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Mit den Stockmann-Festspielen zurück in die Zukunft

von Michael Laages

Bremen, 2. Juni 2011. Im Zentrum der Schlacht sagt Thomas Stockmann sich los von der Welt, wie sie ist – Schritt für Schritt verliert er den Kampf um "die Wahrheit", Zug um Zug schiebt ihn die Stadt, um deren Zukunft er streitet, aufs Abstellgleis. Er, der Einzelne, hat keine Chance gegen die Tricks und Fallenstellereien der politischen Mehrheit – da wird er (mit Schiller) grundsätzlich: Der Starke ist am mächtigsten allein, sagt er, kündigt der Gemeinschaft der politischen Kompromissler das Einverständnis auf und fordert in der himmelstürmerischen Schluss-Apotheose das Recht des Einzelnen gegen das Ganze ein. Er kennt die Wahrheit, alle anderen verdrängen und verstecken sie – darum, und als selbsternannter Teil der Elite, rassisch wie intellektuell, verkündet er die neue Zeit. Er wird sie nicht mehr erleben.

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Aktuell war, ist und bleibt "Ein Volksfeind", Henrik Ibsens Stück von 1882, erschienen gleich nach dem Durchbruch mit "Gespenster", so lange sich die zivilisierte Welt der Mehrheitsmeinung als entscheidender Größe im Prozess demokratisch-repräsentativer Willensbildung bedient und unterwirft. Und jede neue "Volksfeind"-Aufführung steht und fällt mit der Haltung, die sie der finalen Konsensaufkündigung gegenüber einnimmt. Denn die ist fundamental – er, der Einzelne (sagt das Stück), ist im Recht, fundamental straft ihn die Gesellschaft für "die Wahrheit": das Heilbad, wichtigste Einkommensquelle der Stadt, wird (wie Stockmann herausgefunden hat) von vergiftetem Wasser gespeist; es müsste abgerissen und neu gebaut werden. Das kann die Stadt sich nicht leisten, das will kein Bürger mit Steuergeld bezahlen – da wird lieber weiter die Kundschaft vergiftet und der Wahr-Sager Stockmann zum "Volksfeind" gestempelt.

Intelligent renovierte Polit-Polemik

Unübersehbar waren, sind und bleiben die offensichtlichen dramaturgischen Macken des Stücks, das überkonstruiert ist und nur in Maßen plausibel – Robert Schusters aktuelle Fassung für das Theater Bremen lässt die Defizite aber vergessen mit Hilfe einer ausgefuchsten Rahmen-Story, die das etwas klapprige Drama auf höhere Ebenen des philosophischen Diskurses empor katapultiert. Dieser Bremer "Volksfeind" wird zur überaus intelligent renovierten Polit-Polemik.

Zunächst dreht Schuster den Zeitpfeil um – wir erleben die rituellen "Stockmann-Festspiele", mit denen sich die Nachgeborenen späterer Generationen des großen Fundamentalisten und dessen entscheidender Erkenntnisse und Wegweisungen erinnern; sie alle, die sich da im antiken Theaterhalbrund von Sascha Gross wie in der Wellness-Oase einfinden, sind "Erleuchtete", ihre Gesellschaft neuen Typs ist auferstanden aus den Ruinen der Schlachten, die das untergehende Europa Mitte des laufenden Jahrhunderts gegen den stärkeren Rest der Welt verlor; überall in der Welt, und sei es am Kongo.

Drei große Nein

Stockmanns drei Kinder sind Ehrengäste der Festspiele im Namen des Urahns, dessen fundamentale Regeln über Wahrheit und Recht nun gelten in der bewohnten Welt; vorgeführt wird die Erinnerung an eine politisch-moralische Auseinandersetzung von vorvorvorgestern. Da stimmen zwar nun nicht unbedingt alle Jahreszahlen und Generationenfolgen, aber Schuster umkurvt so sehr geschickt alle quälenden Fragen zur Aktualität des Stückes. Es war einmal, sagt das Festspiel-Märchen, und der Weg führt zurück in die Zukunft.

© Jörg Landsberg
"Der, der den Badearzt Stockmann spielt": Glenn Goltz. © Jörg Landsberg

Die Alten (Gabriele Möller-Lukasz, Siegfried W. Maschek und Gerhard Palder) schauen überwiegend zu, wie die Jungen den Urahn rühmen, in dem sie seine Geschichte spielen; sie sind auch ein wenig die Spielmacher der schnell erzählten Story, stoppen das Spiel und läuten Szenen ein. So schnell lässt Schuster erzählen, dass dazwischen sogar noch Zeit bleibt für "Hymnen", von Jörg Gollasch vertont, und Platon-Texte über Herrschaft und Recht, das Glück und die Macht der Musik. Und wenn "der, der den Badearzt Stockmann spielt" (so steht es für Glenn Goltz im Programmheft) schlussendlich das Einverständnis aufkündigt, nicht mehr mitmachen will, brüllt er auch gleich diese ganze platonisch durchwirkte Zukunft über den Haufen. Drei große "Nein" setzt er der Welt entgegen – und wer verstünde nicht den Impuls, zwischen Athen und Madrid, Kairo, Tunis und Paris.

Zerrbilder der wüstesten Sorte

Zuweilen ist Schusters Konstrukt so klug berechnet, dass es sich selbst ein Bein stellt – der Grundidee von der Farce aus uralten Zeiten folgend, steht dem guten, wahren, mutigen und bis zur Weltfremdheit naiven Arzt ein städtisches Lemuren- und Karikaturen-Kabinett gegenüber: Bürgermeister (Jan Byl), Journalist (Christoph Rinke), Redakteurin (Johanna Geißler) und braver Bürger an sich (Thomas Hatzmann); ja selbst Stockmanns Frau (Franziska Schubert) ist auf schrill gestylt. Sie alle sind Zerrbilder der wüstesten Sorte – das macht sie zwar sehr komisch, doch fehlt dem braven Badearzt Parsifal so leider jeder gedankliche Gegner auf Augenhöhe. Hier verliert die ansonsten so klug komponierte und konstruierte Aufführung eine Dimension, die Stück und Story womöglich stärken könnte.

Abgesehen davon aber schlagen Schusters Team und das Personal das Bremer Publikum zwei pausenlose Stunden lang in Bann – und es tut gut, im Programmheft Erwin Piscators Plädoyer für politisches Theater heute zu lesen. Das ist nicht von gestern. Das ist ganz neu.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Fassung von Robert Schuster und Kira Scheffel
Regie: Robert Schuster, Bühne und Kostüme: Sascha Gross, Musik: Jörg Gollasch, Dramaturgie: Marcel Klett.
Mit: Jan Byl, Johanna Geißler, Glenn Goltz, Thomas Hatzmann, Sebastian Martin, Siegfried W. Maschek, Gabriele Möller-Lukasz, Gerhard Palder, Christoph Rinke, Franziska Schubert.

www.theaterbremen.de

 

Beim virtuellen nachtkritik-Theatertreffen 2011 landete eine andere Volksfeind-Inszenierung auf den vorderen Rängen: von Katharina Rupp am Theater Biel-Solothurn.


Kritikenrundschau

Regisseur Schuster lässt die Ibsen-Figuren in einem Chor zum "Ritus der Erinnerung" antreten. "Klingt kompliziert und ist es auch", sagt Rainer Mammen im Weser Kurier (3.6.2011). Die die Platon- und Theorieeinschübe über die Götter und die Welt wirkten "ein bisschen zu heftig und überambitioniert, um wirklich überzeugen zu können." Lob fällt auf die "heimlichen Hauptrollen in dieser Inszenierung", die "anpassungsfreudigen Figuren" wie der Bürgermeister, Drucker Aslaksen und der Zeitungsmann Hovstadt, die Stockmann "das Leben so schwer machen. Sie sind Kriecher, Schleimer und Kniffies, Grimassenschneider und aalglatt sich biegende Nieten mit Kodderschnauze." Jan Byl, Thomas Hatzmann und Christoph Rinke stellen sie dar. "Wenn diese Drei so richtig aufdrehen, macht die Bremer Aufführung jede Menge Spaß und wird tatsächlich zu jener possenhaften Komödie, als die man sich Ibsens Stück so prima vorstellen könnte."

Wesentlich positiver nimmt Andreas Schnell den "kühnen Vorschlag" der Regie in der TAZ (3.6.2011) auf: In Bremen sei "ein spannender Umgang mit einem Klassiker, der seinen guten Ruf vielleicht zu Unrecht genießt", zu erleben. Der Kritiker hat ein "Passionsspiel" gesehen, mit einem "Stockmann als Jesus in Schießer-Feinripp, das Werk als Gründungsmythos jener postdemokratischen Gesellschaft, die – und das bleibt die vakante Stelle in dieser Inszenierung – zwar, so hat's den Anschein, auf Platons Staatsideen basiert, die allerdings notgedrungen nur ansatzweise beziehungsweise höchst abstrakt ausgeführt werden, weshalb unklar bleibt, was sie eigentlich ausmacht." Dass die "gesellschaftlichen Kräfte, mit denen es Stockmann zu tun hat, als groteske Karikaturen von Redakteuren, Obrigen und Honoratioren gezeichnet sind" nehme dem Abend etwas "von seiner konzeptionellen Strenge" und verleitet dazu, "die Sympathien und Antipathien zu teilen, die bürokratischen Winkelzüge lächerlich zu finden und den aufrechten Stockmann zu bemitleiden." Dieser aufrechte Stockmann aber besitze "frappierende Anklänge an den Faschismus"; in ihm thematisiere die Inszenierung die undemokratische "Begeisterung für starke Menschen" mit "Führungsqualitäten".



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