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Auf der Suche nach dem Mysterium Gegenwart

von Katrin Ullmann

Hamburg, 12. August 2011. Am Anfang steht die Trennung. Die Trennung von Angelina Jolie und Brad Pitt. Eine aktuelle Medienmeldung – sogar die seriöse "Times" hat sie gedruckt – gibt bekannt, dass sich das Schauspielerpaar bereits anwaltlich geeinigt und auch schon einen
Trennungsvertrag unterschrieben habe. Das Promi-Magazin "People" hingegen weist alle
Trennungsgerüchte zurück. Was ist dran an der Geschichte? Was ist wahr, was erfunden? Was ist Fiktion, was Realität? Und wie wirklich ist die Wirklichkeit überhaupt?

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Wo bitte geht's zur Wirklichkeit?
© Ellen Coenders

Subtil und absichtlich plump

Die Performancegruppe um die Spanierin Cuqui Jerez stellt all diese Fragen. Und stellt sie immer wieder. So hartnäckig wie unterhaltsam, so subtil wie absichtlich plump.

In ihrer jüngsten Arbeit "The Nowness Mystery" – koproduziert mit und uraufgeführt bei dem Hamburger Sommerfestival auf Kampnagel – spielen tatsächlich "Brangelina" zunächst auch die Hauptrolle. In Gestalt der wildlockigen Maria Jérez und der athletisch hageren Amalia Fernández trennen sich Brad und Angelina höchst einsilbig, um anschließend schweigend im Taxi zu sitzen, bis ein Song ihre Vergangenheit wiederbelebt und sie aus einem Plakat zum Film "Mr. & Mrs. Smith" klettern, bei dessen Dreharbeiten sie sich einst verliebt hatten. Ein paar Stühle sind das Taxi und das Jugendzimmer der Taxifahrertochter, in dem das Filmplakat hängt. Sind ein Motorrad, ein angesagtes Restaurant und die nächste Straßenecke.

Die puristische Bühne arbeitet – schön theatral – mit Behauptungen, und aktiviert die Fantasie der Zuschauer. Die kurzweiligen Rollenspiele sind schauspielerisch mehr als sparsam und gerade deshalb so charmant.

Schräges Darstellerduo, großartige Spielfantasie

Maria Jérez und Amalia Fernández – ein äußerst schräges Darstellerduo – spielen, nein sprechen alle Rollen. Hölzern, spröde und mit zugleich kindlich-verhaltener Spiellust reiten sie sich und die Zuschauer durch allerlei Rück- und Vorblenden, lassen Amy Winehouse auftreten und gleich dazu ihre personifizierte Fantasie. Sie lassen einen Dior-Schal zur Legende werden und einen Taxifahrer zum Fan von Martin Scorseses Film "Taxi Driver" – was sonst?

Ungefähr auf halber Strecke wird die ganze "Brangelina"-Nummer dann genullt, wird ein Bühne mit Bühnenbild, eine neue Spielebene aufgemacht. Auf dieser ereignet sich dann eine knappe Stunde lang eigentlich nichts und doch alles. Banalste Alltagsgegenstände werden nun Opfer der unermüdlichen, großartigen Spielfantasie von Cuqui Jerez und ihren Performerinnen. Mit größter Präzision, Ruhe und Sorgsamkeit werden Küchenrolle, Ficus, Stellwand oder Zeitungspapier im Bühnenraum verteilt, werden anschließend neu konnotiert und in slapstickartige Mini-Szenen integriert. Da ist die leere Wasserkaraffe ein Tramper auf dem Weg nach Houston, ist eine ausgekippte Streichholzschachtel der Regen, der den Balletttänzern (dargestellt von drei Perlenketten) ihren Open-Air-Auftritt verhagelt.

Reise durch Zeit und Raum

Diese schier endlosen und vermutlich überwiegend improvisierten Assoziationsketten stecken voller Heiterkeit und Überraschungen, lassen die ein oder andere existenzielle Frage aufblitzen und verlassen bei aller kindlicher Verspieltheit doch nie die professionelle Theaterebene – auch um diese regelmäßig zu durchbrechen.

Unterhaltsam und klug ist diese Reise durch die Zeit und Raum. Es ist eine Suche nach dem Mysterium Gegenwart, nach der "Nowness Mystery". Die Tatsache, dass die Gegenwart am Ende tatsächlich auftritt und aus der Zukunft kommt, ist vermutlich auf eine, von Cuqui Jerez beabsichtigte Reminiszens an Robert Zemeckis Film "Zurück in die Zukunft" zurückzuführen und eigentlich ein bisschen schade. Die illustre CD-Botschaft "the present" – Flugzeugmotoren, Bomben, Explosionen, Regen, Applaus, Vogelgezwitscher und Schiffstuten – dröhnt dem Publikum um die Ohren, dessen Augen zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer Schlafbrille abgedichtet sind.

Und Brad und Angelina? Bei Cuqui Jerez werden alle Trennungsgerüchte von Brad – also Amalia Fernàndez – persönlich dementiert.

Was die Wirklichkeit sagt, wird die Zukunft zeigen.

 

The Nowness Mystery
von Cuqui Jerez Konzept: Cuqui Jerez
In Kollaboration mit: Maria Jérez, Amalia Fernández und Gilles Gentner

www.kampnagel.de

 

Mehr von Cuqui Jerez? Die Performerin, 1973 geboren, studierte Tanz in Madrid und New York. Beim Festival Theaterformen war 2009 ihr Stück The Rehearsal zu sehen. Die 2008-Edition des Sommerfests auf Kampnagel zeigte The Real Fiction.

 

Kritikenrundschau

Das Stück "The Nowness Mystery" habe "die Lacher von Anfang an auf seiner Seite", schreibt Irmela Kästner in der Welt (15.8.2011). Cuqui Jerez stelle "das Theater als solches (…) auf den Prüfstand – in einer Versuchsanordnung um Raum und Zeit, die in Rollenspielen, Stellproben, Ahnungen und Rückblenden choreografisch inszeniert ist und die die Mittel der Bühne intelligent und lustvoll zerlegt". Faszinierend gelinge es den Darstellerinnen immer wieder, "einzig ihr Spiel in den Fokus zu rücken. Die Geschichten selbst mag man darüber getrost vergessen." Zwischenzeitlich wackele "die Stückkonstruktion etwas, fängt sich am Ende aber wieder und bestätigt Cuqui Jerez' originelles Talent."

Die Wirklichkeit sei für Cuqui Jerez "nur eine leere Formel, die dazu auffordert, sich ihrer mit Fantasie zu bemächtigen", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (15.8.2011). "The Nowness Mystery" wimmele es "von Behauptungen und schrägen Fortsetzungen, die stets im Unerwarteten enden." Die beiden Darstellerinnen stocherten "hinreißend spröde im Nebel dessen, was sie eigentlich verhandeln wollen." Dennoch wirke das Stück "bei seinem Anspruch, die Wirklichkeit zu überlisten, den Betrachter auf die Tücken der Selbstwahrnehmung zu stoßen, zu kurz gesprungen. Es gibt ein paar Leerstellen zu viel." Trotzdem habe man sich "zumindest intelligent amüsiert".

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