Leipzig, 29. Mai 2011. Freie Platzwahl: Die Eintrittskarte verkündete noch eine gewisse Sitzordnung, doch der – physischen wie intellektuellen – Positionierung lässt dieser Abend im Leipziger Centraltheater völlig freien Lauf: Guillaume Paolis und Manuel Harders Zuschaueraufstellung "Das schwarze Loch". Auf der Hinterbühne versammeln sich die Schaulustigen und sehen erst einmal nichts anderes als sich selbst an.

"Glotzt nicht so romantisch?": Da, wo vor zwei Jahren die probierfreudige Einmal-Inszenierung "Das Schwarze Loch" mit einer leibhaftigen Schafsherde auf der Bühne ihr Finale hatte, beginnt das neuerliche Experiment mit einem Haufen Zuschauern, die sich selbst begaffen. Intersubjektivität nennt man solches schüchtern-selbstbeschämendes Herumstehen in der rund 150köpfigen Menschenhorde wohl in gelehrten Kreisen.

Zum Glück kommen aus dem Off kleine Kommentare zum Verhalten der Zuschauer, die wie negative Regieanweisungen wirken: "Ein Mann im lila Shirt wischt sich den Schweiß von der Stirn", "Zwei Schauspielstudentinnen tuscheln" ... Sofort halten die Angesprochenen inne, während der Rest schaulustig den Blick in verstärkten Suchbewegungen umherschwenkt. Schließlich kommt aus dem Nichts eine Begrüßung, die den Theaterabend offiziell bestätigt. Und darum wird es in dieser perfomativen Installation im Kern gehen: Was sanktioniert individuelles Verhalten als regelkonform, warum bricht man nicht einfach aus – sei's aus Gusto oder guten Gründen?

Eine erstaunlich ausgewogene Mischung aus Auf-sich-selbst-geworfen-Sein und Animation gelingt den Demiurgen dieses kleinen Kosmos' Manuel Harder und Guillaume Paoli. Im völligen Dunkeln kollektiv kurz still gestellt, kommt Bewegung ins Publikum, als die Drehbühne ganz langsam Fahrt auf nimmt. Im minutiösen Tempo wechselt man die Position, sieht auf zwei Leinwänden abgefilmte Zuschauer, wird von Klangteppichen à la Gothic-Rock der vierköpfigen Band eingehüllt oder -lullt. Man kann im drehenden Raum herumlaufen, starr stehen bleiben oder sich auf den Boden setzen, um dieser Art Spektakel zu folgen.

Man hört Textfragmente aus dem frischen und doch schon Theorieklassiker gewordenem Bändchen Der kommende Aufstand aus dem Off und von im Raum anwesenden Schauspielern rezitiert. Kunstschnee und Höhensonne rücken einem auf den Leib, man erlebt ein Gespräch mit einem in Japan lebenden Exildeutschen über nukleare Katastrophen und Gärten in der Größe einer Katzenstirn. Wieder und wieder spielt, jault, zirpt die Band auf, werden die Blicke aus abwechselnden Richtungen gefesselt durch Licht oder Refelxe im meist düster-opak bleibendem Rund. Das alles ist recht wüst und wild zusammengestoppelt, lässt alle abgefeimte Dramaturgie missen – und zieht genau daraus seine intuitive Strahlkraft.

Ein bisschen Tahrirplatz soll das wohl sein und auf die so genannte Arabische Revolution verweist auch mancher Moment des Abends. Ein Gleichsetzung von Theatersetting und todernster Rebellion wäre vermessen, als symbolischer Aufhänger für die Fragestellung taugt das schon. Mit Leben, Fleisch und Blut versuchen die zwei Theatermacher das theoretische Gerüst von "Der kommende Aufstand" zu füllen, dem es wohl nur in Deutschland passieren konnte, vom konservativen Feuilleton eher gefeiert und linksalternativen Zeitungen als reaktionär gegeißelt wird. Gewiss, es sind keine der deutschen Befreiungsphilosophen à la Jürgen Habermas oder Axel Honneth, mit denen – die Kritische Theorie längst nicht mehr im Rücken – das anonyme Autorenkollektiv zum Lob der Anerkennung oder idealen Sprechsituation anhebt.

Es mag mitunter befremdliches Vokabular sein, bringt die Verhältnisse aber mehr zur Sprache als über Anerkennungsprobleme und deren unklare normative Basis zu plaudern. Und wer hier einen Carl Schmitt im post-modernen Gewand wittert, sollte mal bei Walter Benjamin über den Ausnahmezustand nachlesen oder bei Jacques Derrida über den "mythischen Grund der Autorität". Gesetze sind gewaltförmig, weil sie gesetzt sind, Unterdrückungsverhältnisse gibt es nicht nur in absolutistisch bis totalen Systemen. Und ist es wirklich zu dick aufgetragen, den Leistungsdruckdampfkessel Kapitalismus, in dem angeblich jeder seines eigenen Glückes Schmied und folglich dem fortwährenden Konkurrenzkampf ausgesetzt ist, einen Bürgerkrieg zu nennen? Nur weil die Kriegswaffen schweigen, muss man von Freiheit oder gar Frieden nicht sprechen.

Der Mensch in der Revolte ist die Zentralperspektive und damit gerät diese Publikumsaufstellung zum Kontrapunkt und auch Korrektiv von Frank-Patrick Steckels blutleerem Sprechtheaterabend Antworten an Deutschland, der eine Woche zuvor in Leipzig Premiere hatte. Was dort nur Text war, wird im "Schwarzen Loch" zum Bauchgefühl. Der Bürgerkrieg mit ökonomischen Waffen tobt, ist der permanente Ausnahmezustand, das sagen beide Abende. Die Frage aber, warum man selbst nichts tut, um eine kommende Zeit, die man lieben könnte, der Gegenwart näher zu holen, bringen dann doch Paoli und Harder auf den vitaleren Punkt.

Kurzum: Ein ganzheitlich-sinnliches Ereignis – vom fuseligen Gratisrotwein einmal abgesehen.

(Tobias Prüwer)

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