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König Kärcher reinigt Wien

von Michael Laages

Salzburg, 17. August 2011. Saubermann macht sauber. Gründlich, mit ganz viel Druck aus dem Wasserschlauch, fetzt er den Dreck aus vielen Jahrzehnten von den Wänden des goldenen Palastes, der ihn umgibt. In Schlieren suppt die dunkle Soße von ganz oben nach ganz unten, Wand für Wand. Auch alles, was menschlicher Müll sein muss in König Kärchers Augen, spült das Wasser weg; hinter all den Typen aus Halb- und Unterwelt jagt Saubermachers Wasserstrahl her, und wer sich nicht eilig rettet, wird weggeduscht.

Einem gilt besonderes Augenmerk – der ist günstigerweise nur mit Unterhose bekleidet und bekommt die volle Wucht des Wasserwerfers zu spüren: ein junger Mann, der gerade die eigene Freundin schwängerte, noch bevor über der Beziehung das ehestiftende Kreuz geschlagen werden konnte. Dieser Claudio wird so zum mit aller Staatsmacht und Wasserkraft verfolgten Gegenbild für den moralischen Herrn Angelo, der gerade die Macht übernommen hat in Wien.

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Franz Hartwig und Bernardo Arrias Porras.
© Arno Declair

Moraltester unter der Mönchskutte

"Maß für Maß", Shakespeares theatralischer Moraldisput, geschrieben vor 400 und ein paar Jahren, ist eines der szenisch komplikationsreichsten Stücke des Elisabethaners. Denn steiler Aufstieg und tiefer Fall des Moralapostels am (natürlich völlig fiktiven) Wiener Hof sind eingebunden in eine trickreich (und manchmal arg bemüht) gezimmerte Versuchsanordnung. Angelo wird ja nur Chef der Wiener Moralbehörde, weil Herzog Vincentio die Amtsgeschäfte auf Zeit an einen Stellvertreter übergibt. Der Herrscher sorgt sich, dass er gut eineinhalb Jahrzehnte lang womöglich zu lax regiert habe und Sitte und Anstand durch dieses eher gemütliche, nachsichtige Regiment Schaden genommen haben.

Dass Angelo das Zeug zum Saubermacher haben könnte, ist ihm durchaus bewusst; die ganze Geschichte ist ein Praxistest in Moral. Darum verkleidet sich der Herzog als Mönch und beobachtet unter der Kutte Angelos berserkerhaftes Treiben. Als unübersehbar wird, dass auch der Moralist anfällig für dunklere Triebe ist und finsteres Unrecht vom Zaun bricht, Vergewaltigung, Verrat und Mord inklusive, mischt der Mönch sich ein – und verstrickt alle in eine rasante Intrige, in der Schuld bekannt und streng gesühnt wird; auch ohne dass jemand Leib und Leben lassen müsste. Fast ein Happy End ist das.

Um Schweinskopf und Kragen

Wie alle Blicke auf "Maß für Maß" nimmt auch auch Thomas Ostermeier mit dem Ensemble der Berliner Schaubühne als Koproduktionspartner der Salzburger Festspiele den moralischen Diskurs ins Visier, den das Stück ausführlicher als alles andere führt. Auch Angelo, der finstre Engel, reflektiert ja glasklar die eigene Verführbarkeit, als die liebliche Novizin Isabella, fast im Nonnenstand, aber gerade so eben noch bereit, sich für den Bruder Claudio ins Zeug zu legen (und notfalls die eigene Unschuld zu opfern), ihm nah und immer näher rückt. Diese Begegnung legt alle Verwerfung bloß, die möglich ist unter moralischer Vermummung. Der monströse Stellvertreter an der Macht nimmt das Opfer an und würde den Bruder trotzdem köpfen lassen – wenn nicht im letzten Augenblick der echte Herrscher in der Kutte das Heft in die Hand nähme. Pikanterweise übrigens hat der sich dabei selbst verliebt in das hübsche Mädchen ganz in Nonnenweiß und nimmt sie schluss-happy-endlich zur Frau.

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Lars Eidinger und Franz Hartwig. © Arno Declair

Ostermeiers Fassung ist sprachlich mächtig modernistisch aufgemöbelt worden vom Berliner Hausdramatiker Marius von Mayenburg sowie von Dramaturg Peter Kleinert, einst Ko-Direktor der Berliner Theaterhochschule "Ernst Busch". Gesprochen wird im Wien von König Kärcher sehr heutig, und wer mag, darf sich davon ein wenig gestört fühlen. Problematischer ist die (neben dem Hauptwaschgang für Haus und Hof zu Beginn) zweite prägende Bild-Idee aus dem Phantasie-Fundus des Regisseurs: Unter den zu Beginn (als Zeichen von Verfall und schwerer Unordnung) am Boden liegenden Kronleuchter, dem – neben dem Wasserschlauch – einzigen wirklich wichtigen Requisit in Jan Pappelbaums bühnenfüllendem Goldkasten mit Gulli-Abfluss, wird später eine ordentlich gesägte (oder täuschend echt gebaute) Schweinehälfte gehängt, in der Claudios Gefängniswärter ein wenig herum metzeln darf. Später wird dem Objekt auch noch der Kopf abgesägt und dem liebeswirren Angelo als Haupt des toten Büßers Claudio untergejubelt.

Zum ansonsten gepflegten Diskurs-Niveau allerdings will Ostermeiers Schwein so recht nicht passen. Immer wieder fällt auf, wie sehr der Regisseur jenseits gedanklicher Klarheit auf Effekte setzt, die nicht viel mehr sind als das. Auch zu Beginn muss der Herzog ja mit einem imitierten Hubschrauber entschwinden. Und im Wiener Puff wird beträchtlich rumgemacht am männlichen Gemächt – in diesem Saustall räumt Herr Angelo vielleicht mit einigem Recht auf.

Gert Voss lässt Salzburg jubeln

Überzeugend geraten Chor-Gesang und Trompete-und-Gitarre-Musik von Nils Ostendorf. Problematisch bleibt (wie oft auch in Berlin) Ostermeiers Ensemblestruktur, denn das Gefälle im Personal ist beträchtlich. Aber das Stück hat ja auch nur drei wirklich schillernde Rollen – Jenny König ist eine noch im moralischen Furor zerbrechliche Isabella, Lars Eidinger müht sich redlich um den selbstquälerisch-grüblerischen Ton in Angelos Part, bevor die Figur jeden Halt verliert in rasender Gewalt.

Und dem Gast Gert Voss hat Schaubühnen-Chef Ostermeier alle Chancen belassen, um Herrscher und Mönch im Wechsel zu einer Ansammlung von (zuweilen ziemlich eitlen) Kabinettstückchen der Selbstdarstellung zu formen. Da jubelt Salzburg natürlich; wenn auch die Premiere gegen Ende ein wenig leidet unter einem ziemlich unpassenden Naht-Riss an der Hose des Stars. Wichtiger ist es, den Voss-Farben im Spiel des getarnten Herrschers zu folgen. Noch wichtiger wäre es gewesen, den Ego-Trip ein wenig zu bremsen, dem Voss mit der Zeit verfällt.

"Schwein gehabt!" raunt er im Endspurt dem nicht nur mit dem Schweineschädel getäuschten Täuscher Angelo zu. Das gilt nicht für den ganzen Abend.


Maß für Maß
von William Shakespeare
Deutsch von Marius von Mayenburg
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Nils Ostendorf, Musikalische Einstudierung: Timo Kreuser, Dramaturgie: Peter Kleinert, Licht: Urs Schönebaum.
Mit: Lars Eidinger, Franz Hartwig, Jenny König, Erhard Marggraf, Bernardo Arias Porras, Stefan Stern, Gert Voss; Musiker: Kim Efert, Carolina Riano Gomes, Nils Ostendorf.

www.salzburgerfestspiele.at
www.schaubuehne.de


Regisseur Thomas Ostermeier und sein Edelmime Lars Eidinger? Eigentlich ein Shakespeare-Dreamteam: etwa mit ihrer weit gereisten und gepriesenen Hamlet-Inszenierung. Das Ehrenmitglied des Wiener Burgtheaters Gert Voss sah nachtkritik.de zuletzt im Thomas-Bernhard-Stück Einfach kompliziert, unter der Leitung von Claus Peymann.

 

Kritikenrundschau

Seltsam "weggesperrt" von dieser unserer Welt wirke der Abend, "eingekapselt und seelenluftarm trotz Gert Voss, Lars Eidinger, aufgehängter Schweinehälften und klirrendem Kronleuchter", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau (19.8.2011). Gert Voss sei eine Freude: "Jedes Wort ist butterweich auf der Kante zwischen Ironie und Bitterernst platziert; keine Silbe, die den Schauspielermund nicht wirksicher verließe." Und Eidinger, auch schön, pendele seine Figur elegant zwischen Selbstsicherheitslust und Zweifelattacken aus. Das alles sei "gut und gefahrlos" anzuschauen. Zu sehen gebe es hierbei aber ein Theater, das so tue als ob "mit moralbeschwipstem Figurenvorführen" unsrer Gegenwart etwas abzuringen oder entgegenzusetzen sei, "als wüssten wir noch um die einfachen, geraden Aus- und Weiterwege. Als ließen sich Welt und Mensch im Groschenheftformat verstehen. Selig, die mit solcher Hoffnung ins Theater eilen."

"Schwein für Schwein, nicht Maß für Maß" ist Dirk Schümers Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übertitelt (19.8.2011). Die Schauspieler brillieren, aber Ostermeier habe sich leider für die Textvariante von Marius von Mayenburg entschieden, die Shakespeare ins "Neuschwachhochdeutsche" übersetze, so dass man sich bald nach Blankversen und Schlegel-Tieck sehne. "Und dieser Entbeinung des Dramas auf eine Fastfoodmahlzeit, dieser souveränen Entzauberung einer Handlung, die nur als mittelalterliches Märchen erträglich wäre, kann auch Ostermeiers routiniertes, karg möbliertes, cooles Regietheater nicht entgegensteuern."
Nur in einer Szene koche das alchimistische Brodeln in Shakespeares Hexenküche auf. Da macht Gert Voss, ein Mephisto in der Mönchskutte, dem todgeweihten, lebensgierigen Claudio das Sterben genüsslich schmackhaft, und "wir merken ganz kurz, dass dieses Marionettentheater gar nicht von Politik erzählt oder von Liebe. Sondern vom theatralischen Zappeln eines Hampelmanns, der keine Chance hat."

Christine Dössel, Süddeutsche Zeitung (19.8.2011), kann der Inszenierung einiges mehr abgewinnen. Die Schweinehälfte sei als Bild für Fleischlichkeit, Verkommenheit, Todesdrohung und den von Shakespeare geschilderten Saustall Wien nicht gerade subtil, "es setzt auf Deutlichkeit, Eingängigkeit und den schnellen Effekt, wie so manches in Ostermeiers stark komprimierter, umstandslos zielgenauer, auch inhaltlich auf den schnellen (Diskursstück-)Effekt zielender Inszenierung." Und das mit der "ausgesprochen modernen, anschaulichen, knackig direkten Neuübersetzung und Fassung von Marius von Mayenburg." Dem gewaltigen Gert Voss zuzusehen, in seiner ganzen künstlerischen Monstrosität und auch Eitelkeit, sei ein Schauspiel für sich. Die Rolle des Lucio werde für Stefan Stern zur Absahner-Rolle, und "wie Lars Eidinger als Angelo völlig ungeschönt Selbstanalyse betreibt und mit sich ringt, mit glasklarer Gedankenschärfe Fleisches- und Herzenslust, Status und Stellung reflektierend, ist von großer Tiefe und Intensität". Fazit: die Falltüren, die Shakespeare hier öffne, führen immer weiter hinab in das dunkle Labyrinth dieser Schreckenskomödie über Gnade und Grausamkeit.

Thomas Ostermeier habe eine Menge gestrichen, trotzdem das Wesentliche beibehalten: Das Menschenexperiment wird zur vertrackten poetischen Parabel, so Ulrich Weinzierl in der Welt (19.8.2011). Durchaus drastische Effekte der Inszenierung "erweisen sich als sinnvoll und in ihrer Metaphorik produktiv". Eine tragende Rolle spiele in dieser Produktion Nils Ostendorfs wie aus der elisabethanischen Epoche herübergewehte Musik, die Rhythmus und Atmosphäre erzeuge. Am wichtigsten sei jedoch das Trio der Hauptfiguren, und allen voran ist "Gert Voss als Vincentio schlichtweg grandios, derlei kann niemand sonst. Allerhöchste Verwandlungskunst wird ihm hier zu zweiten Natur, ein subtilster Komödiant, wie wir es in solcher Vollendung auch bei ihm noch nie genießen durften."

Ein zäher Abend, nicht ohne Gewinn und mit großem Ernst erzählt, so Margarete Affenzeller im Standard (19.8.2011). Lustig werde es nicht. Am feurigsten agiere Stefan Stern als opportunistischer Lucio, dem statt der "Bitte" gern die "Titte" über die Lippen kommt. "Das hat man von den vielen Beschränkungen!" Viele langgezogenen Mienen am Bühnenrand des Landestheaters. Dieses gruselige Intrigenspiel dekuvriere den Statthalter als moralisch völlig korrumpiert. "Lars Eidinger mimt Angelo als aalglatten Neotyrannen, in dessen Gehirnwindungen es leise zischt, auch wenn er nicht viel tut und sagt." Und eine wundersame, engagierte Performance, die die Doppelbödigkeit dieses Charakters vollends zur Geltung bringe, sehe man bei Gert Voss.

"Die argumentativen Dialogpassagen des Stückes wirken stark, doch einige inszenatorische Einfälle von Ostermeier überzeugen weniger", findet Hartmut Krug auf Deutschlandfunk Kultur vom Tage (18.8.2011). Dass zum Beispiel der hinter Gesichtsmaske und Körperschleier verborgene Claudio auch Angelos einstige Ehekandidatin Mariana spielt, sei doch recht verschwurbelt gedacht. "Wie auch der Einfall, eine Schweinehälfte an den Kronleuchter zu hängen, vor dem der Herzog dem Todeskandidaten Claudio ein philosophisches Traktat über Tod und Leben verabreicht." Die Härte des Geschehens verschwinde in Ostermeiers Inszenierung etwas unter der Buntheit seiner szenischen Einfälle, und die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Macht stehe hinter der Spiellust eines Herrschers und eines Schauspielers. Gert Voss dominiere in der zweiten Hälfte mit seiner schauspielerischen Souveränität und einer ironisch-eitlen, wunderbar komischen Darstellung, mit der er sich und seine Figur sowohl ausstellt als auch umspielt. Da steht Lars Eidinger nur noch verdruckst und bedröppelt lächelnd herum, ist nicht mehr Gegner noch Partner von Voss, sondern nur noch im doppelten Sinne sein Opfer.

Uwe Mattheiss belässt es in der tageszeitung (22.8.2011) bei ein paar knappen Bemerkungen: "Marius von Mayenburgs Fassung reimt 'Bitte' auf 'Titte' und erzählt die Fabel als papiernes Gedankenexperiment, ohne Gesellschaft, ohne Belang. Fleischlose Kost, auch wenn von Jan Pappelbaums Kronleuchter eine echte halbe Sau herabhängt. Nur Lars Eidingers Tugendeiferer ätzt bis in tiefere Hautschichten."

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