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Möwe, abgestürzt

von Christoph Fellmann

Zürich, 19. Juni 2011. Es klingt wie eine gute Idee. Die "Möwe" von Anton Tschechow und Husbands and Wives ("Ehemänner und Ehefrauen") von Woody Allen – zwei in schönsten Neurosen blühende Komödien in einem Theaterabend. Zwei Künstlermilieus, einmal in der russischen Provinz, einmal in Manhattan, zugange in zwei Liebesreigen: Bei Tschechow rundum im Unglück zehrend, bei Allen zementiert in langjährigen, sexuell ausgezehrten Ehen.

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In "Manhattan Möwe" am Theater Neumarkt wird die gute Idee vollstreckt zu einem Stück, das nun aber in nichts an die leichtfüßige Deprimiertheit erinnert, die man von Allen kennt, und für die auch Tschechow zu haben ist. Vielmehr denkt man, während man dem Treiben über drei Stunden lang ausgeliefert ist, an Audition, jenen Film von Takashi Miike aus dem Jahr 1999, in dem einem armen Menschen die Gliedmaßen langsam mittels einer Drahtschlinge abgetrennt werden. Es ist wahrhaftig grausam und hört auch überhaupt nicht mehr auf.

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© Philipp Ottendörfer
Faxenmacher, plötzlich innerlich

Das liegt nun nicht daran, dass die beiden Geschichten nicht zusammengingen. Da und dort sind die Übergänge von Allen zu Tschechow und von Tschechow zu Allen ganz schlüssig. Das Problem ist, dass Regisseur Milan Peschel und mit ihm sein Ensemble die Komödie keinen Moment lang ernst nehmen. Der Text wird skandiert oder geschrien, aber natürlich wird gleichzeitig auch mit wissender Ironie drübergewitzelt, dass es eine Art hat, aber keinen Sinn. So fällt höchstens die schiere Konsequenz auf, mit der hier gleich zwei Stoffe ausgehöhlt werden, bis sie sogar an ihrer Oberfläche einbrechen. Ja, es gelingt diesem Abend das Kunststück, mit den Geschichten zweier großer Erzähler aber auch wirklich gar nichts mehr zu erzählen, noch nicht einmal von der Suche des Theaters nach seiner Form, um die es bei Tschechow ja unter anderem geht. Denn dafür ist dieser Abend in seinen Mitteln viel zu routiniert.

Milan Peschel spielte von 1997 bis 2008 im Ensemble der Berliner Volksbühne. Seine "Manhattan Möwe" ist so gesehen vielleicht auch eine späte Selbstvergewisserung, die in ihrer hochtourigen Geschäftigkeit nahe bei Woody Allen ist, die gleichzeitig aber so abgestanden daherkommt wie die Theaterfossilien in der "Möwe". Das ist vielleicht die bitterste – da einzige – Pointe an diesem Abend im Neumarkt, und vielleicht wird darum die Inszenierung ob all ihrem Leerlauf zum Schluss doch noch melancholisch und das Ensemble plötzlich ganz innerlich. Das ist dann aber nach drei Stunden der Faxenmacherei die ultimative Zumutung: Dass von einem erwartet wird, den Schauspielern mit einem Mal zu glauben. Oder wie es im Text sehr klug heißt: "War's das? Kann ich jetzt gehen?"

 

Manhattan Möwe
nach Anton Tschechow und Woody Allen
Regie: Milan Peschel, Ausstattung: Moritz Müller, Videos: Jürg Hassler, Dramaturgie: Britta Kampert.
Mit: Katarina Romana Schröter, Malte Sundermann, Jürg Hassler, Magne Havard Brekke, Franziska Wulf, Thomas Müller, Jakob Leo Stark, Marie-Lou Sellem, Tabea Bettin.

www.theaterneumarkt.ch

 

Bisher inszenierte Milan Peschel, wenn er nicht selbst auf der Bühne stand, vor allem am Berliner Kinder- und Jugendtheater an der Parkaue, zum Beispiel Das doppelte Lottchen und Das Gespenst von Canterville, sowie am Maxim Gorki Theater Berlin, wo er Die Glasmenagerie und zuletzt Sein oder Nichtsein herausbrachte.

 

Kritikenrundschau

Roger Cahn schreibt auf der Webseite des Deutschlandradios (die schriftliche Fassung des Fazit-Beitrags vom 19.06.2011): Eine faszinierende Konzeption sei an ihrer "mangelhaften Umsetzung" gescheitert. Die "neurotischen Figuren" von Allen und die "an ihrer Langeweile und unrealisierbaren Sehnsüchten Leidenden" bei Tschechow hätten vieles gemeinsam: "Sie reden und reden, sie gehen sich auf die Nerven, sie erreichen meist das Gegenteil von dem, was sie anstreben." Peschel habe einen "ehrlichen Ansatz" entdeckt, wie ein "russischer Klassiker in eine Welt von hier und heute versetzt werden könnte". Die Übergänge der Neurotiker aus New York in die russischen Melancholiker seien fließend, manchmal mitten im Satz. Doch Peschel inszeniere "mehr Schreitherapie in einer psychiatrischen Klinik als Drama auf der Bühne". Die "Figuren rennen, singen, schreien; Zwischentöne haben Seltenheitswert". Je länger der Abend, desto uninteressanter werde er.

Woody Allen und Tschechow passen für Claudio Steiger von der Neuen Zürcher Zeitung (21.6.2011) durchaus ganz gut zusammen. Allerdings fragt er, "ob die Gemeinsamkeiten (zum Beispiel das alberne Unglück der Ehe) hier nicht von den Unterschieden ablenken", dass Tschechow nämlich "voller Tragik", Allen hingegen überaus heiter sei. In Peschels Inszenierung sei jedoch ohnehin "von den beiden Vorlagen nicht viel zu sehen, die Überblendung ist total, und es folgt ein unverständliches Drittes. Im Soap-Stil schreien die Schauspieler (...) sich kopfwegverursachend ihre Neurosen ins Gesicht". Im "Möwe"-Teil gefallen Steiger immerhin Malte Sundermann und Magne Havard Brekke. Ansonsten aber brenne in dieser "selbstgefälligen" Inszenierung "rein gar nichts". Was soll das sein, "Theater fürs neurotische Establishment"? Jedenfalls "belanglos".

Tschechow und Allen hätten ihre Karriere beide "als Witzeschreiber" begonnen und seien beide "Meister, wenn es darum geht, die Tücken der Kommunikation zu dramatisieren", beginnt auch Corina Freudiger im Tages-Anzeiger (21.6.2011) mit der Stoff-Wahl. Unter Peschels Regie werde alles "noch hysterischer", was "lustige Momente" mit sich bringe, "denn Peschel hat lustige Schauspieler engagiert", allen voran Thomas Müller und Marie-Lou Sellem ("Fürs dramatische Händeverwerfen kriegt sie einen Oscar"). Die "textlichen Abkürzungen" seien witzig, das Bühnenbild "gescheit" – "ein Setting, in dem die Neurosen Freilauf haben und der gesunde Menschenverstand draussen bleibt". "Niemand geht hier, alle rennen; niemand spricht, alle schreien dauernd. Das ist lustig. So zwanzig Minuten lang." Aber das alles hört einfach nicht mehr auf, so dass man rufen möchte: "'Ja, wir haben es verstanden, ihr macht Persiflage.'" Persiflage sei aber nur für den lustig, der die Vorlage kennt. Die anderen könnten bei nur "bruchstückhaft" erzählten Stoffen der Handlung kaum folgen. "Und wo die Geschichte fehlt, ist keine Spannung. Und wenn keine Spannung da ist, dann müsste halt die Form überzeugen, aber auch diese bleibt hier ohne Nachricht."

Den Sinn der Kopplung Allen + Tschechow kann die "Manhattan Möwe" für Tobias Gerosa von der Basler Zeitung (21.6.2011) auch in drei Stunden "nicht wirklich plausibel machen". Dabei scheint die Verbindung eigentlich klar: "Zwei Mal die Frage, ob und wie glückliche Liebe möglich ist". Peschel bleibe nicht nur den Beleg schuldig, dass Allen und Tschechow sich wirklich gleichen, sondern lasse auch "einen Rhythmus oder einen klaren Stil" vermissen: "Mal dröhnt ein Rocksong, dann dudelt Wohlfühlklassik (...); man spricht Regieanweisungen, ist etwas ironisch". Überdies seien die Schauspieler, bis auf wenige Momente im letzten Drittel, "konstant zu laut und unter Überdruck. Was anfänglich noch unterhält, ermüdet rasch." Am stärksten wirke der Abend, wenn er "einfach bei Tschechow" bleibe.

Kommentare  
Manhattan Möwe, Zürich: großartig, befreiend, durchdacht
Kaum gibt es am Theater Neumarkt endlich mal eine mutige, gradlinige und konsequente Inszenierung, verwerfen gleich alle die Hände. Ich fand den gestrigen Abend grossartig, befreiend, durchdacht, und nicht so beliebig und lauwarm wie das, was man sonst bisher am Neumarkt gesehen hat. Insbesondere Marie-Lou Sellem und Thomas Müller glänzen als Paar mit ihrem virtuosen, urkomischen Spiel.
Um es mit Worten aus dem Stück zu sagen: Der Abend hat mir ausserordentlich gut gefallen, obwohl ich nicht alles verstanden habe.
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