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"Die Revolution hat erst begonnen"

von Charles Linsmayer

Zürich, 29. August 2011. Vom Inhalt her sind die "Lessons in Revolting", die der Belgier Ruud Gielens und die Ägypterin Laila Soliman zusammen mit einer Reihe von Repräsentanten der Kairoer Theater- und Filmszene erarbeitet haben, der aktuellste Beitrag zum diesjährigen Zürcher Theaterspektakel. Die Performance ist nicht etwa nur eine Dokumentation jener Protestbewegung auf dem Kairoer Tahir-Platz, die am 11. Februar 2011 zum Rücktritt von Präsident Mubarak geführt hat. Sie versteht sich als Work in Progress und will auch nach der Kairoer Premiere vom 18. August während den Gastspielen in Zürich, Rotterdam, Düsseldorf und Amsterdam kontinuierlich protokollieren, welche Wege die ägyptische Revolution unter der Herrschaft des Militärrats weiter geht.

Vom Tahir-Platz in Kairo auf die Tanzbühne

Als eine Art Kolumne versteht Laila Soliman die Produktion, die Film, Tanz, Pantomime und Schauspiel miteinander verbindet und bei der in Zürich nur sechs von den acht ursprünglich vorgesehenen Mitwirkenden auf der Bühne stehen, weil zwei Schauspielern die Ausreise aus Ägypten nicht gestattet wurde. Was sehr gut zur Botschaft passt, die von der Truppe vermittelt wird und die letztlich darauf hinausläuft, dass die Revolution mit dem Rücktritt Mubaraks erst wirklich begonnen habe und der seither regierende Militärrat alles daran setze, den Aufruhr mittels Repression, Gewalt und Folter im Keim zu ersticken.

Formal funktioniert die Inszenierung ganz einfach: Auf einer Großleinwand werden Bilder und Filme von der Entwicklung des Aufstands auf dem Tahir-Platz gezeigt, auf der Bühne wird das Geschehen pantomimisch und tänzerisch begleitet, kommentiert und dramatisiert, in einzelnen Szenen werden die persönlichen Erfahrungen der Schauspieler mit dem Aufstand und mit der Reaktion des Regimes nacherzählt und nachgestellt, wobei vielfach auch die melodisch und rhythmisch sehr eingängige ägyptische Musik eine tragende Rolle spielt.

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Lessons in Revolting     © Theaterspektakel

Ein Pas-de-deux der Unterdrückten

Hoch dramatisch ist die längere einleitende Passage, als in der Videoprojektion nochmals die ersten achtzehn Tage auf dem Tahir-Platz ablaufen und die sechs Darsteller vorführen, wie sich die Ereignisse in ihr Körpergedächtnis eingebrannt haben. Die Wut, die Angst, die Panik werden dabei spürbar, auch wenn die Choreographie von einem eigentlichen Ballett weit entfernt ist und die Gefühle nicht in brillanten Tanzbewegungen ihren Ausdruck finden, sondern gerade darin, dass künstlerisch anspruchsvolle Darbietungen gar nicht mehr möglich sind. Schön auch ein Säbeltanz, der das aktuelle Geschehen mit uralten Riten und Gebräuchen in Beziehung setzt, während ein Paar in einer Art Pas-de-deux ein melancholisches Lied untermalt, das von den Leiden der Unterdrückung handelt und davon, dass Gott das ägyptische Volk schon vor langer Zeit im Stich gelassen haben muss.

Klagelieder und Anklagegesten

Bewegend auch der Monolog einer der Schauspielerinnen, die jene Opfer beklagt, die am 9. April bei einem Zusammenstoss der Demonstranten mit der Militärpolizei ums Leben gekommen sind. Als Höhepunkt aber muss der in einem monotonen Singsang vorgetragene Brief einer Mutter an ihren Sohn im Gefängnis gelten, eine Szene die insofern pantomimisch verstärkt wird, als die Sängerin während ihres Vortrags von den übrigen Beteiligten allmählich in eine Stellung gezwungen wird, bei welcher die vom Text ausgehende Beklemmung ganz direkt körperlich umgesetzt ist.

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Die Texte nehmen immer wieder auf die Ereignisse in den anderen arabischen Staaten Bezug und vermitteln nicht selten auch antiisraelische Reflexe. So wird mit Bezug auf Mubarak einmal skandiert: "Sprecht Hebräisch mit ihm, Arabisch versteht er nicht", und die allerletzte Szene, die in ein eigentliches Revolutionslied mündet, nimmt ihren Ausgang von einer Aktion vor der israelischen Botschaft, die mit den Exponenten der Repression in einen Zusammenhang gebracht wird.

Die Gefühlswelt der Revolution

Das Ensemble verfällt in einen immer intensiver werdenden rhythmisch stark akzentuierten Gesang, zu dem mit geballten Fäusten gestampft und wild getanzt wird, so dass am Ende nicht ein homogenes Schlussbild steht, sondern eine sich in der Erschöpfung auflösende Truppe, der das Einsetzen des Applauses wie eine Erlösung vorkommen muss.

Wut, Aggressivität, Anklage und Hilflosigkeit angesichts einer nach wie vor nicht absehbaren Entwicklung: das sind die Gefühle, die diese "Lessons in Revolting" vermitteln. Und wer würde es auf sich nehmen, diesen leidenschaftlichen Appell an das Gewissen und die Solidarität der Welt, der unmittelbar politisch und moralisch gemeint ist, mit formal-ästhetischen Maßstäben messen zu wollen?


Lessons in Revolting
Regie: Laila Soliman und Ruud Gielens, Choreographie: Karima Mansour
Mit: Aida El Kashef, Aly Khamees, Aly Sobhy, Karima Mansour, Maryamm, Omar Mostafa, Ruud Gielens, Salma Said.

www.theaterspektakel.ch


Kritikenrundschau

"Produktiv verunsichert" hat Claudio Steiger von der Neuen Zürcher Zeitung (31.8.2011) diesen Theaterabend verlassen. Die Handlung der Aufführung sei "im Fluss wie die politische Lage", ausgelöst durch eine "genial ehrliche Fragestellung: 'Wie kann man eine Revolution vermitteln, die man eigentlich nicht versteht?'" Es gelinge dem Regieduo Soliman & Gielens, "die Unhaltbarkeit auch der aktuellen Situation in Ägypten klar vor Augen zu führen". Mit dem Lob der politischen Relevanz verbindet der Kritiker gleichwohl eine Einschränkung: "Ein künstlerisches Urteil fällt schwer: zu gross sind die politischen Umwälzungen, zu irrelevant wirken vor diesem Hintergrund Erwägungen der Bühnenvorgänge. Dramatisch vielleicht nicht unmittelbar begeisternd, ist 'Lessons in Revolting' ein beeindruckendes, wichtiges Stück."

Mit seinem Medien- und Stilmix komme "Lessons in Revolting" so heterogen daher wie das führerlose Aufstands-Patchwork der ägyptischen Revolution, schreibt Hans-Christoph Zimmermann in der tageszeitung (6.9.2011): "Beglaubigt wird der Abend durch die emotionale Wucht, für die die Performer persönlich einstehen. Das Ende ist dann Agitprop: Ein Revolutionssong zu Geräuschsounds und eine bis zur Erschöpfung durchexerzierte Choreografie der Arme: Es geht ums Durchhalten."

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