altÜberraschende Leichenzuckungen

von Andreas Klaeui

Avignon, 11. Juli 2011. An Jan Karski scheiden sich die Geister. Nein: nicht an Jan Karski, an "Jan Karski". Dabei kann an der guten Absicht kein Zweifel bestehen. Wer Jan Karski, 1914 geboren, 2000 in den USA gestorben, aus Claude Lanzmanns Film "Shoah" kennt, wird ihn nicht mehr vergessen. Er tritt da als Zeitzeuge auf: Als junger polnischer Katholik schloß er sich der polnischen Résistance an. Karski war sein Deckname, er musste ihn bis ans Lebensende behalten, weil er so in die USA eingereist war. Ab 1942 wurde er zum Botschafter dessen, was niemand wissen wollte: der systematischen Ermordung der Juden. Widerstandskämpfer führten ihn durch das Ghetto von Warschau, schleusten ihn in das Vernichtungslager von Izbica Lubelska, er sollte der freien Welt berichten, was hier geschah.

The Man who tried to stop the Holocaust

Es interessierte die freie Welt nicht. Karski traf im Juli 1943 Franklin D. Roosevelt, er konnte nichts ausrichten. Er schrieb 1944 noch ein Buch, "Story Of a Secret State", es wurde viel gelesen, aber spät. Karski wurde "The Man who tried to stop the Holocaust". Der französische Autor Yannick Haenel (geboren 1967) hat vor einem Jahr ein Buch herausgebracht, "Jan Karski", der den Résistant wieder aufleben lässt – im Wortsinn. Der Roman besteht aus drei Teilen: einer sehr eindrücklichen, kommentierenden, analysierenden Nacherzählung des Film-Interviews mit Claude Lanzmann; einem Résumé von Karskis Buch; und einem fiktionalen dritten Kapitel, in dem Haenel in die Haut Karskis schlüpft und ihn reden lässt. Es ist diese Fantasie, an der sich die Geister scheiden. Bereits bei der Buchpublikation vor einem Jahr hat Claude Lanzmann sich sehr erregt; wie auch die Shoah-Spezialistin Anne Wieviorka, die Haenels "Ignoranz" gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen beklagte.

Die Problematik liegt jetzt im Theater nicht anders. Arthur Nauzyciel, einer der interessantesten Regisseure im französischen Gegenwartstheater, folgt dem Buch eins zu eins. Karskis Geschichte ist sein Anliegen; seine Familie, ursprünglich aus Polen, wurde deportiert; seine erste Theatertruppe trug statt eines Namens die Zahl 41751, die Lager-Nummer jenes Großvaters, der ihn zählen gelehrt hatte.

Was Fiktion transportiert

Im ersten Teil tritt Nauzyciel selbst auf, resümiert die Interviewszene aus "Shoah", nervös, durch jedes Husten abgelenkt, die Hände immer sicher in den Hosentaschen: es ist sehr berührend und szenisch dennoch schwierig. Im zweiten Teil kreisen Videobilder des polnischen Künstlers Miroslaw Balka über eine Karte des Warschauer Ghettos, im Off hört man die von einem leichten deutschen Akzent angeraute Stimme Marthe Kellers. Es ist, in der visuellen Abstraktion und gleichzeitigen sprachlichen Dringlichkeit, der stärkste Teil des Abends. Das dritte Kapitel spielt im naturalistisch nachgebauten Foyer einer Oper, der Schauspieler Laurent Poitrenaux ist Karski, wie Haenel ihn phantasiert, nüchtern, aber auch entrückt, eine große schauspielerische Leistung, ohne Zweifel, eine zweistündige Parforcetour, und mehrmals hört man aus dem Innern der Oper Szenenapplaus, wenn er eine Tirade beendet.

jankarski5fredericnauczyciel
"Jan Karski". © Frederic Nauczyciel

Karskis Auftritt bekommt etwas Problematisches in diesem Theater-Dekor. Möglicherweise sollte der Eindruck gespenstisch sein; mich hat er eher geniert. Ob man eine Figur wie Jan Karski fiktionalisieren soll, ist das eine (Lanzmann findet, auf gar keinen Fall); was die Fiktion transportiert, das andere, und in Haenels Fall bleibt sie nun so sehr auf einer stereotypen, psychologisch erwartbaren, ästhetisch teilweise pubertären Ebene, dass sie für mein Empfinden die beiden ersten Teile eher schwächt als ergänzt. Hinzu kommen brachial illustrierende Geräusche, ein vorbeifahrender Güterzug, eine dräuende Musik, und das doch sehr banale Ornament eines Tanzauftritts am Schluss.

Es hätte alles dessen nicht bedurft – manche Zuschauer gehen auch gar nicht darauf ein. Sondern hören die Geschichte von Jan Karski, diese verstörende Geschichte des Mannes, den niemand hören wollte. (Dass das naturalistische Dekor für viele wohl nahelegt, die Fiktion für wahr zu halten, ist ein weiteres Problem.) – Aber wie immer man sich dazu stellt: "Jan Karski" ist Theater von einer Dringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann.

Allerlei körperliche Virtuosität

Was in diesem Festival-Jahrgang bisher eher selten ist. Natürlich, es gibt die schauspielerischen Höhepunkte: Juliette Binoche knisternd als "Fräulein Julie" ("Mademoiselle Juliette" titelte "Libération", immer noch die Zeitung mit der gewitztesten Titel-Redaktion), Patrice Chéreaus Londoner Fosse-Inszenierung "I Am the Wind", die jetzt nach Frankreich kommt. Es gibt aber auch braves Métier wie Nikolai Erdmans "Selbstmörder" im Steinbruch von Boulbon: Patrick Pineau und seine Truppe geben dem Affen Zucker, sie lassen die Komödienmechanik abschnurren, da ist nichts gegen zu sagen, aber es geht auch nichts darüber hinaus; es bleibt bei komödiantischer Rampenfreude.

charmatzenfantchristopheraynauddelage
"Enfant". © Christophe Raynaud de Lage

Artiste associé in diesem Jahr ist Boris Charmatz, 1973 geborener Tänzer und Choreograph, er leitet das Centre chorégraphique national de Rennes in der Bretagne und hat sich vor einem Jahr bei der traditionellen Quatorze-juillet-Party dem Publikum mit einem ziemlich wilden Tänzchen vorgestellt. Ähnlich wild geht es jetzt zu in "Enfant", seiner Eröffnungspremiere im Papstpalast: Wie ein Kindertraum vom Theater fängt die Aufführung an, ein Kran hebt Tänzerkörper über die Bühne, Seile lösen sich und bringen Bewegungen in Gang. Das hat großen Zauber und ist gleichzeitig nicht ganz durchschaubar, wie ein Kind vielleicht Theater erlebt. Kinder kommen dann auch auf die Bühne, erst träumend, dann als Teil der Choreografie. Die Bühne füllt sich mit Körperbildern, man sieht Verknäuelungen, Auseinanderdriften, Zuneigung, es entwickelt sich auch Hektik, Aggressionen, man denkt an Kriminalität, vielleicht an Katastrophen, große Emotionen in großer Abstraktion: viel, viel. Es ist eine dynamische Entwicklung zu sehen, körperliche Virtuosität, dennoch bleibt auch Ratlosigkeit, es ist zu viel und doch zu wenig.

Hamlets grandioses Luftschloss

Und es gibt eine große Entdeckung: Vincent Macaigne, der sich unter dem Titel "Au moins j'aurai laissé un beau cadavre" (Wenigstens werde ich eine schöne Leiche sein) über Hamlet hermacht.

au_moins_christophe_raynaud_de_lage
"Au moins...". © Christophe Raynaud de Lage

Da bleibt kein Shakespeare-Wort auf dem anderen, die Bühne ist ein wildes Durcheinander ("Es sieht ja aus wie in deinem Zimmer!", sagt ein Schauspieler dann zum Regisseur), viel Schlamm, viel Wasser, viel "Merde!" (deutsch: Fuck) – und viel Wahrheit, viel Authentizität des Augenblicks, viel von Shakespeares ursprünglicher Energie. Und ein grandioses Luftschloss aus aufblasbaren Ballons, das Helsingör vorstellt, oder Paris, oder Washington. Klar, Macaigne schießt auch übers Ziel hinaus, er gefällt sich auch in der Rhetorik des jungen Rebellen, aber auch hier ist eine Dringlichkeit zu spüren, die einen nicht kalt lässt.

 

Jan Karski (Mon nom est une fiction)
nach dem Roman von Yannick Haenel
Regie und Textfassung: Arthur Nauzyciel, Bühne: Riccardo Hernandez, Choreographie: Damien Jalet, Musik: Christian Fennesz, Kostüme: José Lévy, Video: Miroslaw Balka.
Mit: Alexandra Gilbert, Arthur Nauzyciel, Laurent Poitrenaux und der Stimme von Marthe Keller.

Enfant
Choreographie: Boris Charmatz, Bühnenmaschinerie: Artefact, Alexandre Diaz, Frédéric Vannieuwenhuyse, Kostüme: Laure Fonvieille.
Mit: Eleanor Bauer, Nuno Bizarro, Matthieu Burner, Olga Dukhovnaya, Julien Gallée-Ferré, Lénio Kaklea, Maud Le Pladec, Thierry Micouin, Mani A. Mungai, am Dudelsack: Erwan Keravec.

Au moins j'aurai laissé un beau cadavre
Regie, Konzept, Textfassung: Vincent Macaigne, Bühne: Benjamin Hautin, Vincent Macaigne, Julien Peissel.
Mit: Samuel Achache, Laure Calamy, Jean-Charles Clichet, Julie Lesgages, Emmanuel Matte, Rodolphe Poulain, Pascal Rénéric, Sylvain Sounier.

www.festival-avignon.com




Kommentare  
Festival d'Avignon: zwei Fehler in drei Worten
Zitat: "Merde!" (deutsch: Fuck).
2 Fehler in 3 Worter, wunderbar! So weit ich weiss ist "Fuck" englisch und nicht deutsch (Fick). "Merde" heisst buchstäblich "Shit", sorry "Scheiße".
Festival d'Avignon: penetrant genau genommen
Ja, und wenn man's penetrant genau nimmt, würde man "Au moins j'aurai laissé un beau cadavre" wohl eher mit "Wenigstens werde ich eine schöne Leiche hinterlassen - oder besser noch - abgeben" übersetzen. Dagegen "Eine Leiche sein"? Na ja. Sein oder Nichtsein.
Festival d'Avignon: die Bedeutung im Kontext
Es ist mir nicht entgangen, verehrter «William Shakespeare», dass Fuck ursprünglich englisch ist und Merde wörtlich Scheiße heißt: Was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass «Merde!» hier gebraucht ist wie in einem vergleichbaren deutschsprachigen Kontext eben «Fuck». Die wörtliche Übersetzung ist nicht immer die treffende. Und wenn Sie es ganz genau nehmen, lieber «Lost», müsste es heißen «ein schöner Kadaver». Aber auch hier: «eine schöne Leiche» ist eben noch dazu was anderes. Was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist die Bedeutung im Kontext, nicht die wörtliche Übersetzung (die können Sie überall nachschlagen).
Festival d'Avignon: Spiel mit dem Abwesenden?
@ Andreas_Klaeui: Soweit ich weiss, bezieht sich "le cadavre" im Französischen - anders als im Deutschen - nicht nur auf tote Tiere ("Kadaver"), sondern auch auf tote Menschen ("Leiche"). Davon abgesehen, ging es mir eher um das Verb "sein". Kann man eine Leiche "sein"? Nein, aber das Theater kann auf die Anwesenheit des Abwesenden (der Tod) verweisen. Jeden Abend neu. Spielt Vincent Macaigne mit solchen selbstreflexiven Fragen des Theaterbetriebs?
Festival d'Avignon: die Authentizität des Augenblicks
@Lost: Natürlich haben Sie recht, man kann nicht eine Leiche „sein“ – ich habe aber den Verdacht, dass dieser Hamlet dennoch gern „wäre“, in dem Sinn, wie wir alle schon mal gedacht haben, wie erhebend es sein wird, wenn wir erst im Sarg liegen und alle um uns trauern und bedauern, wie gemein sie zu uns waren. Ich glaube, es geht in dieser Inszenierung mehr ums Leben und die Authentizität des Augenblicks als um den Tod.
Festival d'Avignon: kreisende Geier über einem
@ Andreas Klaeui: In die Richtung habe ich rein assoziativ übrigens auch zunächst gedacht. Um genau zu sein, dachte ich abstruserweise an Sarah Kanes Hippolytos, welcher bereits die Geier über sich kreisen sieht und selbst da noch in selbstverliebtem Sarkasmus sagen kann: "Geier. [...] Hätte es doch nur mehr Momente wie diesen gegeben." Putain, le salaud!
Kommentar schreiben