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Unterwegs mit dem Kaiser Kunst

von Esther Slevogt

Krakau/Berlin, 11. Juni 2011. Seine apostolische Majestät, Kaiser und König Franz Josef II. von Österreich-Ungarn hat es sich nicht nehmen lassen und ist Samstagmorgen um sieben persönlich an Gleis drei des Krakauer Hauptbahnhofs erschienen, um den Zug zu verabschieden. Zünftig eingerahmt von Marschmusik des Straßenbahn-Blasorchesters. Krakau hat schließlich bis 1918 zu seiner k.u.k.-Monarchie gehört. Und weil seitdem fast hundert Jahre vergangen sind, hält hier in kaiserlicher Uniform natürlich nicht Franz Josef II. persönlich die Rede, sondern ein Schauspieler des Krakauer Stary Teatrs, dessen Intendant Mikołaj Grabowski lachend daneben steht, einer der Paten dieses Projekts, das nun den täglich um 7.30 Uhr auf der Strecke Krakau-Berlin verkehrenden Europa-Express "Wawel" für eine Fahrt in ein Theater auf Schienen verwandelt hat.

Souveränität, Teilung, Einverleibung

Dessen Mitwirkende wie Mitreisende wiederum können an jeder Station des Zuges auf seiner zehnstündigen Reise bis Berlin selbst zu Zuschauern werden, da es überall an den Bahnhöfen auf der Strecke Performances, Events oder Installationen zu sehen gibt. Und während die Schauspieler-Majestät nun vor Abfahrt des Zuges endlos erst einmal alle Titel verliest, die dieser Kaiser im richtigen Leben besaß – Titel, die auf die von ihm regierten Provinzen und Länder verweisen und sich zu einem großen Teil Mittel- und Osteuropas addieren – denkt man auch, dass dieser Vielvölkerstaat durchaus auch eine Art europäische Vision oder gar Utopie hätte sein können. Multi-ethnisch, multi-kulturell und multi-religiös. Aber Kaiser und Könige haben sich, wie man weiß, in der Geschichte als nicht sehr Utopie-tauglich erwiesen.

Als nach dem Untergang der k.u.k-Monarchie 1918 nach über hundert Jahren wieder ein souveräner polnischer Staat entstand, sollte es nicht lange dauern, da hatten Hitler und Stalin ihn wiederum unter sich aufgeteilt. Bis ihn die Deutschen sich ganz nahmen, für deren Schrecken die nahe Krakau gelegene Stadt Auschwitz zum Synonym geworden ist. Nach 1945 verleibte Stalin die Sozialistische Polnische Republik als Satellit seinem Sowjetreich ein.

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Auschwitz ... and many more!   
©Esther Slevogt

Elektromobil Richtung Ghetto

Krakau jongliert heute sehr cool mit seinen historischen Pfunden, die der Stadt mit den prachtvollen Kathedralen, dem Wawel und seinen Königsgräbern, Europas größtem jüdischen Friedhof und dem Markusplatz-haften Großen Markt (Rynek) inzwischen einen enormen Tourismus bescheren. Es gibt Jewish-Heritage-Tours, Communism-Tours. Oder man kann sich im weißen Fiaker durch die Altstadt mit ihren Renaissance-Bauten kutschieren lassen.

Ob die Stadt vielleicht ein wenig zu cool mit ihrer Geschichte umgeht, das fragt man sich allerdings gelegentlich auch etwas schaudernd, wenn man durch die Stadt die kleinen offenen Elektro-Busse fahren sieht, deren Dachmarkisen mit den angefahrenen Tourismus-Attraktionen beschriftet sind: Wawel. Altstadt. Schindler's Factory. Auschwitz.

Das sind Gedanken, die man sich auch noch macht, während der falsche Kaiser dann frühmorgens an Gleis drei seine Abschiedsrede für diesen Zug hält, der ja auch das Bewusstsein für die historischen Verheerungen der Orte an dieser Strecke mit ihren kriegs- und vertreibungsgeprägten Geschichten schärfen soll. Und Perspektiven für eine Zukunft öffnen will, in der all das Widersprüchliche, Verschiedene unter einem gemeinsamen Dach wie selbstverständlich zueinanderfindet. Gewaltsam Getrenntes wieder verbunden wird. Unter dem Dach Europas. Oder wenigstens unter dem Dach der Kunst.

 

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Doch irgendwie hat diese samstägliche Theaterfahrt Krakau-Berlin bald große Ähnlichkeit mit Reisen, die einst Franz Josef II. und seine Sisi durch ihr enormes Reich unternahmen. An diesem 11. Juni 2011 ist freilich Kaiser Kunst an Bord und wird an den Stationen, an denen er hält, von der Bevölkerung begeistert empfangen und gefeiert. Von eigens organisierten Trachtengruppen, örtlichen Orchestern, Sportvereinen, Chören oder Künstlern.

 

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Armin Petras mit Piroggi-Geschenkkorb am Bahnhof von Wegliniec          ©Esther Slevogt

König Armin empfängt selbstgemachte Piroggi

Einmal, im schlesischen Städtchen Wegliniec, das vor 1945 Kohlfurth hieß, scheint es, als hätte sich die gesamte Bevölkerung winkend am Bahnsteig versammelt. Die Zugpassagiere werden gebeten auszusteigen und sich mit der Bevölkerung zu einer völkerverbindenden Polonäse zu vereinigen. Im Bahnhofsgebäude wurde von den Einheimischen ein Fest für die Durchreisenden organisiert, mit selbstgebackenem Kuchen und Ausstellung zur deutschen Geschichte der Stadt. Armin Petras, der als Intendant des Maxim-Gorki-Theaters und künstlerischer Leiter des Projekts die deutsche Seite vertritt, nimmt als Präsent einen Korb mit selbstgemachten Piroggi entgegen. Nach einer Viertelstunde geht es weiter.

Es ist Krieg!

Die Reise führt durch schlesische Städte, vorbei an maroden Industrienanlagen. In Mysłowice steht in Reih' und Glied ein knappes Dutzend Bergarbeiter an der Strecke. Unter ihnen ein Double Fidel Castros, der 1972 zu Besuch gewesen ist und die Herzen Bergarbeiter gewann, weil er in ihre Arbeitstracht gewandet zu ihnen sprach. In Zabrze wird am Bahnsteig ein Charles-de-Gaulle-Doppelgänger feierlich begrüßt, der hier 1967 als Staatsgast weilte und damals in Bonn für Missstimmung sorgte, da er im ehemaligen "Hindenburg" den deutlichen Satz "Es lebe Zabrze, die schlesischste aller schlesischen Städte und darum die polnischste aller polnischen Städte!" sprach. Zur Begeisterung der Polen, versteht sich. In Gleiwitz, wo mit der Besetzung eines Radiosenders 1939 der Zweite Weltkrieg begann, wird der einfahrende Zug von Zeitungsboten bestürmt, die – immer wieder laut das polnische Wort für Krieg "Wojna!" rufend – Extrablätter in deutscher und polnischer Sprache verteilen.

Huldigung der Mütter und Großmütter

Auch drinnen wird der Zug bespielt. Ob zusteigende Theatergruppen im Gang eines der ersten vier, für das Projekt reservierten Waggons kleine Szenen zu den Themen Vertreibung, Verfolgung und Flucht aufführen (zum Beispiel "Meine erste Polka" nach Horst Bienek vom Teatr Nowej Sztuki aus Gleiwitz). Ob es um die unerbittlichen historischen und ideologischen Sogkräfte geht, die den Menschen in dieser Gegend so oft die Regie über ihr eigenes Leben aus der Hand genommen haben (wie in Armin Petras' "Meine Urgroßmutter ist neu oder warum ich Sümpfe mag"). Ob einfach der Zug selbst mit kleinen Geschichten vom Leben und Überleben als Transportmittel der Vertriebenen und Umgesiedelten thematisiert wird ("Mütter" von Michał Olszewski). Oder ob sich schlicht aus ganz gegenwärtigen Zugsituationen plötzlich ein Drama entspinnt: ein Fragment aus Shakespeares "Romeo und Julia" bespielsweise, dessen Intensität die beiden beteiligten Akteure aus ihren Sitzen im Großraumwaggon fast ins Gepäckfach über den Sitzreihen treibt, auch Klage über die Verrohung der heutigen Sprache des Begehrens führend.

 

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Es gibt Musik, Mode- und Kochshows. Immer unterbrochen, wenn der Zug wieder an einer Station hält und draußen Programm geboten wird. So kann man in Cottbus auf dem Bahnsteig aus leeren Nivea-Dosen Dioramen basteln: Hommage an einen der Schutzheiligen dieser Reise, den in Gleiwitz geborenen jüdischen Apotheker Oscar Troplowitz, der die Nivea-Creme, das selbstklebende Pflaster und den Labello-Stift erfand.

Beschwörung der unerfüllten Liebe zum Commandante

Oft aber geht alles so schnell, dass man kaum mitbekommt, was war. Schon ist es wieder vorüber. Sehr störend auch die vielen Kamerateams, die sich recht rücksichtlos durch die Waggons drängen und sichtversperrend direkt vor den Schauspielern stehen, die dann stets für die Kameras, nicht für das anwesende Publikum spielen.

Es sind allerdings erstklassige Spieler vom Stary Teatr, die hier (unter der Regie von Iwona Jera) mit nicht nachlassender Kraft und Spielfreude über zehn Stunden in Einsatz sind: die wunderwandelbare, energische wie quirlige Marta Ojrzynka, der junge Intensivspieler Andrzej Rozmus oder Wiktor Log-Skarczeweski, der mit Mut zur Hässlichkeit ebenso wie zur Schönheit beeindruckt. Die ebenso handfeste wie irrlichternde (zweisprachige) Ernst-Busch-Studentin Antonia Biel. Und die große Schauspielerin Iwonka Bielska, deren Glanzstück ein Monolog ist, in dem eine polnische Frau ihre unerfüllte Liebe zu Fidel Castro beschwört ("El Comandante" von Johanna Oparek). Vom Maxim Gorki Theater sind Hilke Altefrohne, Cristin Koenig und Andreas Leupold dabei.

 

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Kunst oder Fortbewegung, das ist die Frage!

Und dann gibt es immer wieder Momente, wo sehr deutlich wird, dass dies eben wirklich ein kaiserlicher Zug mit mitreisendem Hofstaat ist: dann nämlich, wenn an den einzelnen Bahnstationen ganz normale Menschen zusteigen, die nicht an der Kunst, sondern einzig an ihrer Fortbewegung interessiert sind. Die sich irritiert nach Sitzplätzen suchend durch das wilde Treiben drängeln, manchmal schimpfen und die ganze Völkerfreundschaftsmaßnahme nur für eine weitere Schikane der Bahn halten. Davon, dass dies kein normaler Zug ist, hatte ihnen beim Kauf der Fahrkarte keiner etwas gesagt. Eine Gruppe pöbelnder Jugendlicher wird gar der reservierten Waggons verwiesen.

"Wenn die jetzt auch noch ihre Waggons an Künstler vermieten, dann aber Gute Nacht", stöhnt eine ältere Dame, die in der Grenzstadt Forst zugestiegen ist und sich nach langer Suche erschöpft auf einen Platz fallen gelassen hat, der eigentlich einem Gitarrenspieler gehört, der sich jedoch schon seit Wrocław dort nicht mehr blicken ließ. Sie stellt sich als Berliner Kindergärtnerin vor der Pensionierung vor. "Ostberlin", fügt sie mit energischer Miene hinzu. Dann erzählt sie, wie der nach 1945 in Polen gelegene Ostteil ihrer Geburtsstadt Forst in den ersten Nachkriegsjahren abgetragen und das so gewonnene Baumaterial für den Wiederaufbau der von den Deutschen restlos zerstörten Stadt Warschau abtransportiert wurde. Schließlich packt sie ein paar Gummibänder aus und beginnt, Zaubertricks zu zeigen.


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Ein polnisch-deutsches Performance-Projekt im EC "Wawel" von Krakau nach Berlin am 11. Juni 2011 vom Narodowy Stary Teatr Krakau und dem Maxim Gorki Theater Berlin

Künstlerische Leitung: Armin Petras, Idee und Projektkonzeption: Renata Kopyto, Konzeptionelle Mitarbeit und Texte: Michał Olszewski, Joanna Oparek, Regie: Iwona Jera, Mitarbeit: Karoline Bierner (Sorau), Szymon Wróblewski (Opeln, Breslau), Wojciech Nowicki, Stanisław Mancewicz (Kochshow), Armin Petras, Thomas Urban (Texte), Dr. Małgorzata Radkiewicz (Filmprogramm), Ausstattung: Natascha von Steiger, Video und Ton: Mareike Trillhaas, Musiker: Jakub Miarczyński, Michał Sarapata, Karol Jagieła, Gestaltung: Katja Strempel, Dramaturgie: Szymon Wróblewski, Produktionsleitung: Renata Kopyto, Katrin Müller.
Mit: Hilke Altefrohne, Iwona Bielska, Antonia Bill, Monika Jakowczuk, Cristin Koenig, Andreas Leupold, Wikor Loga-Skarczewsi, Marta Ojrzynka, Andreas Pietschmann, Andrzej Rozmus, Krzysztof Stawowa.

www.krakow-berlin-xprs.com
www.gorki.de
www.stary.pl

 

Die Filme benötigen den Flash-Player und Javascript sollte eingeschaltet sein. Alle Filme © Esther Slevogt

 

Offenlegungstatbestand: Die Kritikerin hat die Reise nach Krakau selbst bezahlt. Die Übernachtung wurde vom Veranstalter übernommen.

 

Eingerahmt war die Fahrt am 10. und 11. Juni 2011 durch jeweils eine Vorstellung von Milan Peschels Inszenierung des Ernst-Lubitsch-Stoffs Sein oder Nichtsein. Die bitterböse  Anti-Nazi-Kömödie setzte Peschel am Krakauer Stary Teatr mit polnischen und am Berliner Maxim Gorki Theater mit deutschen Schauspielern in Szene.

 

Kritikenrundschau

Einer "höchst ungewöhnlichen, denkwürdigen Zugfahrt durch die schlesische Gegenwarts- und Geschichtslandschaft" hat Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (14.6.2011) beigewohnt, einem "Lebenstheater, das passender und passend endloser kaum sein könnte". Von Station zu Station, von Waggon zu Waggon sei es immer neu darum gegangen, die rasenden, stolpernden, schleichenden Tonfälle zwischen Spiel und Nichtspiel zu ergründen. Dabei bildeten nicht die Teile den Reichtum, "sondern die Gegenlichter, die diese Teile gegenseitig aufeinander warfen. Banales verwandelte sich rückblickend in Sinnreiches, ambitioniertes Texttheater schallte hohl zurück." Auch dabei: "all die 'Inoffiziellen"', die eigentlich nur Reisenden. Und der Umstand, dass jedes angekündigte Spiel sofort von drei bis vier Kameras eingefangen wurde, die damit für alle anderen jede Sicht versperrten, nährte eher die Überzeugung, man wohne einem Filmdreh bei."

"Gut fünfzig auf alle Wagen verteilte Programmpunkte sind für die etwa zehnstündige Fahrt angekündigt, außerdem separate Performances und Installationen, die von lokalen Theatergruppen oder Heimatvereinen an den einzelnen Haltestationen etwa in Katowice, Opole oder Wroclaw, dem früheren Breslau, initiiert werden", berichtet Tobias Schwartz in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (14.6.2011). "Ob die Gorki-Schauspieler Hilke Altefrohne und der Wehrmachtsuniform tragende Andreas Leupold Petras' bewegenden Text 'Meine Großmutter ist neu oder warum ich Sümpfe mag' über die deutsch-polnischen Verwicklungen zur Nazizeit szenisch präsentieren, eine historisch kostümierte Theatergruppe aus Legnica mit Kalaschnikows bewaffnet den Zug überfällt und einigen Tumult, aber auch reichlich Wurst und Wodka stiftet, eine Trachtengruppe am Bahnsteig von Opole regionale Tänze darbietet, Stary-Schauspieler den Tanzkurs 'Polonaise im Sitzen' anbieten oder den Passagieren 'Verhalten im langsam fahrenden Zug' beibringen – es wird nicht langweilig und beiläufig spielen hier kulturelle Unterschiede bald keine Rolle mehr." So chaotisch das klinge, so phantastisch funktioniere das Ganze.

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