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Immer diese Widersprüche

von Andreas Schnell

Bremerhaven, 4. Juni 2011. Sie ist ja wahrlich manchmal zum Verrücktwerden, die Welt, in der wir leben. Da sind den einen die Austern nicht zart genug, während sich andere mit einer Handvoll Reis bescheiden müssen. Da sind die einen Helden, weil sie, um ihr bescheidenes Leben zu verbessern, in fremde Länder aufbrechen, während andere als Wirtschaftsflüchtlinge geschmäht und als illegale Ausländer verhaftet und abgeschoben werden.

Da gibt es, um ein Beispiel aus Gerhard Meisters Stück zu nehmen, Magenbandoperationen "jetzt übrigens auch für Hunde und Katzen", damit die Tiere nicht so viel fressen. Während anderswo Kinder mit Hungerbäuchen auf den Tod warten. Und in jedem Mobiltelefon, auch das erfahren wir in "In meinem Hals steckt eine Weltkugel", steckt ein halbes Gramm Coltan, das vor allem im Kongo vorkommt, wo es unter "fürchterlichen Arbeitsbedingungen abgebaut wird". Klebt Blut an unseren Handys? Und wenn ja, was folgt daraus? Das Telefon wegschmeißen? Wenn ja, wem nützt das? Oder, um es mit den Goldenen Zitronen zu sagen: "Immer diese Widersprüche..."

Zappelndes Ich 

Gerhard Meister hat ein Stück geschrieben, das ein Manifest der widersprüchlichen Gemütslagen ist, die sich aus Mitgefühl und Eigennutz ergeben. Es ist schließlich bekannt, dass in weiten Teilen der Welt bitterstes Elend herrscht. Und zugleich die kapitalistische Wertschöpfung zu geradezu fantastisch anmutendem Reichtum führt.

Meister selbst, so teilt er im Programmheft mit, hat sich gefragt, "ob es nicht Unsinn ist, ein Stück über die pervers eingerichtete Welt zu schreiben, statt etwas gegen diese Welt zu tun". Und lässt die Figuren auf der Bühne, die nicht einmal Namen tragen, um es nochmal mit des Meisters Worten zu sagen, "in ihren Widersprüchen zappeln". Was ihn zu einer reizvollen Form geführt hat, die zwischen Chor und Monolog wechselt und uns ein kollektives Ich vorführt, das an jenen Widersprüchen regelrecht verrückt wird.

Es beginnt mit einem, der über den Coltan-Anteil seines Handys raisonniert, geht weiter mit einer, die im Supermarkt von der Fülle des Angebots überfordert ist, mit einem, der vor allem ein spirituelles Problem damit hat, sich nicht permanent das Leid anderer Menschen zu eigen machen zu können, und setzt sich fort mit einer, die trotzig darauf beharrt, dass sich über die Hundehaufen vor ihrer Tür ärgert, trotz Millionen von Hungertoten anderswo.

Ein Teil des Ganzen

Es geht ihnen buchstäblich an die Nieren, jenen durchnummerierten Menschen, die da in ihren individuellen Befindlichkeiten kaum noch unterscheidbar sind. Und so bitterböse Sätze sagen wie: "Was kann ich denn dafür, dass wir hier keine Hungertoten haben?" Wobei natürlich der wahre Zynismus darin besteht, dass diese Hungertoten mit so erschütternder Regelmäßigkeit immer wieder neu produziert werden, und die Versuche, dem Elend zu entgehen, an den Mauern der "Festung Europa" so systematisch zerschellen.

Meisters Figuren treibt dabei vor allem ein Problem um: Wie selbst damit zurechtkommen, Teil einer Weltordnung zu sein, die dauerhaft Not und Elend herstellt. Wie sie ihr Leben im relativen Wohlstand leben können im Wissen, dass dieser zumindest irgendwie mit der Not der anderen verknüpft ist. Bis sie sich – auch das ein erfolgloser Versuch – in Yoga-Uniform zum esoterischen Ritual treffen – dem verdammten Welthunger muss doch irgendwie beizukommen sein... Der Gipfel des Zynismus.

Um sich selbst kreisende Box

Erik Altorfer hat Meisters Stück sehr zurückhaltend in einer Box inszeniert, die sich im Verlauf um sich selbst dreht, wie das Personal darin, die mal Salon ist, mal als Rückwand Projektionsfläche – und eine Seite der Box offeriert schließlich eine Wand voller Babypuppen, die darauf verweist, dass Spendenbereitschaft sich nicht zuletzt an traurigen Kinderaugen entzündet – und damit die Verlierer des global ausgetragenen ökonomischen Wettbewerbs noch einmal ganz brutal sortiert werden. Was bleibt, ist – man darf es wohl sagen, eine Weltkugel, die im Hals stecken bleibt. Kein Trost, keine Handlungsanweisung. Aber das Wissen, dass Nabelschau auch keine Lösung ist.

In meinem Hals steckt eine Weltkugel (UA)
von Gerhard Meister
Regie: Erik Altorfer, Ausstattung, Video: Eva Humburg, Dramaturgie: Natalie Driemeyer.
Mit: Sascha Maria Icks, Isabel Zeumer, Martin Bringmann, Andreas Möckel.

www.stadttheaterbremerhaven.de

 

Mehr zum Dramatiker Gerhard Meister: wir besprachen zuletzt sein Stück Die leuchten in der Nacht, das im März 2010 von Nils Torpus in Aarau/Schweiz uraufgeführt wurde.


Kritikenrundschau

"Es sind moralisch höchst gewichtige Fragen, die Gerhard Meisters Stück auf die Bühne bringt", sagt Volker Heigenmooser in der Nordsee-Zeitung (6.6.2011). "Was jedoch fehlt, ist der Hinweis auf die politischen Ursachen"; zudem lasse das Stück "die theatrale Linie" vermissen. Auch Regisseur Erik Altorfer vermochte keinen "großen Spannungsbogen" einzuziehen, trotz der "vielen gelungenen Einzelszenen". Fazit: "Prima Schauspieler, prima Bühnenbild, prima Regie, prima Botschaft, prima Absicht, aber leider kein gutes Theaterstück."



Kommentare  
In meinem Hals steckt..., Bremerhaven: danke
danke für die inhaltsangabe
In meinem Hals steckt ..., Bremerhaven: wunderbar konzise Sprache
tut mir leid, lieber Volker Heigenmooser von der "Nordseezeitung", aber ich fand auch das Stück großartig! Eine wunderbare konzise Sprache. Eindrückliche Schilderung der hoffnungslosen Situation der Armen. Die Ursache? Sie ist eh klar: Es ist die rücksichtslose Raffgier der ersten Welt! Wer an der Lesung Gerhard Meisters am Folgetag teilgenommen hat, was für ein großartiger Stilist er ist.
In meinem Hals steckt..., Bremerhaven: eine weitere Stimme
Außerdem Michael Laages im Deutschlandfunk:
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1477197/
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