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Museale Verheerung

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 18. Juni 2011. Der alte König in seinem Leid ist bald ein nackter Mann. Noch vor der Pause reißt er sich die Kleider vom Leib, es kann gar nicht schnell genug gehen mit dem Ausziehen und man versteht das wirklich gut in diesem Moment. Seine Verzweiflung, seine Empörung, seine Verletztheit über den Undank der Töchter Goneril und Regan und die Ungerechtigkeit der Götter sind so elementar, dass etwas geschehen muss, und wenn er nun hastig alle Kleider ablegt und damit in einen Zustand bloßer Kreatürlichkeit flieht, ist dies Ausdruck seiner tiefen Bestürzung, zugleich aber auch ein symbolischer Akt zur Wiederherstellung seiner Würde. Im Grunde setzt sich Lear, der berühmteste König ohne Königreich, die Krone der Hilflosigkeit auf.

Nach der Pause bleibt er nackt – und doch verändert sich etwas an seinem Äußeren. Grashalme, die aussehen, als seien sie erst vor wenigen Minuten in einem Chemnitzer Park gemäht worden, kleben nun, vereinzelt durchsetzt von weißen Blütenblättern, wie eine zweite Körperbehaarung auf seiner Haut. Seine Erscheinung wirkt seltsam verfremdet. Wahrscheinlich hat er nur in einer Wiese geschlafen, die Wiese aber hat etwas aus ihm gemacht, was von Ferne an einen Faun erinnert. Die Natur, von der König Lear in einem Anflug philosophischer Launenhaftigkeit sagt, sie gehe über die Kunst, scheint sich seines Altmännerkörpers bemächtigt zu haben.

Maß und Zurückhaltung statt Theater der Grausamkeiten

Das Bild ist eindrücklich und von einer getragenen, traurigen Schönheit. Und wenn dann die Grashalme im Scheinwerferlicht aufstieben, als er in seiner Ausweglosigkeit wie angestochen nach links rennt, nach rechts, noch einen Haken schlägt, dem Wahnsinn, dessen Ankunft er fühlt, entkommen will, brennt sich das einem auch nachhaltig ins Gedächtnis.

Vielleicht liegt das an der schlichten Schärfe dieser Bilder. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Chemnitzer Schauspielchef Enrico Lübbe (Regie) mit Bildern geizt an diesem Abend. Sein vom Premierenpublikum warm aufgenommene Shakespeare-Inszenierung setzt ganz auf Reduktion und strenge Formen. Wo die Handlung ein Übermaß an tragischem Geschehen aufweist, reagiert Lübbe mit Maß und Zurückhaltung. Das Blut wird zwar auch hier in Kübeln auf die Bühne getragen, Theater der Grausamkeiten geht aber anders.

Naturereignis Weltliteratur

Bisweilen könnte man aber auch glauben, im Kosmos des großen William gebe es neuerdings ein gleichsam mohammedanisches Bilderverbot, das stellenweise ein bisschen durchbrochen und durchlöchert wird, um sogleich wieder bußfertig jeder rauschenden Bildgewalt zu entsagen. Der Gedanke, dass in das Dämmerlicht der schwarzen Bühne, auf der es nichts gibt als einen großen, leicht erhöhten Holzboden, so etwas wie eine grelle Videosequenz oder anderes fettes Bildmaterial einbrechen könnte, hat beinahe etwas Frevelhaftes.

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In seinem Minimalismus überschreibt und aktualisiert Lübbe nichts. Er will das Naturereignis eines (auf gut zweieinviertel Stunden eingedampften) Textes der Weltdramatik, umgibt ihn dazu mit einer hermetisch und entrückt wirkenden Leere, die alle Aufmerksamkeit auf die Darsteller lenkt. Sein "Lear" ist "klassisch" auf Einfühlung und Erschütterung getrimmt, und es ist die immer wieder erschütternde Geschichte über eine tragische Verblendung aus Liebe und die Verheerungen kalter Besitz- und Machtgier, die erzählt oder eigentlich mehr ausbuchstabiert wird.

Militärischer 90-Grad-Winkel

Wirklich erschütternd wirkt der Abend aber nicht, eher ein bisschen klein und museal. Womöglich haben die elementaren Kräfte in dieser Formstrenge zu wenig Raum, um zu wirken und zu wüten. Bezeichnend sind vielleicht die Bewegungen der Figuren auf der Bühne. Ihr Auftreten ist oft ein Vortreten an die Rampe, und beim Abtreten wird in gerader Linie nach hinten weggetreten, um dann entweder an der Bühnenwand stehen zu bleiben und das weitere Geschehen zu beobachten oder fast militärisch im 90-Grad-Winkel abzubiegen und seitlich zu verschwinden.

Vielleicht hat aber auch der Hauptdarsteller Bernd-Michael Baier, der sich sehr wacker und ehrenwert schlägt mit seiner nackten Majestät, nicht das Format für ein Regiekonzept, das sich letztlich ganz auf die Meisterschaft der Darsteller verlässt.

 

König Lear
von William Shakespeare
Deutsch von Werner Buhss
Regie: Enrico Lübbe, Bühne und Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Torsten Buß.
Mit: Bernd-Michael Baier, Dirk Lange, Tilo Krügel, Wenzel Banneyer, Constantin Lücke, Ulrike Euen, Daniela Keckeis, Caroline Junghanns, Urs Rechn, Michael Pempelforth, Guido Schikore, Karl-Sebastian Liebich, Bernhard Conrad.

www.theater-chemnitz.de

 


Kritikenrundschau

"Dieser szenische Minimalismus verlässt sich ganz zu Recht auf einen Text, der wirkungsstark genug ist, um die Schauplätze zu imaginieren", schreibt Joachim Lange in der Freien Presse (20.6.2011). Bei aller Reduktion und Distanz rücke der verbale Schlagabtausch in den Vordergrund: "Und dieser läuft mit der Präzision eines gut geölten Text-Uhrwerkes ab. In dieser etwas unterkühlten Mechanik schafft das oft mehr Distanz, als der ganzen Tragik gut tut. Da braucht es Darsteller, die Enrico Lübbes kühlen analytischen Blick auf das Stück aus dem Inneren der Figuren beglaubigen." Das gelinge aber nicht allen. Fazit: "Dieser 'Lear' profitiert von Lübbes Souveränität. Um restlos zu überzeugen, hätte er seinen Darstellern und Zuschauern aber ruhig noch etwas mehr Shakespeare zumuten können."

Enrico Lübbe richte diesen Shakespeare "unkonventionell, irdisch und stellenweise schockierend im Heute ein", befindet Ch. Hamann-Pönisch in der Chemnitzer Morgenpost (20.6.2011). Lübbe lasse "Könige, Herzöge, Grafen in Chemnitz-taugliche Alltagsklamotten stecken und auf der nackten Bühne eine nackte Bühne bau­en". Großartig sei das Ensemblespiel, durch das das Zwischenmenschliche als "Düster-Theater über die tödlichen Macken der Menschheit" entwickelt werde: "Man schlägt sich völkerweise und ganz in Familie die Schädel ein, drischt, mordet, hetzt und petzt. Man kennt sich nicht, man berührt sich nicht." Einen Einwand macht die Kritik gleichwohl: "Gibt's Theaterblut nur noch eimerweise?"

Kommentare  
König Lear, Chemnitz: mit nacktem Penis
Schon der Blick ins Programmheft lässt einen erahnen, was da in den nächsten 2 1/4 Stunden auf einen zukommt: auf Seite 6 ist Constantin Lücke splitterfasernackt mit entblößtem Geschlecht in Großaufnahme zu sehen. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis der Chemnitzer Neuzugang als Edgar seinen nackten Einstand gibt. Wie zu lesen war, war es Bernd-Michael Baiers Wunsch, den Lear zu spielen. Entsprechend souverän meistert er auch die Rolle. Ob es auch sein Wunsch war, sich bereits vor der Pause komplett auszuziehen und bis zum Schluss mit nacktem Penis vor dem Publikum zu spielen, bezweifle ich. Ich finde, man hat es ihm deutlich angemerkt, dass er sich nackt absolut unwohl fühlte. Das Gras, mit dem er am ganzen Körper nach der Pause auf die Bühne kam, und das ein wenig an starke Körperbehaarung erinnerte, bot dem ansonsten unbehaarten Schauspieler auch nicht viel Schutz. Wenigstens Kent, Gloster und Edmund beließen es dabei, nur ihren mehr (Wenzel Banneyer) oder weniger (Tilo Krügel, Dirk Lange) behaarten Oberkörper zu zeigen, dafür übergossen sie sich mit literweise Blut. Schade, denn gerade hier hätte ruhig etwas mehr Shakespear durchkommen können, insgesamt ist die Aufführung trotz Nacktheit brav und solide inszeniert.
König Lear, Chemnitz: Nackheit sinnvoll eingesetzt?
Danke fürs Aufwärmen einer unnötigen Diskussion! Wenn Sie schreiben "trotz Nacktheit brav" sagt das ja alles - warum denn "trotz"? Nacktheit ist doch längst ein Mittel unter vielen, die im Theater möglich sind - als Aufreger taugt sie lange nicht mehr. Die Frage ist nur, wird Nacktheit sinnvoll eingesetzt? Und das scheint mir bei "Lear" durchaus zu passen, so wies hier beschrieben ist. Spannender als das Fakt selbst wäre doch: Wie hat die Nacktheit auf sie gewirkt? Wie hat das Ihre Sicht auf diesen Lear als Figur geändert, gelenkt, geprägt? Alles andere ist ödes "Die sind ja alle nackt"-Geschreie, das nirgends hinführt ...
König Lear, Chemnitz: keine verklemmten Schlüpferchen
Die Nacktheit hat mich gar nicht gestört, im Gegenteil. Ich hätte es prüde und merkwürdig gefunden, wenn sie nicht - wie im Stück so oft benannt - auch gezeigt worden wäre. Wie oft sieht man Edgar/ Lear mit verklemmtem Schlüpferchen herumhüpfen... Und ich war dankbar, hier mal keinen unendlich laaaangen und verschrobelten LEAR-Abend gehabt zu haben. Anja
König Lear, Chemnitz: von Nacktheit nicht profitiert
Also dass in einem Programmheft ein nackter Schauspieler in aller Deutlichkeit abgebildet ist, ist für meine Begriffe schon ungewöhnlich. In der Lear-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus zieht sich Edgar auch nackt aus, trägt aber dann im weiteren Verlauf einen alten Schuh vor seinem Gemächt. Ich denke, das ist für den Schauspieler angenehmer, als die ganze Zeit komplett nackt auf der Bühne zu stehen, wobei Constantin Lücke das sehr professionell gemeistert hat. In Lübbes Nürnberger Pornographie-Inszenierung, wo er die Rolle des Bruders spielte, war er übrigens auch komplett nackt zu sehen. Seitdem ist er scheinbar sein Mann für die Nacktszenen... Wie Lear in seiner Nacktheit auf mich gewirkt hat? Wie Bernd-Michael Baier, der sich absolut unwohl fühlt in seiner Haut. Profitiert hat Lear für mein Empfinden davon nicht.
König Lear, Chemnitz: tolle Schauspieler, harte Szenen
Aufgrund Ihrer Besprechung haben wir gestern den Chemnitzer "König Lear" besucht. Und wir waren begeistert. Wir haben noch keinen "König Lear" in zwei Stunden gesehen. Und nichts vermisst. Es war auf dem Punkt. Tolle Schauspieler in Chemnitz! Und diese knappen, harten Szenen! Sehr prägnant! Toll! Danke!
S.& B. Sommerland
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