach KZ-Souvenirs erkundigen oder fragen: "Warum baute Hitler die Mauer?" Das ist ein Weilchen amüsant, aber man hofft vergeblich auf die im Programmheft angekündigte kritische Erkundung.

Spielplatz oder Rückzugsort?

Das Konzept für die "Lunapark"-Veranstaltung sieht den Spreepark als Metapher für den Spielplatz Berlin und fragt provokativ nach den möglichen Rückzugsorten für die Stadtbewohner, die in der am dritthäufigsten besuchten europäischen Metropole immer mehr Touristen bespaßen müssen. Im nebenan gelegenen Kreuzberg gehen die Anwohner auf die Barrikaden, weil sie sich von Touristen überrannt fühlen. Doch diese Konflikte meidet die auf Show getrimmte Touristen-Tour, der spätestens zwischen Achterbahn und Dinopark die Puste ausgeht.

Erfreulich bescheiden treten hingegen die Pflanzen des Plänterwalds auf die Bühne: die jungen Triebe des wilden Hopfens, die nach Spargel schmecken, wenn man sie dämpft, Schöllkraut, das gegen Warzen helfen soll, die Pappeln der Art, wie sie Napoleon pflanzte, um seinen Heeren den Weg zu weisen. Die Forstwirtin Ines Rietzkow und Carola Fabian von der Waldschule haben eine Eichenscheibe mitgebracht. Dort, wo 1945 die Rinde war, sieht man blauschwarze Verfärbungen: Eisen. Ein Überbleibsel der Kämpfe zwischen sowjetischen Truppen und Waffen-SS, die sich in den letzten Kriegstagen im Plänterwald verschanzte.

Maximale Entgrenzung 

Interessantes und Belangloses wechseln sich ab. In den vier Stunden, die der Park geöffnet ist, kann man gar nicht alle Angebote wahrnehmen, kaum alle Attraktionen erkunden. Vieles findet auch erst am Wochenende statt, etwa die ritualistische Verbrennung des "Burn Out Man" von Showcase Beat Le Mot. Noch wird am meterhohen Holzkoloss geschraubt und gehämmert. Auch das Transmedia Game "Spreezone" von Insivible Playground und Matthaei & Konsorten nimmt mit "Lunapark" nur seinen Auftakt: Drei Wochen lang will es unter Beteiligung möglichst vieler Spieler die ganze Stadt in einen Vergnügungspark mit ausgefallenen Attraktionen verwandeln. Für den Einsatz im kompetitiven Stadtspiel kann man im Lunapark trainieren und mit einem Hellersdorfer einen Nena-Song singen, Line Dance ausprobieren, ein Bierbike als touristisches Readymade nutzen oder von einer Hundekutschen-Führerin lernen.

Hinter dem stillgelegten Riesenrad gleißt die Sonne, es spannt sich ein Regenbogen. Die Fotoapparate klicken. Ein schöner, bunter Abend. Und die maximale Entgrenzung des Theaterbegriffs zum gemeinschaftlich erlebten einmaligen Ereignis. Wenn alles Performance ist, was braucht es dann noch die Kunst?

Lunapark
Von und mit Hebbel am Ufer, Invisible Playground, Matthaei & Konsorten, Showcase Beat Le Mot und anderen.

www.hebbel-am-ufer.de
www.spreezone.de

Kritikenrundschau

Die Idee, den alten Spreepark noch einmal zu öffnen, findet Esther Slevogt in der taz (28.5.2011) grundsätzlich toll. "Allerdings muss man, um in den Genuss dieser Öffnung zu kommen, die Kunst als Kollateralschaden mit in Kauf nehmen. Und merkt schon bei den ersten Schritten durch das versunkenen Paradies mit seinen ruinierten Illusionsmaschinen, zerfallenen Eisbuden und übrig gebliebenen Gondeln, dass es die verschiedenen Kunstanstrengungen schwer vor dieser Kulisse haben werden. Schon die Textelaborate der Diskursmaschinen, die im Vorfeld angeworfen wurden, klingen, als wollte man sich auf die unwirkliche Wirklichkeit hier erst gar nicht einlassen." Offen bleibt für die Kritikerin vorerst auch die Frage, ob Kunst hier lediglich als Konkursverwalter des Wirklichen fungiert, und ob der Spreepark die Kunst wirklich. Vom morbiden Ambiente fühlt Slevogt sich auch andere untergegangene Menschheitsträume erinnert. Und "an die untergegangene DDR, mit ihren abgeräumten Denkmälern und geköpften Lenin-Statuen", während die Tochter des einstigen Besitzers erzählt, "wie über Nacht ein gigantischer Märchenbrunnen verschwand, oder von nächtlichen Einbrechern den übrig gebliebenen Schwanengondeln die Hälse abgesägt wurden."

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