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Berlin all-inclusive

Text, Filme, Fotos von Matthias Weigel

Achtung: um die Filme anzuschauen, einfach kurz die Ladezeit abwarten.*

Berlin, 27. Juni 2011. Die Opfer dieser "Jihad-Entführung" sind eigentlich keine Opfer. Sie haben sich immerhin freiwillig angemeldet und hätten auch Neonazi-, Robin-Hood- und Mexikanerbanden-Stil wählen können. Dieses nette Angebot stammt vom Gießener Performance-Entführungstrupp Monster Truck und sorgt für ein wirklich unvergessliches Ferienerlebnis, von dem die Urlauber zu Hause erzählen können.

 

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Die "Toma Hawk Tours" der Gruppe "Monster Truck"*

 

Urlauber? Mit dem Festival "Berlin del Mar" haben die Sophiensæle mitten in Berlin ein Ferien-Resort ausgerufen, mit Instant-Strand und Palmen-Bar. Besucher des Performance-Festivals im Haus der Statistik am Alexanderplatz werden zu Urlaubsgästen und können im Liegestuhl ein Bierchen schlürfen, aufs Hotelzimmer gehen oder Sandburgen bauen. Zum Glück sorgt die marodierende Gruppe Monster Truck dafür, dass es nicht zu gefällig wird und lässt bei den Raubzügen auch mal einen gedeckten Plastiktisch kippen.

Risse in der Ressort-Idylle

Denn bei allen Annehmlichkeiten will sich "Berlin del Mar" nicht in einer reinen Wohlfühl-Insel erschöpfen. Man sucht den Riss im Perfekten, den Abgrund der übersättigten All-inclusive Wänste, die Unersättlichkeit der Öko-Ego-Touristen. So tauchen auch plötzlich besonders penetrante Urlauber auf, die kurz darauf ebenso schnell wieder verschwinden: Was auf Mallorca der Deutsche, ist in Berlin del Mar – der Yeti?

 

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Jared Gradingers Yetis in "Hell O'Holiday"*

 

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Diane Busuttil in "Why not have it all?". © Matthias Weigel

Von den Anstrengungen einer Luxus-Pauschalreise erzählt Tänzerin Diane Busuttil unter der Regie von Johannes Müller. Bei formalistischen Strand-Übungen lässt uns eine Touristin teilhaben, wie ein perfekt-langweiliger Urlaub logischerweise unzufrieden machen muss. Irgendwann wird sogar dem Zimmermädchen hinterher spioniert, weil man nie mitbekommt, wann sie putzt. Wie macht sie das, verdammt nochmal? Es ist die seltene menschliche (deutsche) Gabe, auch in den entspanntesten Lebenssituationen noch lauter Problemchen heraufzuwürgen, die dann in Windeseile zu überlebensgroßen Brocken werden.

Revolution? Verpasst!

Ein anderes Ferien-Phänomen erforschen die Performer von Turbo Pascal, die man in ihrem komplett eingerichteten Hotelzimmer besuchen kann. Sicher hat so mancher schon einmal von einem weltbewegenden Ereignis erst ein paar Tage später erfahren – beim Durchblättern der verpassten Zeitungen nach der Rückkehr aus dem Urlaub. Denn die Ressorts sind dicht wie Tupper-Schüsseln, da verpasst man schon mal die arabische Revolution vor der Haustüre oder die Öffnung der Berliner Mauer. In einer liebevoll-detailreichen Situationen-Collage wird die Genealogie des Hotelzimmer-Innenlebens im Schnelldurchlauf durchschritten, die sympathisch-unterspannten Performer zwinkern im Vorübergehen mit Medienmechanismen und zaubern eine WG-Atmosphäre, dass man am liebsten noch etwas länger mitwohnen möchte – nicht zuletzt dank des launigen Sounddesigns.

 

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"Innen drinnen", im Zimmer von Turbo Pascal*

 

Es ist das Risiko bei jedem Urlaub, und so auch bei "Berlin del Mar": Einmal gebucht, muss noch das Wetter mitspielen. An diesem Wochenende schien die Sonne nicht so, wie es sich das Ressort eigentlich verdient hätte. Am eigenen Leib erfuhr das ausgerechnet die leuchtend rote Galionsfigur der Rettungsschwimmer, der hilfloseste aller Burger-Esser: David Hasselhoff und sein Baywatch-Team in "Baywatch Ballermann Berlin", eine "Planet Porno"-Arbeit von Patrick Wengenroth um die tragische Figur des Schauspielers, Vaters, Alkoholikers, Helfers, Egomanen und Freedom-Lookers, die im Regen Premiere feierte.

Playboys im Regen

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Vivien Mahler, Patrick Wengenroth und Verena Unbehaun in "Baywatch Ballermann Berlin". © Matthias Weigel

Neben legendär-dämlichen Serien- und Autobiographie-Zitaten versickert die Show aber etwas in den abgelutschten Talkshow-Parodien. Abgewatscht werden all jene, die sich als große Helfer und Vorreiter lautstark aufspielen. An Hanna Poddig, Graf Unheilig und eben Hasselhoff wird deren Ironie gezeigt: Wenn man so viel darüber redet, dass man etwas tun muss, dann redet man eben doch wieder nur. Und natürlich lässt es sich Patrick Wengenroth nicht nehmen, noch den Hasselhoff-Burger zu mampfen.

Kälte und Regen trotzt auch ein bekannter Playboy, wobei seine leicht bekleideten Bunnys wohl mehr leiden, die "Lovefuckers". Sie wandeln unermüdlich als Begleiterinnen von Rolf (Eden) durchs Ressort und lassen ihn alles anflirten, was nicht bei drei auf den Palmen ist.

 

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Rolf und seine Bunnys Ivana Sajevic und Anna Menzel, die "Lovefuckers"*

 

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Das Helmi spielt die "Verlobung in Santo Domingo". © Matthias Weigel

Und um den Reigen der Berliner Puppen-Performance-Perlen zu komplettieren präsentieren auch Das Helmi ihr neuestes Trash-"Touristen-Grusical", ziemlich genau nach Kleists Novelle "Die Verlobung in Santo Domingo". Es geht um die Befreiung der "Neger" um 1800 auf Haiti, und so politisch unkorrekt der Text heute erscheint, so lustvoll unkorrekt schmeißen die Helmis die Geschichte auch auf die Bühne. Dabei haben sie soviel Material an skurrilen Puppen und naiven Musical-Songs angehäuft, dass man sich eine gehörige Portion Schlampigkeit, Improvisation und Quatsch leisten kann, ohne dass die Show auch nur in einem Moment abfällt. "Ich bin eine Mulatta und ich seh gut aus" findet Toni zu altbekannter Melodie, während sie keinen Weißen mehr töten möchte, da sie sich in einen Schweizer verliebt hat. "Haiti, écoute-moi", flötet sie, doch letztendlich hört ihr liebster Gustav nicht richtig zu, so dass die hollywoodreife Tragödie in Mord und Freitod endet – "Wir sind alle sehr ergriffen. Doch jetzt heißt es nach vorne schauen." Das sollte sich auch "Berlin del Mar" zu Herzen nehmen. Für das zweite Festivalwochenende ab kommenden Donnerstag ist immerhin angemessenes Wetter angesagt. 

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*Die Filme benötigen den Flash-Player und Javascript sollte eingeschaltet sein. Alle Filme © Matthias Weigel.

 

Berlin del Mar – Performancefestival
Eine Produktion von Sophiensæle
Künstlerische Leitung: Mark Thomann und Franziska Werner, Bühne/Ausstattung: Nyffeler, Philipp & Hetzer, Produktionsleitung: Tatjana Brode.
Mit: Gintersdorfer/Klaßen, Das Helmi, Monster Truck, Turbo Pascal, Patrick Wengenroth, Jared Gradinger, Maiden Monsters, Johannes Müller, Beatrice Fleischlin, Lovefuckers, Till Müller-Klug/Nina Tecklenburg, Pony Pedro und anderen.

www.berlin-del-mar.de
www.sophiensaele.com

 

Mehr Performance, mehr Festival? In jüngster Zeit besprochen wurden hier das Festival In Transit im Berliner Haus der Kulturen der Welt und die Wiener Festwochen 2011.

 

Kritikenrundschau

"Berlin del mar" tue erst gar nicht so, "als wäre es ein künstliches Paradies", schreibt Sandra Luzina (Tagesspiegel, 25.6.2011): "Attrappen statt Attraktionen." Der Location sei "ein gewisses Berlin-Flair nicht abzusprechen. Wenn man hier im Regen sitzt, den ruinösen Plattenbau betrachtet oder am Würstchengrill ansteht, bekommt man unweigerlich den Hauptstadt-Blues". Die Künstler stellten sich die Frage, "ob Berlin- Mitte inzwischen zum Ferienresort mutiert ist. Der Eröffnungsabend ist von kaum zu überbietender Tristesse. Zur Happy-Hour herrscht gähnende Langeweile." Auch für die Entführungen von Monster Truck gelte, "dass im Prospekt alles aufregender ist". Und Das Helmi nehme Kleists Text nur zum Vorwand, "um möglichst viele von ihren herrlich lumpigen, lausigen Puppen (...) über die Bühne tanzen zu lassen". Patrick Wengenroth habe in „Baywatch Ballermann Berlin“ den Bademeister-Darsteller David Hasselhoff auf den Plan gerufen. "Allerdings musste die Performance wegen Regens abgebrochen werden – was nicht schade war, weil die Darsteller offenkundig ihr Rettungsschwimmer-Praktikum geschwänzt haben."

"Wo's schimmelt, (...) da kommen in Berlin die Künstler", schreibt Dirk Pilz (Berliner Zeitung, 25.6.2011). Jetzt sind sie ins ehemalige Haus der Statistik gekommen, um ein "Feriendorf" einzurichten: "Sieht alles ziemlich runtergerockt aus, soll es auch. Denn Berlin del mar ist Kunscht, ein temporär eingerichtetes Open-Air-Festival für Performancesachen. Die dominierende Daseinsweise in diesem Ästhetik-Ressort ist entsprechend Ironie, Ironie und wieder Ironie." Lustig sei es "mit dem Theaterkollektiv Turbo Pascal im Einbetthotelzimmer". Und weil es kein Festival und kein Ferienressort gebe, "das nicht mit Eröffnungsreden bedacht wird", halten hier Dr. Angela Merkel und Klaus Wowereit ihre "gesampelten Pseudoreden". Passe bestens: "Alles ist hier pseudo, ist halbfiktiv, halbreal, halbernst." Berlin del mar sei "ein Hochfest der butterweichen Augenzwinkerironie". Herrlich respektlos sei die Inszenierung von Das Helmi. Alle Schubladen würden hier derart durcheinander geraten, "dass man meint, diese unsere Welt wäre doch änderbar. Das ist, statistisch gesehen, der Ausnahmefall an diesem neuen Performancestandort".

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