17. August 2011. Nicolas Stemann hat bei den Salzburger Festspielen Faust 1 & 2 inszeniert; es ist ein Faust-Marathon, acht kurze Stunden lang. Ich habe es so gesehen, dass Stemann hier die ganze vermaledeite Dialektik der Freiheit durchbuchstabiert. Faust, der Teufel, Gretchen, Kaiser, Helena: Allesamt ins Drama der Freiheit verwickelt. Die heikle Frage ist, wo Freiheit aufhört, wo sie anfängt, ob sie Grenzen, Kriterien, bedarf, wie sie sich zur Moral verhält und was sie mit den Menschen tut. Das ist, glaube ich, die große, grobe Linie des Abends.

Der Teufel steckt freilich auch hier im Detail. Im zweiten Akt des zweiten Teils, in dem das Papiergeld und also auch die Kredit- und Finanzwirtschaft erfunden wird, die uns heute vor lauter Weltkrisenprobleme stellt, lässt Stemann per Video Dollars verbrennen, zum Beispiel. Und er lässt einen Tänzer auftreten, dessen nackter Bauch ein schickes Deutsche-Bank-Zeichen schmückt.

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Das Böse wollen und das Gute schaffen? Szene aus "Faust 1 + 2" bei den Salzburger Festspielen.
© Arno Declair

Der Tänzer hat keine Sonderrolle. Er tut, streng nach dem Großen Katechismus der Postdramatik, gleichberechtigt mit: Alle und alles bewegen sich auf einer Bedeutungsebene.

Der Tänzer, also die Deutsche Bank, ist da, aber er bzw. sie sind auf keine Extra-Weise da.

Nun ist aber die Deutsche Bank und ihr Vorsitzender Josef A. in Sonderheit des deutschen Theatermacher- und häufig wohl auch Theaterzuschauermenschen liebster Feind, vielleicht der letzte wirkliche Bösewicht und als solcher für den Theatermenschen unbedingt erhaltenswert – wo kämen wir sonst hin, gäbe es keine Feinde und Freunde, kein gut und kein böse mehr. Wir kämen vollends durcheinander. Wir wären in einer Welt ohne solche, die Schuld haben und solche, die deren Untaten ausbaden. Leben wir in einer solchen Welt?

Oh ja, es gibt Schuldige, und es gibt Opfer. Es gibt durchaus Unterschiede zwischen denen und denen. Es sind nicht alle wie Josef A.

Wenn nun aber der Deutsche-Bank-Tänzer bei Stemann ist wie alle sind an diesem Abend, nämlich ein Verstrickter (ins Drama der Freiheit), wenn er also keine Schuldvertreterprojektionsfläche ist, weil es in dieser Inszenierung weder den Superschlauen (Faust) noch den Superschlimmen (Mephisto) noch das Superopfer (Gretchen) gibt, dann gibt es weder Verantwortliche noch Aussicht auf Änderung. Dann löst sich alles in schlimmster Gleichmacherei auf. Dann gibt es nichts zu hoffen, weil nichts zu tun.

Denkt man. Doch genau dieses Denken ist es, dem Stemann, auch gegen sich selbst gewendet, nicht mehr traut. Diese Inszenierung ist nicht nur der Höhe- und Abschlusspunkt jenes postdramatischen Theaters, das Stemann mit erfunden hat, ist nicht nur sein Grabstein und Hochaltar gleichermaßen, sondern auch Manifest. Ihr Credo: Wir wissen nur noch, dass wir nicht weiter wissen, trotz oder wegen aller Freiheit, trotz oder wegen solcher wie Josef A., trotz oder wegen eines Gesamtsystems, das jeden zum Teil des Ganzen macht.

So macht dieser Abend tabula rasa und lädt uns ein, alles, wirklich alles, zu überprüfen, was wir uns angewöhnt haben für richtig zu halten, sei es ein Denken in Schuld- oder Entschuldigungsbegriffen. Das Pathos dieses Abends ist von größtmöglicher Tragweite: Wir müssen von vorn anfangen. Sein Motto könnte ein Satz von Hans-Georg Gadamer sein: "Es ist möglich, dass der andere recht hat." Oder: Der Teufel steckt in der Ungewissheit.

(dip)