Adornos Trampolin

von Wolfgang Behrens

Berlin, 29. Juni 2011. "Geh außen herum, sagte der Krumme." Ja, zugegeben, das ist nicht aus der "Spanischen Fliege", es ist ein Zitat aus Ibsens "Peer Gynt". Vielleicht aber taugt der Satz dazu, den Weg von Herbert Fritsch zu charakterisieren. Denn als dieser vor ein paar Jahren nahezu unbemerkt die Berliner Volksbühne verließ, deren Profil er als Schauspieler über lange Zeit entscheidend mitgeprägt hatte, da war wohl niemandem klar, wohin die Reise gehen und ob sie je an die Volksbühne zurückführen würde.

Herbert Fritsch ging außen herum. Er mied die Metropolen und tingelte in neuer Funktion, als Komödienregisseur, durch die Provinz. In Halle, Oberhausen, Wiesbaden oder Schwerin trieb er eine Posse nach der anderen in den Zustand der Raserei, bis auch die Hauptstadt wieder auf ihn aufmerksam wurde: Zwei Einladungen zum diesjährigen Theatertreffen in Berlin waren die Folge. Doch erst gestern, als Fritsch zum geradezu hysterisierten Schlussapplaus seines neuesten Regiestreiches, der "Spanischen Fliege", von Schnüren gehalten wieder auf der Volksbühnen-Bühne einschwebte, stellte sich das Gefühl ein, das alles sei nur ein großer Umweg gewesen und Fritsch sei von Beginn an seinem angestammten Hause entgegengereist.

Mit Karacho vor die Wand

Am Ende also stand grenzenloser Jubel für den Heimkehrer. Dabei hatte der eigentlich nichts Anderes gemacht als in den Jahren zuvor in der Provinz auch: Er hat sich ein Stück hergenommen, das wohl den Scherz kennt, aber nicht die tiefere Bedeutung. Und das er nun zwei Stunden lang mit Karacho vor die Wand fahren lässt, bis nichts mehr übrig ist außer der nackten Komik. An der Volksbühne steht Fritsch für dieses jeden Sinn verabschiedende Beginnen immerhin ein Ensemble zur Verfügung, wie man es sich irrer nicht wünschen könnte – weshalb man den entfesselten Fritsch-Nonsens wahrscheinlich noch nirgendwo reiner erleben konnte als hier.

spanische fliege_thomas aurin2
"Die spanische Fliege". © Thomas Aurin

In dem 1913 uraufgeführten Schwank "Die spanische Fliege" von Franz Arnold und Ernst Bach hat Fritsch eine ideale Steilvorlage gefunden: Überaus honorige Bürger geraten hier genreüblich von einer grauenhaften Verlegenheit in die andere, weil sie stets die Situation verkennen und jedermann für jemanden halten, der er nicht ist – und weil all diese Hochanständigen mindestens eine Jugendsünde unter den Teppich gekehrt haben (in diesem Fall die Affäre mit einer spanischen Tänzerin, aus der vermeintlich ein Kind hervorgegangen ist, zu dessen Vaterschaft sich die Herren gleich reihenweise berufen bzw. gedrängt fühlen).

Wie Grobi aus der Sesamstraße

Eben dieser Teppich des bürgerlichen Salons aber – sozusagen der sozialkritische Minimalkern des Stücks – bildet, ins Gigantische vergrößert, das genial einfach ersonnene Bühnenbild der Inszenierung: Die riesigen Wellen, in denen der Teppich in der Tiefe der Bühne ausläuft, formen sich zur Berg- und Talbahn, die den Slapstick geradezu herausfordert. Zumal in einer Falte ein Trampolin verborgen ist, welches die Schwerkraft der Bühne gewissermaßen aufzuheben scheint.

Auf dieser Spielwiese also tollen, dotzen und hüpfen sie heran, die aberwitzigen Spieler des Abends. Wolfram Koch etwa, der den Mostrichfabrikanten Klinke gibt: Die ständige Angst vor der Entdeckung seines Fehltritts übersetzt Koch in so enervierende wie hochnotkomische Dauerbewegungen. Wie Grobi aus der Sesamstraße hechelt er auf und ab und hin und her, und sein bei Arnold und Bach bis zum Überdruss wiederholter Ausruf "Ich leg' mich lang" wird natürlich wörtlich genommen und – vom Trampolin noch beschleunigt – für virtuose Falletüden genutzt.

Slapstick-Fibel und Komik-Lexikon

Sophie Rois mimt seine sittenstrenge Gattin: In einem Traum von einem mostrichgelben Puffärmelkleid tippelt sie großartig wie ein auf Speed gesetzter Robert-Wilson-Scherenschnitt über den Teppich, während sie mit großem Aplomb Plattitüden krächzt. Würde es nicht jeden Rahmen sprengen, man müsste sie alle beschreiben: das begnadete Komiktalent Bastian Reiber als Heinrich, dem als vermeintlichem Bastard so übel mitgespielt wird; die als Alberich aus dem Münster-"Tatort" bekannte, kleingewachsene ChrisTine Urspruch, deren himmelhohe Marquise-de-Merteuil-Perücke einen enorm komischen Effekt macht, und und und …

Es ist eine Art Slapstick-Fibel, die Herbert Fritsch mit all diesen zum Furor des Chargierens befreiten Darstellern aufblättert, ein Lexikon der Komik: Da sind die Marx Brothers so präsent wie Laurel und Hardy, wie Chaplin, Harold Lloyd oder Buster Keaton. Und nicht zuletzt scheint sich Fritschs Ästhetik aus frühen Zeichentrickfilmen zu speisen. "Die Trickfilme waren einmal Exponenten der Phantasie gegen den Rationalismus", schrieb Adorno in der "Dialektik der Aufklärung" und begriff ihre Verfahrungsweisen als nur im Medium des Films mögliche Fortsetzung der slapstick comedy.

In einer wahnwitzigen Volte haben nun Herbert Fritsch und sein Trampolin die irrationale Phantasie der Trickfilme wieder zurück auf die Bühne gebracht: Als wären Tom und Jerry Fleisch geworden, so jagen, treten und prügeln sich auch Fritschs Figuren, und – noch einmal Adorno, gleiche Stelle – "unterm Hallo des Publikums wird die Hauptgestalt wie ein Lumpen herumgeschleudert". Das ist zum Totlachen. Nicht mehr und nicht weniger. Und wenn Fritsch ganz am Ende mit ansteckend guter Laune unter den Seinen steht und die Ovationen entgegennimmt, dann möchte man am liebsten eines: Mitspielen!

 

Die spanische Fliege
von Franz Arnold und Ernst Bach
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Licht: TorstenKönig, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Wolfram Koch, Sophie Rois, Mandy Rudski, Hans Schenker, Inka Löwendorf, Werner Eng, Christoph Letkowski, Harald Warmbrunn, Stefan Staudinger, ChrisTine Urspruch, Bastian Reiber, Betty Freudenberg.

www.volksbuehne-berlin.de

 
Diese Inszenierung wurde von den Lesern für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2012 ausgewählt.

Kritikenrundschau

"Bestes Boulevardtheater" heißt es in der Unterzeile von Irene Bazingers Rezension in der FAZ (1.7.2011). Fritsch halte sich im Vertrauen auf die bestens geölte Dramaturgie dieses Komödienklassikers eng an die Textvorlage und wenn die keine Pointe biete, werde einfach rasch eine erfunden. "Indem sie den groben Unfug des Stücks ernst nehmen, gelingen Herbert Fritsch und dem Ensemble eine mitreißend leichtfüßige Aufführung wie aus einem Guss, die so komisch wie absurd ist - und zum Lachen gut."

"Eins ist klar", beginnt Ulrich Seidlers Eloge in der Berliner Zeitung (1.7.2011), "mit Herbert Fritsch, dem einstigen Volksbühnen-Schauspieler, derzeitigen Volksbühnen-Regisseur und vielleicht ja sogar künftigen Volksbühnen-Retter, hat der Theaterbetrieb sein derzeit wirksamstes Wundermittel gefunden.". Noch triumphaler als beim Theatertreffen sei nun die Heimkunft an seine geliebt-gehasste Volksbühne geraten. Auf der Bühne sind "alle toll, aber Wolfram Koch ist hierin der Meister. Er macht den Gründgens, rennt gegen Scheinwerfer, brüllt in extra herbei geschaffte Mülleimer, hat was im Gesicht oder am Hacken zu kleben, stößt seine Verdutzungsaufschreie und Missfallensbekundungen mit prächtigen Koloraturen aus." Ein P.S. schickt Seidler seinem Text auch hinterher: "Der interpretatorische und hermeneutische Teil sowie Aussagen über die gesellschaftliche Relevanz dieses Theaterabends lassen wir für diesmal entfallen. Aber bitte, wenn die Sommerpause vorbei und das Zwerchfell halbwegs abtrainiert ist, machen wir genau an dieser Stelle weiter."

Eigentlich passiere nichts weiter, als dass jeder jeden so lange verwechselt, missversteht und unter den Teppich kehrt, bis der vermeintliche Sohn mindestens fünf Väter vorweisen kann und im honorigen Senffabrikanten-Haus völlig entfesselt um sich geschlagen, beleidigt und geslapstickt wird, bescheibt es Christine Wahl im Tagesspiegel (1.7.2011), die eine "komplett sinnfreie Angelegenheit" sah, die allerdings "handwerklich derart gut gemacht und perfekt getimed ist, dass man sich bereits bei der Lektüre totlacht: definitiv unter Niveau, aber mit immenser Lust." Der Großteil der Komik speise sich daraus, dass Fritsch ohne Scheu vor Brachialplattheiten den Text beim Wort nehme – und seine Akteure die Kunst der sinnfreien Klamotte zum Niederknien beherrschen.

Es sei die "Panik der sittenstrengen Lebenslügenbastler", die Fritsch "auf hysterische Höhen treibt", schreibt Anne Peter in der taz-Berlin (1.7.2011). Man müsse seine Volksbühnen-Heimkehr "einen Triumph nennen", lange sei in diesem Haus nicht mehr "so viel von Herzen gelacht und zwischenapplaudiert" worden. Momentweise sprenkele Fritsch "eine Prise Ernst in den Schabernack, wenn Hans Schenkers Reichstagsabgeordneter in Hitler-Sprech oder in ‚Allah’-Gebetsposen verfällt". Insgesamt dränge das Fritsch-Theater jedoch "gen pure Artistik, die den Diskurs mit Absicht verweigert". Fritsch übertünche dem "Boulevardkracher" mit noch mehr "Komödienschmiere", zeige dabei aber auch, "wie die brutale Bestie Mensch ausbricht, sobald die säuberlich gezimmerte Fassaden-Existenz oder Wunschtraumfantasie zusammenzubrechen droht".

"Der ganze Abend sieht aus wie ein Theaterpennäler-Streich, in dem die aschfahl wankenden (ihrerseits schon aus Stummfilmen wie 'Nosferatu' geklauten) Figuren einer durchschnittlichen Bob-Wilson-Inszenierung plötzlich unter Starkstrom gesetzt werden. Denn nach Herbert Fritschs Formel ist der Theaterfortschritt volle Clownspower plus Elektrifizierung", so Wolfgang Höbel in seiner Besprechung auf Spiegel online (30.6.2011). "Die spanische Fliege" erweise sich als genau der Komödienbrüller mit Kunstbeilage, auf den sehr viele Berliner Theaterfreunde lange, entbehrungsreiche Jahre gewartet haben.

Herbert Fritsch vollende mit seinem tollen Ensemble als Regisseur das, was er als Schauspieler in Castorf-Inszenierungen vor Jahren am selben Haus nur skizzieren konnte: Theater als puren Slapstick, so Eberhard Spreng in Fazit auf Deutschlandradio (29.6.2011). "Und weil er alle Register zieht und das ganze Repertoire des Genres beherrscht, ist das einen ganzen Theaterabend lang urkomisch. Bei der Premiere feierte das Publikum Herbert Fritschs Comeback an die Volksbühne."

Grandiose Szenerie, popkonzerthafte Begeisterung beim Schlußapplaus: nur Superlative vermeldet Michael Laages in der Sendung Kultur Heute vom Deutschlandfunk (30.6.2011). Das größte Verdienst von Herbert Fritsch sei jedoch,  dass er die Volksbühnenschauspieler wieder in Wallung bringt, "dass er mit und in ihnen allen eine Art Feuer entfacht, dass sonst nicht immer leuchtet in und an und mit ihnen."

Fritsch widme sich dem Schwank, "in dem die Pointen mit dem Holzhammer niederkrachen", "liebevoll und textgetreu", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.7.2011). Die Doppelmoral sei bei Arnold und Bach "kein Grund, sich aufzuregen, sondern eine Selbstverständlichkeit, immer geeignet, dem Affen Zucker zu geben". Besonders angetan ist Laudenbach vom Ganzkörpereinsatz Kochs; eine Entdeckung sei der junge Bastian Reiber. "Die sehr lässig und perfekt absolvierten Slapsticknummern werden gerne mal überdreht und überdehnt ins völlig sinnfreie Spiel." So setzt Fritsch statt auf eine "wohl kalkulierte Ökonomie der Pointen" lieber auf Verschwendung und Übertreibung. Der Plot ist "lediglich der Vorwand, um ausgiebig Quatsch zu machen – das aber bei allem Übermut in Formvollendung". Übertrieben ist das ganze Spiel (...): Zugleich stilisiert und sehr frei, halb alte Oper, halb Vaudeville und immer die Parodie darauf." Fazit: ein "tolles Antidepressivum und Gute-Laune-Knallbonbon".

mehr nachtkritiken