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Beckett, ein Meister aus Deutschland?

von Andreas Wilink

Köln, 27. Mai 2011. Der Baum fehlt. "Landstraße. Ein Baum. Abend", heißt die berühmte erste Szenenanweisung Samuel Becketts in "Warten auf Godot". Aber der Baum wird gespielt: von Wladimir, der die Arme ausbreitet und ein Bein anwinkelt und so Stamm und mageres Geäst markiert, an dem sich er und sein Kumpan Estragon eventuell aufhängen wollen und es dann doch nicht tun. Morgen vielleicht ...

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Eine Rampe ist eine Rampe ist eine Rampe.
© David Baltzer

Es wird während drei Stunden viel gespielt im Kölner Schauspielhaus, wo Thomas Dannemann diese Inkunabel der Dramenliteratur des 20. Jahrhunderts, die Krone des Absurden Theaters, inszeniert.

Die Grundsituation ist klar. Zwei Männer warten, zwei andere kommen, verschwinden wieder und kehren noch einmal zurück, die zwei Männer warten weiter – in einem deutungsfreien, ort- und zeitlosen Raum, obwohl es konkrete Hinweise gibt: auf den Eiffelturm, aufs Breisgau, auf handfeste Schläge, die Estragon Nacht für Nacht abbekommt, von wem auch immer, auf die Bibel, Jesus am Kreuz, Kain und Abel.

Die Last unserer Schuld

Die Kölner Bühne (Katrin Nottrodt) ist ein dunkler Kasten, gefüllt mit Altkleidern. Umschlottert von hellen Anstaltshemden und -hosen, schleppen Wladimir (Didi) und der mit vernarbten Striemen auf dem Rücken gezeichnete Estragon (Gogo) Bündel hin und her, die massenhaft aus einer Versenkung bei düster dröhnendem Grollen hoch- und niederfahren. Lager-Bestände? Überbleibsel Verstorbener, Ermordeter, Vernichteter?

Dannemann holt das Drama der absoluten Existenz-Verunsicherung in die Geschichte zurück und lastet ihm gewissermaßen unsere Schuld auf: Beckett ein Meister aus Deutschland? Während das Programmheft Berichte zitiert über die Opfer der Deportationen und das Leben in Theresienstadt, in dem "Privilegierte" und Künstler inhaftiert waren, die zum "Zeitvertreib" Bühnenprogramme einrichten und aufführen mussten, verdichten sich die Zeichen.

Keine Vagabunden des Schicksals sehen wir in den beiden Wartenden, die nach der Pause einen Moment lang Gummi-Glatzen tragen, sondern Opfer einer Vollstreckung. Pozzo, der Herrenmensch, trägt einen mit gelbem Einstecktuch (Hinweis auf den Davidstern) und mit Glitzerzeug aufgeputzten gestreiften Häftlingsanzug, dazu auf dem Kopf ein keckes Hütchen. Sein Knecht Lucky (Renato Schuch) ist in ein trikothaft ähnliches Kostüm wie ein Salamander eingenäht. Zwei geschminkte Clowns mit goldigem Gepäck und auch sonst bepackt mit deutlicher Zuschreibung, zumal Pozzo (Felix Vörtler) bajuwarisch jovial bis tückisch parliert und aus einer Jux-Pistole ein Fähnlein in Hakenkreuzfarben schießen lässt; zumal eine Wagner-Ouvertüre erklingt, wenn Lucky zu tanzen anfängt und in grotesk verstümmelte Zuckungen ausbricht; zumal ein Schuss knallt, als das Paar aus dem Nichts hervor krabbelt und Didi und Gogo vor Schreck in Deckung gehen und unterwürfige Haltung annehmen.

Kleine Scherze unter Freunden

Parallel kosten Regie und Darsteller das Spielerische aus. In den Monologen des Selbstdarstellers Pozzo kriegt sein Auftritt etwas Brettlhaftes und wirkt fast wie eine kabarettistische Einlage. Michael Wittenborn und Jan-Peter Kampwirth als Didi und Gogo scheinen zunächst vom Ballast der Ideologien und politischen Katastrophen unbeschwert: zwei großartig lässig-präsente, saloppe, dabei höchst präzise Darsteller. Sie greifen alle Schattierungen einer Beziehung ab, inklusive kleiner Scherze unter Freunde. Zanken, albern, krakeelen, schäkern, versöhnen sich, sind voneinander und ihrer Abhängigkeit genervt, flüchten sich zueinander und suchen Trost. Zwei ausgebuffte, feixende, gelegentlich kalauernde Alleskönner und souveräne Beherrscher von Techniken, Tricks, improvisierten Mitteln und kalkulierten Emotionen.

Bellen im Hitler-Sound

"Gogo" Kampwirth hat die Faxen dicke. Er ist kotziger, bissig und ein bisschen gemein, auch wehleidig, herzig, tuntig, hundeelend, hoffnungslos verzweifelt. "Didi" Wittenborn dagegen eher sarkastisch, knapper, hintersinniger, bewusster seiner Situation und darin gleichmütiger. Allein, wie er das Lied "Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei" darbietet, abbricht, ansetzt, neu offeriert, mit dem Publikum kokettiert und sich – wie von Gewehrsalven niedergemäht – zu Boden wirft, kurz eine Fliegeralarm-Sirene in seine Nummer fügt, kurz das Bellen im Hitler-Sound andeutet, ist ein Glanzstück.

Regisseur Dannemann, der trotz der fabelhaften Interaktion auf der Bühne den großen Atem und Spannungsbogen nicht ganz halten kann, verschärft, spitzt zu, grellt auf, verzögert, betont den Widersinn, brutalisiert Torturen und Zumutungen, indem er – mal dezent versteckt, teils plakativ – seine historischen Hinweise gibt. Auch bei dem Jungen, dem Boton Godots, der zunächst in stilisierter HJ-Uniform auftritt und dessen Begegnung mit Didi und Gogo ins Aggressive spielt.

Der Kleider-Graben an der Rampe, in den das Quartett ab und an fällt, bietet somit auch die Metapher der Aufführung, die sich selbst die Grube zum Stolpern gräbt.

 

Warten auf Godot
von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven
Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Regine Standfuss, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Michael Wittenborn, Jan-Peter Kampwirth, Felix Vörtler, Renato Schuch, Marc Torres/Xaver Wegler.

www.schauspielkoeln.de


Alles über Thomas Dannemann auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Ein schwerer, ein mutiger Abend, der einen länger nicht loslassen wird", findet Karin Fischer im Deutschlandfunk (28.5.2011). Mit der historischen Verortung habe Dannemann das Stück noch mal extrem existenziell zugespitzt. "Die Zeitlosigkeit, die Langeweile, das immer Gleiche: Hier sind es Kennzeichen von Gefangenschaft, einer ausweglosen Situation. Sie erklärt auch den latent daueraggressiven Tonfall zwischen den Protagonisten." Dannemanns Vereindeutigung funktioniere dabei als Augenöffner: "Hier findet kein absurdes Theater statt, wird nicht metaphysische Sinn- und Obdachlosigkeit vorgeführt, sondern ein End-Spiel, ein Spiel mit offenem Ausgang."

Die Textilberge, die sich auf der Bühne häufen, gemahnten an die Fotografien abgelegter Kleider in Vernichtungslagern, "ohne dass diese Assoziation zu einer bündigen These ausformuliert würde", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (30.5.2011). "Gerade deshalb irritiert das Bild." Dannemann vermeide es, eine einzige Lesart auf den diffizilen Text zu schnüren, "die diesen ja nur verkleinern könnte. Er tut etwas anderes: Er konfrontiert die allzu vertrauten Formeln und Floskeln, mit denen Wladimir und Estragon einander bei Laune halten, mit Chiffren der Kälte und der Undurchsichtigkeit. Und gibt so dem Stück, wider Erwarten, seine ursprüngliche Fremdheit zurück." Wladimir und Estragon? "Leute wie du und ich. Anhänglich, sarkastisch, frivol und einsam. Wenn sie Pozzo und Lucky spielerisch nachäffen ('Denk, Schwein!'), macht sich fast ein Gefühl dankbarer Erleichterung bemerkbar."

Ein "tiefernster, sorgfäliger Stadtheaterabend alter Schule" sei dies, urteilt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (30.5.2011), "in den Spitzen aber ein frischer, schrecklicher Blick auf einen vermeintlich bekannten Klassiker des 20. Jahrhunderts." Das Ensemble werde von Regisseur Thomas Dannemann zu "darstellerischen Glanzleistungen" geführt. Michael Wittenborn und Jan-Peter Kampwirth als Wladimir und Estragon seien ein "schrecklich leidendes, fürchterlich komisches Traumpaar. Anstaltsinsassen in Weiß, die Jacken hinten zugeschnürt", "arme Irre, Gefangene eines großen Lagers, in dem nur der rieselnde Staub von der Zeit kündet."

"Beifall für einen riskanten, starken Abend", hat Hartmut Wilmes von der Kölnischen Rundschau (30.5.2011) vernommen. Regisseur Thomas Dannemann zeige "Becketts Abgrund in einer irritierenden Doppelbelichtung: Als das Bodenlose der menschlichen Existenz, aber auch sehr konkret als jenen braunen Schlund, der bis zum Kriegsende 1945 Millionen von Menschen verschlang." Auch hier fällt großes Lob auf die Schauspieler; ein jeder "im exzellenten Mimen-Quartett hat seine Soli, darf kurz kalauernd aus der Rolle fallen, um sie gleich wieder fest im Griff zu haben". Leichte Abstriche macht der Kritiker beim ersten Teil des Abends, "der gelegentlich in schwarze Langeweile-Löcher sackt". In der zweiten Hälfte aber werde "der Sog des Abgrunds stärker, der Proviant an ablenkenden Tändeleien und Trostfloskeln ist aufgezehrt."

Eine zwiespältige Inszenierung hat Andreas Rossmann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.5.2011) gesehen. Der Bezug auf die Shoa bedeutet für den Kritiker eine unangemessene Verdeutlichung. Indem die Inszenierung unter Ausnutzung historisch konkreter Requisiten den "Schrecken auf diese Weise einkleidet, steckt sie das Unvorstellbare förmlich in ein Kostüm und verharmlost es auch. Das 'vielleicht', für Beckett das wichtigste Wort in seinem Werk, wird getilgt und ihm die einzige Gewissheit genommen: dass es keine Gewissheit mehr gibt." Eingedenk dieser Vorbehalte gegen das Regiekonzept hat der Kritiker aber auch eine "wortgenaue Inszenierung" erlebt, die "von den ideologischen Vorgaben nicht erschlagen" werde und "den Akteuren viel Spielraum" lasse. "Dicht und prägnant, wie sie das Stück laufen lassen, entsteht fast der Eindruck, als wehrten sich die Schauspieler gegen seine äußere Überformung. Die Aufführung vertieft so ihren Zwiespalt."

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