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Treibsand der Aufmerksamkeit

von Petra Kohse

Zürich, 2. September 2011. Letzte Woche, am 24. August 2011, wäre der Theaterkritiker Friedrich Luft 100 Jahre alt geworden. Am Berliner Funkhaus des Deutschlandradios, das früher den RIAS beherbergte, den Rundfunk im amerikanischen Sektor, wurde eine Gedenktafel enthüllt. Fast 45 Jahre lang, von Februar 1946 bis Dezember 1990, hatte Luft dort in einer allsonntäglichen Sendung seine "Stimme der Kritik" – so der Titel – erhoben und die Berliner Theater-, manchmal auch Film- und politischen Ereignisse der Woche resümiert.

Er veröffentlichte auch in Zeitungen, aber seine Pionierleistung, für die er mehr als 20 Jahre nach seinem Tod noch unvergessen ist, war es, den Rundfunk, der unter den Nazis das Propagandamedium Nummer eins gewesen war, mit seiner straßentauglichen Theaterplauderei als ziviles Medium der kulturellen Verständigung neu zu definieren.

Theater war für ihn – nach der Erfahrung der Nazizeit, die er dank finanzieller Unabhängigkeit ohne weitere Verstrickung überstehen konnte – Theater war für ihn ein demokratisches Forum. Was von hier aus in die Öffentlichkeit drang, sollte das Individuum und die Meinungsfreiheit achten und das Leben lieben, dann war er, wenn er es gut gemacht fand, dafür. Hierüber zu wachen, war seine Lebensaufgabe, war sein Projekt.

Rund um den 100. Geburtstag wurde mehrfach geäußert, dass es einen wie ihn nicht mehr gäbe, und das ist wahr. Friedrich Luft war von Beruf Theaterkritiker. Kein Redakteur mit etlichen Nebenaufgaben, sondern ausschließlich Kritiker. Er konnte sich von morgens bis abends um das eigene Schreiben über Theater kümmern und begleitete das Westberliner Publikum sowie die theaterinteressierten heimlichen RIAS-Hörer der DDR die gesamte Nachkriegszeit hindurch.

Als Lebensprojekt tauglich?

Eine solche Biografie ist heute nicht mehr denkbar. Nicht nur, weil es diese Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr gibt, sondern auch weil Theaterkritik als Lebensprojekt nicht mehr taugt. Ästhetisch wie thematisch wird im Theater heute zuweilen Gesellschaft abgebildet, aber dass die Gesellschaft von der Theaterbühne aus beeinflusst werden könnte, dass hier – und nur hier! – Belange von allgemeinem Interesse ausagiert würden, erwartet man nicht mehr. Diese Erwartung aber ist für Theaterkritik in ihrer bisherigen Form konstitutiv. Denn als publizistisches Genre ist die Theaterkritik ein Kind der Aufklärung.

Gotthold Ephraim Lessing war der erste, der ab dem Jahr 1767 in seiner halbwöchentlich erscheinenden Hamburgischen Dramaturgie den Versuch einer regelmäßigen, öffentlichen Auseinandersetzung mit Aufführungen und ihren textlichen Grundlagen unternahm. Dramenkritik als Unterform der Literaturkritik gab es schon zuvor, Theaternachrichten auch. Lessing führte beides systematisch zusammen. Als Dramaturg des Hamburger Nationaltheater-Unternehmens, einem der wenigen stehenden Theater in dieser noch von Wandertruppen dominierten Zeit, versuchte er, die Geschmacksbildung des Publikums ebenso wie die Bühnenkunst zu befördern, indem er sowohl die gespielten Stücke als auch die schauspielerischen Leistungen bewertete. Letzteres nahmen ihm die Schauspieler des Unternehmens bald übel, und nach dem 25. Stück musste der Dichter und Theaterangestellte die aufführungskritischen Passagen seiner Kommentare unterlassen.

Auftrag zur kontinuierlichen Beobachtung

Eine freie Theaterkritik, lehrt dieses Gründungsbeispiel, ist nur unabhängig von den Interessen des Theaters denkbar. Und – These! – mit einem breiten Lesepublikum, das dem Kritiker Autorität verleiht. Soll der Dialog zwischen Kritik und Bühne auf Augenhöhe stattfinden, muss der Auftrag, in dem sich der Kritiker an das Theater wendet, ein öffentlicher sein.

Zu Lessings Zeiten war die Reflexion von Theatervorgängen die Domäne der Gelehrten. Als im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer mehr feste Theaterhäuser entstanden und sich die Gelegenheit einer kontinuierlichen Beobachtung bot, nahmen die Theaterpublikationen zu. Aber erst die gesellschaftlichen Umwälzungen nach der französischen Revolution brachten jenes allgemeine kulturelle Interesse hervor, das das Theater auch für die wirklich breite, nämlich die Zeitungsberichterstattung zu einem lohnenden Gegenstand machte.

Die in Berlin erscheinende Spenersche Zeitung war 1802 die erste, die in ihrem Feuilleton einen ständigen Theaterartikel einführte. Als Autor wurde einige Jahre lang der Schriftsteller Garlieb Merkel beschäftigt, ein Vordenker der lettischen Nationalbewegung, der sich explizit als Vertreter des Publikums verstand. Andere Blätter folgten und gewannen ebenfalls Schriftsteller und Intellektuelle, die sich für die Theaterberichterstattung interessierten, weil die Bühne und das Feuilleton zu der Zeit die einzigen von der Zensur halbwegs verschonten öffentlichen Foren waren. Auch der politische Publizist Ludwig Börne eröffnete seine 1818 gegründete Frankfurter Waage mit Theaterkritiken, da er "im Schauspiele das Spiegelbild des Lebens" sah.

Erfindung der subjektiven Autorenposition

In den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts traten Ludwig Tieck in Dresden und Heinrich Laube in Breslau und Leipzig als Schreiberpersönlichkeiten hervor, ersterer teils noch mit dem aufklärerischen Anspruch, Geschmacksbildung zu betreiben und das deutschsprachige Drama voranzubringen, teils mit der romantischen Kapitulation vor dem Kunstwerk und seinen jeweils eigenen Gesetzen. In der Romantik nahm der Kritiker als nachfühlender, nachschaffender Schreiber seine eigene, subjektive Autorenposition ein.

Laube war in Breslau noch stark von Tieck beeinflusst, politisierte sich aber in Leipzig und reflektierte das Theatergeschehen ab 1834 in der Zeitung für die elegante Welt unter der klaren – und nun deutlich an Börne geschulten – Vorgabe, dass die Bühne der politischen Entwicklung des Volkes zu dienen habe und sich alles Tradierte, auch die Klassiker, für die Gegenwart zu bewähren hätten.

Aber Theater war seinerzeit nicht nur der Fetisch von Schulmeistern, Schwärmern und Jungdeutschen. Theater war auch und vor allem Unterhaltung. Der romantische Personenkult blühte und zog jene Schreiber an, die ihre Subjektivität mit Klatsch und Spott auslebten. Moritz Gottlieb Saphir hatte sich bereits in der Wiener Theaterwelt sehr unbeliebt gemacht, als er nach Berlin kam und dort ab 1827 den Berliner Courier herausgab, ein mehrfach wöchentlich erscheinendes Morgenblatt für Theater, Mode, Eleganz, Stadtleben und Localität, das er – ein früher Blogger! – fast im Alleingang füllte. Unter anderem mit der von ihm erfundenen Nachtkritik, einem theaterkritischen Schnellschuss, der schon am Morgen nach der Premiere in der Zeitung stand und mit dem er die nach theatralen Neuigkeiten gierende Leserschaft schneller bedienen konnte als die Konkurrenz.

Telegrammstil zur Umgehung der Zensur

Wobei die Nachtkritik höchstens einen Absatz lang war und sich im Telegrammstil damit beschäftigte, ob die Kulisse gewackelt hatte oder der Boden mal wieder gefegt werden müsste. Für alles Inhaltliche ließ auch Saphir sich mehr Zeit. Gleichwohl umging er mit der Nachtkritik ganz offensiv die Vorzensur, was der preußische König Friedrich Wilhelm III. wohl deswegen duldete, weil er selbst zu den Lesern des Berliner Couriers gehört haben soll. Als Saphir dann aber zwei Jahre später die allgemeine Pressefreiheit in Preußen forderte, wurde er auch dieses Landes verwiesen.

Bis 1848, als die Pressezensur in Deutschland in Folge der Märzrevolution aufgehoben wurde, blieben Theater und Feuilleton Druckventile für politische Haltungen. Danach entfernte sich das Feuilleton vom Parteienstreit, die Theaterkritik fiel zunächst wieder den Gelehrten zu, und die gesellschaftlich engagierten Schreiber wechselten ihr Thema oder taten sich anderweitig um. Heinrich Laube etwa wurde Burgtheaterdirektor in Wien.

Profilbildung via Theaterberichterstattung

Zur Bismarckzeit entwickelten sich die Zeitungen zu Massenmedien und standen in harter ökonomischer Konkurrenz, weswegen an der Praxis der Nachtkritik festgehalten wurde. Selbst Theodor Fontane in der Vossischen Zeitung musste sein Urteil zu seinem Leid sofort nach Vorstellungsende zusammenfassen. "Alles bleibt unvollkommen", klagte er darüber, hatte in der Vossischen Zeitung aber – anders als heutige Nachtkritiker – Gelegenheit, oft noch eine lange Besprechung hinterherzuschicken, teilweise sogar als Fortsetzungskritik in zwei aufeinanderfolgenden Nummern der Zeitung. Fontane, dessen leichter und wie persönlich adressierter Stil das Rollenmodell für die Plauderei von Friedrich Luft abgegeben hatte, war am Ende seines Schaffens als Theaterkritiker noch mit einer neuen dramatischen Richtung konfrontiert, mit dem Naturalismus, den er sowohl ästhetisch als auch weltanschaulich sehr ernst nahm, obwohl er ihn nicht rückhaltlos begrüßte.

Jüngere Kollegen hingegen neigten zu eineindeutigen Stellungnahmen. Die Stücke von Ibsen und mehr noch die von Hauptmann polarisierten in ihren gesellschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Setzungen, und die Polarisierung, also das Dafür- oder Dagegensein, prägte die Nach-Fontanesche Kritikszene um die Jahrhundertwende überhaupt und vervielfachte sich in den Jahren der Weimarer Republik zu Pressefehden legendären Ausmaßes. Was das Potential öffentlicher Erregung anging, rangierte das Theater seinerzeit ganz oben, und dies nicht zuletzt deswegen, weil die Hunderte von Zeitungen, die inzwischen erschienen und zum Teil sogar mehrfach täglich, eine solche Erregung im öffentlichen Raum brauchten. In der Tat profilierten sich nicht nur die Feuilletons, sondern die Zeitungen überhaupt mit ihrer Theaterberichterstattung, und wenn ein Kritiker die Mannschaft wechselte, wie Alfred Kerr, der 1919 vom Tag zum Berliner Tageblatt ging, war das ein Politikum.

Nivellierung der Diversität

Theaterkritik differenzierte sich damals im gleichen Maße wie die Theaterkunst selbst und radikalisierte ihre eigenen Ästhetiken, am extremsten im künstlerischen Selbstentwurf Alfred Kerrs als Kritiken-Dichter, der für seine Urteile keine Begründungen mehr zu brauchen meinte. Siegfried Jacobsohn, Alfred Kerr oder Herbert Ihering waren in ihrem Schreibstil, Kunst- und Kritikverständnis ebenso unterschiedlich wie die ästhetischen und weltanschaulichen Strömungen jener Zeit, für die sie sich einsetzten oder die sie bekämpften: Jacobsohn etwa für Max Reinhardt, Alfred Kerr für Otto Brahm und den Naturalismus und Herbert Ihering für Bertolt Brecht. Wobei es neben den Großkritikern noch etliche andere prononcierte Schreiber gab (alles Männer übrigens): Paul Schlenther, Arthur Eloesser, Emil Faktor, Paul Fechter, Monty Jacobs.

Die theaterpublizistische Diversität der Weimarer Republik zu nivellieren, war eines der Hauptprojekte von Joseph Goebbels als Propagandaminister der Nationalsozialisten ab 1933. Im Mai 1936 verbot er die Nachtkritik, im November desselben Jahres die Kritik überhaupt. An ihre Stelle sollte die nicht wertende Kunstbetrachtung treten, ausgeübt von geprüften und nur in Ausnahmefällen nicht parteigebundenen Schreibern. Was in der Praxis nicht ganz so schlimm war wie es sich anhört, da die überhaupt nicht wertende Beschreibung auch in dieser Zeit nicht erfunden wurde. Für die Kritiker halbwegs neutraler Blätter wie für Karlheinz Ruppel im Berliner Büro der Kölnischen Zeitung, hieß das Projekt der Zeit also: Zwischen den Zeilen schreiben oder: Alles sagen, indem man es nicht sagte.

Sich entwickelnde Dezentralität der Theaterlandschaft

Wie erwähnt, war es Friedrich Luft, der sich die Sache der deutlichen Kritik als erster zu eigen machte, als die deutsche Kultur 1945 in Trümmern lag und die deutsche Sprache ein Minenfeld war. Aber nicht nur er allein. Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung in München, Georg Hensel im Darmstädter Echo und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dort natürlich auch Günther Rühle oder Siegfried Melchinger in der Stuttgarter Zeitung (wiederum alles Männer) – begleiteten auf westlicher Seite das Nachkriegstheater und beförderten (oder hinderten) zuweilen die jeweiligen Strömungen, die sich nun in allen Teilen der Westrepublik entwickelten, denn nach der deutschen Staatenteilung und der damit verbundenen Westberlinflucht, gab es kein deutsches Theaterzentrum mehr. Darüber konnte auch das 1964 gegründete Berliner Theatertreffen nicht hinwegtäuschen. Theater heute, über Jahrzehnte die wichtigste Publikation des deutschsprachigen Theaters West, wurde von Henning Rischbieter und Erhard Friedrich 1960 in Hannover gegründet.

Die Dezentralität ließ eine auch nur annähernd so dichte Debatte wie in der Zeit vor 1933 nicht mehr aufkommen. Theater findet seither an vielen Orten statt und wird vor allem dort wahrgenommen. Kritikerfehden verbieten sich schon aufgrund des ungleichen Kenntnisstandes, und nur manchmal gibt es nach dem Berliner Theatertreffen matte Versuche, ins Grundsätzliche vorzudringen, aber da es mittlerweile kaum einen Kritiker und kaum eine Kritikerin mehr gibt, der oder die noch nicht Mitglied der Jury war, ist der Beißreflex gehemmt.

Und die letzte Phase der Großkritik-Wahrheiten

Aber jetzt bin ich von den 60er Jahren direkt in die Nullerjahre gesprungen und habe die Wohlstandszeit der deutschsprachigen Theaterkritik West ausgelassen. Die Zeit von Peter Iden in der Frankfurter Rundschau, Gerhard Jörder in der Badischen Zeitung, Benjamin Henrichs in der ZEIT, C. Bernd Sucher in der Süddeutschen Zeitung und Gerhard Stadelmeier in der FAZ (alphabetisch aufgezählt und natürlich unvollständig). Die Zeit der westdeutschen Großkritik, die groß war, weil sie dort, wo sie wirkte, Meinungsmonopol hatte und Lokalpolitik beeinflussen konnte. Die Zeit, als sich die Ästhetiken verfeinerten und mit ihnen die Schreibweisen. Die Zeit der langen und oft emotionalen Besprechungen auf der Aufmacherseite der Feuilletons, die Zeit der Liebeserklärungen und gefühlten Wahrheiten im Theater und in der Kritik.

Warum war Theater in den 80ern eigentlich so breit vertreten im deutschen Feuilleton? Weil so viel öffentliches Geld darin verschwand? Erstmals in der Geschichte war es seit Jahrzehnten vollfinanziert und künstlerisch trotzdem völlig frei. Aber Geld war damals kein Thema. Weil es gesellschaftlich wichtig war? Zumindest gehörte Theater noch zum Bildungskanon. Es wurde ernst genommen und war ein konkreter sozialer Ort. Und die Kritiker waren fest angestellt, hatten ausreichend Zeit und Platz zum Schreiben und konnten reisen. Sie brauchten kein Projekt zu haben, für das sich ihr Leben in den Theaterparketts lohnen musste. Sie hatten einen Job. Das muss angenehm gewesen sein und las sich gut. Sie hören schon: Es ist vorbei.

Jenseits der gesicherten Subvention

1993, im Jahr, als das Berliner Schiller Theater geschlossen wurde, fiel das deutsch-sprachige Theater – und mit ihm seine Kritikerschaft – aus der Selbstverständlichkeit der Subventionswolke, und zur Frage, wie um Gottes Willen, nun die neue deutsch-deutsche Wirklichkeit ins Theater zu holen wäre, weil alles andere mit einem Mal falsch klang, gesellte sich die Notwendigkeit, sich mit Kulturpolitik zu befassen und rechnen zu lernen.

Jugend wurde plötzlich ganz nach vorn geschoben, hektisch scannte man die freie Szene und zog erfolgreiche Off-Regisseure wie Stefan Bachmann und Lars-Ole Walburg aus der Mitte ihrer gerade erst gegründeten freien Gruppen (in diesem Fall des Theaters Affekt) heraus auf die großen Staats- und Stadttheaterbühnen. Ein Thomas Ostermeier bekam direkt nach Abschluss des Regiestudiums die extra für ihn errichtete Baracke des Deutschen Theaters überreicht! Auch Jungkritiker hatten jede Chance, und nicht wenige kopierten den Feuilletonismus der Großkritiker, den sie aber, weil das, was Mitte der 90er im Theater zu sehen war, nicht wirklich der langen Rede wert war, mit Alltagsgeschichten füllten, den Zeitgeist der Sache so selbst zuführend in bester spätromantischer Tradition.

Neues Miteinander gegen das kritische Tagesgeschäft

Das ging eine Weile, machte Spaß und Theaterkritik zu einem Ausdruck von Lebensgefühl, angefüttert von Regisseuren wie Armin Petras, dessen Inszenierungen, erst mit der Medea Company in Berlin, dann in Nordhausen, Kassel, endlich an der Berliner Volksbühne, selbst Lebensgefühl repräsentierten, einen Mix aus Musiken, Comics, schnell Angelesenem und noch schneller Vergessenem, aber mit Rhythmus und dem neuen Schauspielstil des Miteinander auf der Bühne. Kritiker wurden zu Partnern des Theaters in dieser Zeit, zu theatralischen Außenstellen im Feuilleton, und folgerichtig wechselten manche irgendwann die Seiten, wie Roland Koberg aus der Berliner Zeitung, der Dramaturg wurde, Robin Detje, der heute ebenfalls Theater macht, oder Andreas Schäfer, der Romane schreibt.

Parallel zu alldem hatte das ernsthafte, das protestantische Stadttheater immerzu nach dem Zeitstück gesucht, Förderstrukturen wurden geschaffen, und als man gegen Ende der 90er beginnen konnte zu ernten, war der feuilletonistische Kritiker mit seinen Zusatzgeschichten aus dem wahren Leben plötzlich fehlt am Platz, weil wieder wie ehedem sorgfältig gewogen und für gut oder zu leicht befunden werden musste, weil kritisches Tagesgeschäft erforderlich war und sich die Verleger außerdem ihre Zeitungskrise nahmen und vom bloßen Schreiben keiner mehr leben konnte.

Beschleunigung im internet-typischen Auftrag

Im Mai 2007 wurde nachtkritik.de gegründet. Aus Neugier. Alle schreibenden GründerInnen hatten die Erfahrung gemacht, dass in den gedruckten Feuilletons immer weniger Platz zur Verfügung gestellt wurde. Und dass die von ihnen aktuell verfassten Kritiken durchaus mal zwei oder drei Tage auf Halde lagen, bevor sie erschienen. Um dann übrigens auch im Internet zu stehen. Warum also nicht gleich, warum nicht selbst?

Zumal die technische Übermittlung anders als zu Saphirs und Fontanes Zeiten keine eigene Zeit in Anspruch nahm und vor dem Schreiben sogar noch geschlafen werden konnte. Der größte Unterschied zur romantischen Nachtkritik aber war der, dass die digitale Neuauflage nicht aus verlegerischem Kalkül erfolgte, sondern als Projekt der Schreiber und Schreiberinnen selbst. Keine Beschleunigung im öffentlichen Auftrag also, sondern im internet-typisch eigenen.

Theaterkritik gibt es im Internet auch jenseits von nachtkritik.de. Viele Zeitungen stellen ihre Beiträge meist mehrere Stunden vor Drucklegung ins Netz. Nur wenige allerdings für immer und keiner direkt am Morgen nach der Premiere. Auch wird die Vielstimmigkeit nicht gepflegt. So dass es durchaus so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal der Internet-Kritik von nachtkritik.de gab und gibt. Die Frage ist, was die Sache denn eigentlich kostet. Und da muss man antworten: Den Leser noch immer: nichts. Den Schreiber noch immer fast alles, worauf er anderswo bauen kann.

Wer ist das öffentliche Gegenüber?

Wer hier veröffentlicht, wird nicht nur am folgenden Tag redaktionell von den naturgemäß ganz anders tönenden Stimmen der Print-Kollegen eingerahmt, sondern unter Umständen sofort nach der Veröffentlichung in – sagen wir es euphemistisch – eine Diskussion mit den Lesern verwickelt. Wobei einem manchmal umstandslos widersprochen wird, in durchaus harten Worten und zwar von Leuten, die ihren Namen nicht nennen, sondern als "Gast", "Gelangweilter" oder "Hollywut" auftreten. Das können Theaterangehörige sein, Kollegen oder Abonnenten. Man weiß es nicht – die Idee der Identität ist im Internet obsolet geworden. Jeder lebt in dem, was er äußert, und verschwindet hinter dem Gesagten wieder. Das "Recht der ersten Nacht" (Roland Koberg) wird mit dem Verlust der Deutungshoheit bezahlt. Ganz egal, ob der Kritiker Zuspruch oder Protest provoziert, er ist – zumal retrospektiv – nur einer von vielen, der spricht.

Für die Theater ist das eine feine Sache. Endlich widersprechen und richtigstellen, endlich sich wehren und erklären können! Einerseits. Andererseits verlieren die Theater den Kritiker hier als öffentliches Gegenüber. Als beauftragten Meinungsbildner eines bestimmbaren Teils der Gesellschaft, zu dem jeweils auch viele gehören, die gar nicht selber ins Theater gehen. Von der Gefahr der Nischenrelevanz ist jede Fachpublikation bedroht. Als Mitmachmedium ist nachtkritik.de für die Theaterinteressierten jedoch ein doppelt selbstbezügliches Medium: der Diskurs hier hat deutlich Werkstattcharakter.

Vermischung nützt

Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, und tatsächlich gehörte eine solche Entwicklung von Anfang an zu den Absichten der MacherInnen. Damit einher geht aber eine Funktionsveränderung von Theaterberichterstattung, die kritikgeschichtlich interessant ist, weil sie die Kritik wieder dorthin zurückbringt, von wo sie in ihrer heutigen Form vor knapp 250 Jahren startete: in den unmittelbaren Einflussbereich des Theaters.

Früher standen sich Publikum, Presse und Theater als getrennte Größen gegenüber. Heute wuselt der Diskurs fröhlich durcheinander. Hinsichtlich der Fairness im Ton, der Beschreibungsgenauigkeit oder der Kontextualisierung einer Arbeit hat die Vermischung möglicherweise etwas gebracht. Die Frage nach der Wahrheit eines Abends, nach dem persönlichen Funktionieren oder Nicht-Funktionieren und der sich daraus ableitenden Relevanz für die jeweilige Restwirklichkeit aber wird deutlich seltener gestellt. Anders als der zahlende Zuschauer oder der diskursgeschützte Zeitungskritiker, ist der Internetkritiker unauflöslich Teil der Party und weiß, dass Spielverderber in die Ecke gestellt werden.

Absicherung der eigenen Position

Kann sein, dass es genau darauf – auf die Kultivierung eines Gesprächs über die Rampe hinweg – jetzt noch immer ankommt, weil die Diskussionskultur innerhalb der Branche nach erst der Subventions-, dann der Zeitungskrise auf einem Tiefpunkt war. Kann aber auch sein, dass man wichtige Anschlussstellen und Außenbezüge verkennt, wenn man – durchaus in der Tradition der Romantik – zu sehr damit beschäftigt ist, die eigenen Positionen abzusichern. Und dass man sich des eigenen Entwicklungspotentials beraubt. Oder ist es reiner Zufall, dass nachtkritik.de in den vier Jahren, in denen das Portal in äußerlich absoluter Unabhängigkeit existiert, keine neuen Formen ausgebildet hat, sondern immer noch auf die zeitungstypische Vollkritik setzt?

Die Angst zu enttäuschen wird im Netz, das keinen Halt bietet, durch nichts gemildert. Freiheit ist hier vor allem die der anderen, der Re-Agierenden, Entgegennehmenden – und Vermummten. Wer sich hier niederlässt, sollte wohl nicht nur auf den Treibsand der Aufmerksamkeit bauen. Aber welche andere Währung gibt es dort bis heute?

 

Petra Kohse, promovierte Theaterwissenschaftlerin, arbeitete als Theaterredakteurin für die taz und die Frankfurter Rundschau.
Im Mai 2007 Gründung von nachtkritik.de zusammen mit Esther Slevogt, Konrad von Homeyer, Nikolaus Merck und Dirk Pilz.
Seit September 2010 verantwortet sie die Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste.
Den Vortrag hielt sie beim Zürcher Symposion KulturMedienZukunft. 



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Kommentare  
Debatte Theaterkritik II: nie in Stellung gebracht
Aaaargh! Ich bin gerührt, hier in die offizielle, wirklich sehr solide Nacht-Theaterkritiksgeschichtsschreibung aufgenommen zu sein. Aber zum Beispiel dafür erklärt zu werden, wie die Kritiker "Partner der Theater" wurden, graust mich doch arg. Ich kenne solche Kritiker. Sie waren immer meine Lieblingsfeinde. Nie habe ich versucht, mich mit einer Kritik in Stellung zu bringen für Höheres, Niedrigeres oder Sonstiges. Literweise Premierenfeiern-Freibier habe ich ausgeschlagen, schnief! Nach dem Abschied von der Theaterkritik habe ich keinen schönen Dramaturgenposten angenommen, sondern Jahre lang nur Romane übersetzt. Und selbst unser kleines Ein-Frau-und-ein-Mann Performance-Theater-Kleingroßkunstunternehmen bösediva müsste Partner eines Theaters erst noch werden. Das ist ja vielleicht alles bloß Dummheit und Starrsinn, soll aber dann doch auch so verzeichnet sein. Darum bittet herzlich, bevor wir wieder ganz schnell umschalten zu Luft und Laube.
Debatte Theaterkritik II: Widerstand leisten statt Begleitmusik liefern
Ich versuche, den folgenden Absatz zu verstehen, mit dem Petra Kohse erklärt, warum Theaterkritik als Lebensprojekt nicht tauge. (Tat sie das bei Friedrich Luft? Sein Lebensprojekt hat vor 1945 ganz anders begonnen, aber davon wird taktvoll geschwiegen.) "Ästhetisch wie thematisch wird im Theater heute zuweilen Gesellschaft abgebildet, aber dass die Gesellschaft von der Theaterbühne aus beeinflusst werden könnte, dass hier – und nur hier! – Belange von allgemeinem Interesse ausagiert würden, erwartet man nicht mehr. Diese Erwartung aber ist für Theaterkritik in ihrer bisherigen Form konstitutiv. Denn als publizistisches Genre ist die Theaterkritik ein Kind der Aufklärung." Hat man wirklich früher erwartet, dass "die Gesellschaft von der Theaterbühne aus beeinflusst werden" könne? Wer hat das erwartet? Ich bin nicht mehr ganz jung, aber so weit ich mich zurück erinnern kann, galt diese Vorstellung stets als reichlich naiv. Die drei, vier Beispiele aus der Theatergeschichte, die für diese These genannt wurden, waren immer die gleichen. Petra Kohse hat recht: Theaterkritik ist ein Kind der Aufklärung. Aber gestattet die Aufklärung nur die beschreibende Analyse von erwartbarer Beeinflussung der Gesellschaft? Hat die Theaterkritik, gerade als Kind der Aufklärung, nicht nach wie vor und mehr denn je eine Funktion in der (Wieder-)Herstellung des Bewusstseins von Theater als einem ästhetischen Produkt? Gerade weil viel zu sehr erwartet wird, dass Theater Gesellschaft abbilde und sie womöglich beeinflusse, gerade weil auch an Schulen Theater nur noch als etwas betrachtet wird, das eine Nutzanwendung bereit stellt, braucht es eine Kritik, die mit Distanz von Theater als etwas spricht, das anders funktioniert als Politik, Journalismus oder Wissenschaft. Vielleicht ist solch eine Theaterkritik nicht mehr zu haben. Aber nicht, weil sie etwa nicht möglich wäre (wer sollte das dekretieren?), sondern weil die Bedingungen der Medien, der Politik, der Ökonomie (ja, ja, ich weiß, ich bin unbelehrbar altmodisch) das erzwingen. Dagegen sollte man Widerstand leisten, statt, wie Petra Kohse, die pseudoobjektive Begleitmusik zu liefern.
Debatte Theaterkritik II: Zusatz
Anhang zum "Lebensprojekt" von Friedrich Luft. Auch er hat "die Seiten gewechselt". Vor 1945 schrieb er nicht nur über, sondern auch für den Film. Zum Beispiel den Text dieses Kurzfilms:
http://www.youtube.com/user/svwmannheim#p/u/31/hNpHdUK4q1E
Debatte Theaterkritik II: prinzipiell fragwürdige Sicht
Zu beiden Vortragsartikeln ließe sich so manches schreiben, zB. zum Opfergestus, den Frau Kohse hier an den Tag legt. Der arme (Post)-Kritiker (um das Frischpfadfinderwort- siehe Wanderlust-Blog ...), der sich hier den Vermummten (um nicht wieder "Aasgeier" zu schreiben) ausliefert, ausgeliefert sieht, der in allerlei (euphemistisch so genannte) Diskussionen verwickelt wird.
Ulkig, daß da nicht wieder jene "Inhaltlichen" auftreten, die am liebsten das reine Argument auftreten ließen (also Namensverzicht).
Nun, mal davon abgesehen, daß auch Leserbriefschreiber unter falschem Namen agieren konnten etcpp. anno dazumal wie heute !
Klar, das muß fast notwendig "besserwisserisch" rüberkommen, wenn man sich an dieser Stelle verblüfft darüber befindet, wie einfach es einem gemacht wird, die dargestellte Sicht der beiden Autoren prinzipiell für fragwürdig zu halten. Zunächst ist nachtkritik de. einmal eine Internetseite, die entgegen einiger Bedenken es bis heute schafft, durch aktive LeserInnenunterstützung zu wirken und: sogar verstärkt zu wirken. Es macht nur begrenzten Sinn, einen historischen Abriß zu liefern wie Frau Kohse es tut, wenn das Argument dann plötzlich so wenig "historischen Sinn" bearbeitet.
Wäre der "Wanderlust-Fond" denn vielleicht gar nie ein Thema, wenn nachtkritik de. es - sei dahingestellt, ob mit "klassischer Printkritik" oder doch (?) anderem, mancher Kritiker verließ vorzeitig eine Vorstellung ...- nicht geschafft hätte, in gewisser Weise theateröffentlich durchzustarten? Wahrscheinlich geht der Einfluß sogar weit über das neue Layout der "Theater der Zeit" hinaus. Nein, ich weiß es nicht besser, Herrn Müller wird schon deswegen keiner angreifen, weil er sich ja tatsächlich als kühn erweist, denn man wird ihn an seinen Worten messen dürfen, auch "vermummt", denke ich, auch wenn dieser Begriff sehr zweifelhaft hier ins Spiel gebracht wird. Unterschriebe ich jetzt mit "Michael Meyer" und das wäre der sogenannte Klarname, ich bliebe ja doch ein "Vermummter", müßte mich so subsumieren lassen von zB. Frau Kohse: ... man, Frau Kohse, das wußten Sie schon, bevor Sie diese Seite mit ins Werk setzten; jedenfalls wird es für einen sich gar nicht Vermummenden in sog. Diskussionen nicht leichter, wenn eine Redakteurin "Vermummung" als aktiven Tatbestand unterstellt..


(lieber trainer inukuma, petra kohse ist seit 2011 nicht mehr mitglied der redaktion und inzwischen sekretär der sektion darstellende künste in der berliner adk. freundliche Grüsse von der redaktion, esther slevogt)
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