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Bombenstimmung

von Matthias Weigel

Potsdam, 30. Juni 2011. Eine richtige Gaudi da im Hans-Otto-Theater in Potsdam! Wirklich lustig, es ging um Familie, tjaha, da kann's ganz schön zugehen. Und einen echten Schauspiel- und Fernsehstar gab es zu sehen, Tina Engel! Und irgendwie gesellschaftskritisch war’s auch, na, was will man mehr.

Worüber man nicht alles lachen kann: Über den Selbstmord eines Familiengroßvaters, über die Tablettensucht der menschenverachtenden Witwe, über die Trennung eines langjährigen Ehepaares, über einen zurückgebliebenen und deshalb von der eigenen Mutter gemobbten Sohn, über die sexuelle Annäherung eines in die Familie gebrachten Verlobten an eine 14-Jährige, über die Liebe zwischen Cousin und Cousine, die noch nicht wissen, dass sie eigentlich Halbgeschwister sind. Das in etwa sind die Hauptkonflikte von Tracy Letts derzeitigem Erfolgs-Stück "Eine Familie", im Original "August: Osage County".

Mit der theatralen Axt vom Leibe gehalten

Es ist das untrügliche Gespür der Regisseurin Barbara Bürk für den Anflug von nachdenklichen Momenten, das einen die unangenehmen Themen befreit weglachen lässt. Denn droht die Gefahr des Tragischen, schlägt Bürk beherzt mit der theatralen Axt dazwischen und hält uns mit Slapstick, Überdeutlichkeiten, Zweideutigkeiten oder Schenkelklopfern alles Verstörende vom Leibe.

Und sie ist ja nicht alleine: Die Schauspieler Meike Finck (eine der Töchter der Witwe) und Andrea Thelemann (Schwester der Witwe) zum Beispiel stehen ihr wacker bei. Als herzhafte Komödiantenstadl-Knallerfiguren wissen sie mit jedem ihrer Auftritte den imaginären Karnevals-Tusch zu zünden, wie das so ist bei der eifrigen Ausführung eines irgendwo aufgeschnappten Klischees. Da kann selbst Melanie Straub nichts mehr anrichten, die partisanenartig ihre Rolle immer wieder kämpferisch ernst nimmt.

Schauspiel-Partisanen gegen das Reservebataillon

Wie sie als eine der drei Witwen-Töchter umherwirbelt, ihren Mann hass-liebt (der sie für eine Jüngere verlassen will), wie sie changiert zwischen hilflos aufgedrehtem Mutter-Drachen, selbstloser Menschenfreundin, stolzverletzter Ehefrau und ausgezehrter Kämpferin, das berührt – fast, gäbe es da nicht im letzten Moment das Reservebataillon des launigen Zwischen-Jingles, der fallbeilartig die Szenenausklänge massakriert und in gefällige Lustspielbedeutungslosigkeit plattwalzt. Und auch Tina Engel erfüllt zwar ihre Rolle als verachtenswerte, persönlichkeitsgestörte Raben-(Groß-)Mutter ohne Slapstick-Parodien, doch die finsteren Dimensionen ihres drogengesteuerten Verhaltens entfalten sich vergleichsweise höhepunkts- und überraschungslos.

Wichtig ist das Steckenbleiben

Keinesfalls sollte im Theater lachen verboten sein, noch ist Unterhaltung verwerflich. Keinesfalls muss das Theater als moralische Anstalt fungieren, noch ist die Verslapstickung ein generell abzulehnendes Mittel. Gerade Tragödien erreichen ja meist dann die größte Fallhöhe, wenn einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Wichtig ist dabei nur das Steckenbleiben.

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Aber wenn einer der lautesten Publikums-Lacher dann kommt, als die verletzende Mutter (Tina Engel) ihrer Tochter (Franziska Melzer) im trostlosen Finale eröffnet, dass die Tochter sich nicht – wie geglaubt – in ihren Cousin, sondern in ihren Halbbruder verliebt hat, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist eine Pollesch-artige Humoreske über die Ausweglosigkeit aus der Theatermittellüge und über Tracy Letts kapitalistisch überformte Erzählweisen im Gange, die dann aber in einer Pointe auf höherer Ebene kulminieren müsste. Oder aber es ist ein soziologisches Experiment darüber, was einem bei der Belustigung alles virtuos gewissenlos untergejubelt werden kann.

Eine Familie (August: Osage Country)
von Tracy Letts
Regie: Barbara Bürk Bühne und Kostüme: Anke Grot, Dramaturgie: Ute Scharfenberg.
Mit: Peter Pagel, Tina Engel, Melanie Straub, Jon-Kaare Koppe, Juliane Götz, Franziska Melzer, Meike Finck, Andrea Thelemann, Simon Brusis, Christoph Hohmann.

www.hansottotheater.de


Andere Inszenierungen von Letts' Eine Familie: Burkhard C. Kosminski inszenierte die Deutschsprachige Erstaufführung im Oktober 2008 in Mannheim, Elias Perrig inszenierte das Stück im November 2009 in Basel, Markus Dietz im selben Monat in Bochum, Alvis Hermanis' Österreichische Erstaufführung gab es im Oktober 2009 am Wiener Burgtheater.

 

Kritikenrundschau

"Intellektuellem Witz und scharfzüngigem Humor" bescheinigt Frank Dietschreit in der Märkischen Allgemeinen (3.7.2011) diesem Abend. Zum posititiven Gesamteindruck des Kritikers trägt neben einer Regie, "die auf Tempowechsel und spannungsgeladene Effekte setzt" und Schauspielern, "die zu einer großartigen Ensembleleistung zusammenfinden – und doch, jeder für sich, mit eigenen, unverwechselbaren Charakter-Darstellungen glänzen können" auch "eine klug gebaute, multifunktionale Bühne" bei, sowie "atmosphärisch aufgeladene Musikeinspielungen". Diesem "Krieg der Gefühle", dieser "Schlacht der bitteren Wahrheiten" zu folgen, sei oft schmerzlich, so Dietschreit. Aber doch auch ein unbedingter Gewinn, "weil jede Figur scharf konturiert ist, uns bewegt und berührt (...)."

"Wo es wehtun müsste, wird in Potsdam einfach durchgelacht," schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (2.7.2011). Denn Barbara Bürk fasse das Drama mit seinen "Fremdgeh-, Inzest- und Missbrauchs-Umwegen" mit distanzierten Fingern an und mache aus Letts' messerscharfen Pointen Schenkelklopfer. Anke Grots Bühne rücke das Haus der Familie Weston nah ans Publikum. "Doch Birk rückt die Geschichte gleich wieder weg: durch einen nervtötenden Country-Jingle, der die Szenen unterteilt. Und durch die Tendenz der Schauspieler, ihre Figuren eine Spur zu groß anzulegen." Das zwar in Einzelfällen etwas Großartiges für den Kritiker: "etwa wie Tina Engel in den Drogendelirien Violet Mund und Augen aufsperrt, als ginge ein Sturm durch sie". Besonders Melanie Straub als Tochter Barbara wird gehighlighted. "Was daneben aber an überdrehtem Ulknudel- und Plappertaschen-Personal die Bühne beherrscht, rückt die Geschichte eindeutig in die Soap-Ecke."

Kommentare  
Eine Familie, Potsdam: 15 Minuten phantastisch
Dem werten Herrn Weigel ist es wohl entgangen, dass bei dieser Inszenierung auch Elzemarieke de Vos mitgewirkt hat. Ihre Rolle als indianisches Hausmädchen war unübersehbar. In der Namensliste taucht sie jedenfalls nicht auf.
Die Inszenierung war phantastisch - wenn man sie auf die ersten 15 Minuten reduziert. Nach dem Tod des Trinkers Beverly (Peter Pagel) fiel das Ganze ab.
(Hinweis der Redaktion: Wir prüfens nochmal. Die Website des Theaters nennt de Vos zur Zeit auch nicht)
Eine Familie, Potsdam: permanent auf der Bühne
Liebe Nachtkritik,

im Kommentar oben steht "Eine Familie, Berlin". Jetzt machen Sie Potsdam schon zu einem Außenbezirk von Berlin. Wurde etwa Potsdam über Nacht annektiert?
Noch etwas zur Personalie de Vos. Das Hans Otto Theater hat auf seiner Website lediglich vergessen, den Namen in der Besetzungsliste aufzuführen.
Im Übrigen hatte Herr Weigel bei der Premiere Augen im Kopf. Außerdem wird er als Kritiker Pressematerial bekommen haben, zumindest ein Programmheft, wo Fotos mit de Vos abgebildet sind. Die abgedruckten Bilder entsprechen jener Person, die permanent auf der Bühne präsent war.

(Danke für den geografischen Hinweis.. Wurde korrigiert. Für die Redaktion grüsst: Esther Slevogt)
Eine Familie, Potsdam: böse Zwischentöne
na,lieber flohbär,sind sie nach 15 minuten dann abgehauen,untergetaucht oder eingeschlafen?eines von diesen drei dingen müssen sie ja ausgiebig getan haben,wenn sie meinen,daß der abend nach den ersten 15 minuten abfiel.dann bekam das bitterböse familienkarrussel ja erst fahrt.ein sehr sehenswerter abend mit einem mir sehr angenehmen ensemble,mit bösen zwischntönen in den abgründigen familienverhältnissen,einfach klasse.
Eine Familie, Potsdam: schlichtweg überzeichnet
Lieber Potsdamer, ich habe durchgehalten bis zum Schluss. Beeindruckend fand ich vor allem das Spiel von Peter Pagel, zunächst als versoffener Beverly und dann als Charlie Aiken. Aber aus dem Text hätte die Regie viel mehr herausholen können. Einige Figuren waren schlichtweg überzeichnet (die Rollen von Juliane Götz, Andrea Thelemann und Meike Fink) und viele interessante Passagen wurden einfach dem Humor geopfert. Die Streitereien des Ex-Paars Fordham gehörte noch zum Besten. Leider ging mit zunehmender Dauer die Spannung verloren. Nun, wenn man die Inszenierung in Relation zu anderen setzt, kommt sie gar nicht so schlecht weg. Ich war am Sonntag bei einem Gastspiel in Karlsruhe, bei dem von Kritikern hochgelobten Stück „Gespräche mit Astronauten“. Da sehnte ich mich sogar nach Potsdam zurück.
Eine Familie, Potsdam: großes Lob
Das Stück war großartig! Qualitativ haben wir Zuschauer uns wahrhaftig nicht beschweren können. Ein großes Ensemble, einige echte Highlights schauspielerischer Kunst, und eine ingesamt tiefsinnige Geschichte, versteckt vor einem dicken Mantel Humor. Ich habe es von Minute zu Minute mehr genossen: LOB.
Eine Familie, Potsdam: Tolle Inszenierung, tolle Tina Engel
bei der derniere am sonntag habe ich eine tolle inszenierung gesehen die - ja! - unterhalten hat und bei der einem sehr wohl das lachen im halse stecken blieb. ein tolles ensemble, eine tolle tina engel die unglaublich variabel röhrt, wimmert, fleht, voller kälte verletzt....
Eine Familie, Potsdam: beglückt und bedröppelt
@6 kann mich nummer 6 nur anschließen.ich war ebenfalls in der letzten aufführung von der FAMILIE und bin beglückt und bedröppelt zugleich aus dem theater gegangen.beglückt über eine so wunderbare ensembleleistung und diese rasant-amüsante und auch nachdenkliche inszenierung.welche abgründe sich da auftun hinter dem lachen,das war großartig.ein großes lob an die regie und die wunderbaren darsteller
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