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Entleert und fest gekachelt

von Christian Rakow

Berlin, 4. September 2011. Eine "Gramfalte" hat Johannes auf der Stirn. Vom Alleinsein, wie es heißt. Dabei ist er gar nicht so oft allein, sondern eigentlich bestens umsorgt. Von seiner Mutter, die als Dauergast unter seinem Dach logiert und die Johannes' melancholischem Weltengegrübel stets einen frommen Glaubenssatz entgegenzuhalten weiß. Und von seiner Ehefrau Käthe, die ihn mindestens so zärtlich in den Armen wiegt wie ihren frischen Nachwuchs Philippchen. Allerdings tragen auch Mama und Käthe neuerdings Gramfalten – seit die Studentin Anna im Haushalt eingezogen ist und nun Johannes ordentlich den Kopf verdreht.

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Mit hängenden Schultern und Gramfalten...
© Katrin Ribbe

Mit Zement bestrichen

"Verdrehter Kopf, drehende Bühne", muss sich Ausstatterin Sabine Kohlstedt gesagt haben. Und also kreist die weißblau gekachelte Spielfläche unter einem gleichfalls kreisenden Leuchter so unablässig und zäh, als habe man einen alten Schallplattenteller mit einer Ladung Zement bestrichen. Eine schwere Bühne für eine schwere Lebenskrise. Die meiste Zeit bleiben alle Akteure auf dem Podest anwesend. Fest gekachelt, mal stehend, mal auf Holzstühlen sitzend. Durchweg mit hängenden Schultern und Gramfalten auf der Stirn.

Friederike Heller ist eine Regisseurin, die – gleich ob in großen oder schwächeren Abenden – noch immer eine inspirierende Perspektive auf klassische Texte eröffnet. Deutungsfrei geht es eigentlich nie ab. Ist es also bloß Einbildung oder waren es wirklich Gramfalten, die man auf der Stirn der Hausregisseurin der Schaubühne beim zögerlichen Schlussapplaus auszumachen glaubte? Grund genug hätte sie nach diesem ratlosen, ja bedeutungslosen Gang durch Gerhart Hauptmanns Frühwerk "Einsame Menschen" (1891).

Anämisch aus den Schuhen kippend

Es mag ja sein, dass vieles an Hauptmanns Drama für heutige Ohren kaum mehr erträglich ist: die saturierte Überheblichkeit des Rentiers Johannes, sein Aufbegehren gegen das christlich-bürgerliche Familienmodell und die Feier platonischer Geistigkeit mit der Studentin Anna. Oder die Figur der braven Käthe, die durch Annas mondäne Intellektualität ein bisschen feministische Morgenluft schnuppert, ohne letztlich ihrer Hausmutterrolle entkommen zu können. Auch Johannes' weltanschaulicher Kampf für den Darwinismus gegen die herrschenden alttestamentarischen Doktrinen mutet nicht eben taufrisch an. Nur: Wenn man diesen Figuren so ganz ihren Diskurs raubt, bleibt allenfalls eine unspezifisch verkrampfte Dreiecksbeziehung mit mittlerem Gramfaltenfaktor übrig. Und für die braucht's eigentlich nicht Hauptmann.

Heller hat "Einsame Menschen" jedenfalls bis zur völligen Austauschbarkeit entleert und pseudoaktualisiert. In erwartbarer Distanzierung von der Dulderhaltung in der Vorlage gibt Eva Meckbach ihrer Käthe ein gesundes Maß an Schlagfertigkeit und abgebrühten Pragmatismus, muss dann aber doch anämisch aus den Schuhen kippen, wenn Eifersucht ihre Figur übermannt. Wieso überhaupt dieser Drift in Eifersucht und Zickigkeit? So abgegriffen wirkt doch gerade Käthes Konflikt mit Johannes um Bildungsdifferenzen und die Definitionsmacht in der Partnerschaft nicht.

Ein kalter Joint

Aber Bildung, schön wär's ja. Die Inszenierung sucht allein das Worthülsenpotpourri. Jule Böwes Studentin Anna bleibt zwangsläufig leere Projektionsfläche, unfähig zu Geistesblitzen oder wenigstens Anflügen von Esprit. Dafür punktet sie mit lieblichem Augenaufschlag und flatternder Bluse. In ihrem toten Winkel geht Ernst Stötzner auf Schmunzlerernte, wenn er sich als Mutter Vockerat durch bibelfeste Frömmeleien knarzt.

Wie raffiniert hatte Heller noch im Februar mit Sophokles' Antigone ein Identitätsverluststück für moderne Männer erzählt! Und heute? Für den flirrend haltungslosen Bohemien Johannes Vockerat, für diesen Ödipussi mit Weltenrätselwut, fällt ihr nicht mehr ein, als Tilmann Strauß zum faden Schlappschwanz und Neurosenschieber zu degradieren? Flankiert von seinem bis zur Unsichtbarkeit blassen Künstlerfreund Braun (Christoph Gawenda)?

"Seid fidel, ich bin es auch!", heißt es zeitig an diesem gut einhundertminütigen Abend. Aber nichts da! Alles lahmt. Heller hat ihre Figuren in die Ausnüchterungszelle gesteckt, wo Behauptungsroutinen wie ein kalter Joint umher gereicht werden. Weiter und weiter dreht das Kachelpodest über einer flachen Wasserdecke. Kante-Pianist Michael Mühlhaus lässt von der Seite her ein paar kühle Akkorde plätschern. Das ist der Sound zum Katerfrühstück. Einsame Töne für gedankenkarge Menschen.

 

Einsame Menschen
von Gerhart Hauptmann
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Michael Mühlhaus, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Erich Schneider.
Mit: Jule Böwe, Christoph Gawenda, Eva Meckbach, Ernst Stötzner, Tilman Strauß,
Pianist: Michael Mühlhaus.

www.schaubuehne.de

 

Mehr dazu: Die beiden letzten Besprechungen von Einsame Menschen auf nachtkritik.de widmeten sich ebenfalls den Arbeiten zweier Regiefrauen: Hannah Rudolph inszenierte das Hauptmann-Stück im Februar 2010 in Frankfurt am Main und Julia Hölscher im Mai 2011 in Dresden.

 

Kritikenrundschau

Andrea Gerk sagte in Fazit auf Deutschlandradio (4.9.2011): Ein bis auf Ernst Stötzner sehr junges Ensemble träte hier auf, in der Kleidung unserer Zeit; auch die Spielweise sei "sehr jung" und die Sprechweise "fast beiläufig, wodurch der Text sehr zeitgemäß" wirke. Auf der anderen Seite gelänge es Friederike Heller aus diesem Hauptmann-Stück die "Dimensionen einer fast schon antiken Tragödie rauszuholen und wirklich schwer wiegende Konflikte von zeitloser Relevanz" aufzuzeigen.

Friederike Heller habe kräftig den Rotstift angesetzt, konstatiert Peter Hans Göpfert im Kulturradio vom rbb (5.9.2011): "Keine Spur von Naturalismus oder Milieu." Das Stück wirke auf eine Beziehungs-Krisen-Konstellation verkleinert, bei der Johannes Vockerath gar nicht der Typ sei, der sich im Müggelsee ertränken würde. "Der wäre nach Bühnenbild-Lage dann auch wirklich zu flach."

Von einem, für Friederike Hellers Verhältnisse ungewohnt konzeptionsunsicheren Abend spricht Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (6.9.2011). "Mag sein," so die Kritikerin, "dass Heller die viel zitierte Unverbindlichkeit an jeder Beziehungsfront als Konzept vorschwebte. Inszeniert hat sie allerdings eine Dreiecksbeziehung, die hart an der Belanglosigkeitsgrenze entlangschrammt – weil sie um eine Nullstelle kreist." Diese Nullstelle, das mit aus ihrer Sicht der "geheimnislose Unsympath" und "charismafreie Klischee-Narziss" Johannes Vockerat. Doch auch der Rest des "müde um sich selbst kreisenden Figurenquintetts" bietet Wahl wenig Zündstoff.

"Aber der Abend lässt sich nicht so leicht abschütteln", gibt dagegen Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (6.9.2011) zu Protokoll. "Das verdankt sich den mit seelischer Glaubwürdigkeit und wacher Intelligenz agierenden Schauspielern und einem von Heller hinzuinszenierten Zungenkuss zwischen dem zu Hilfe geholten, frommen Vater von Johannes (ebenfalls Stötzner) und dessen doch eigentlich platonischer Freundin Anna. Der Vater schleckt und kaut es weg, das Ideal von reingeistiger Freundschaft zwischen Mann und Frau und kastriert auf diese Weise seinen nun wieder gehorsamen Sohn." In Gerhart Hauptmanns Stück bestehe der Konflikt darin, dass "der Hauptantiheld Johannes Vockerat" keinen Konflikt sehen wolle, obwohl es davon geradezu wimmele. Und wenn auch Seidler den Abend wohl nicht zu Friederike Hellers stärksten zählt, gibt er ihm doch einiges zu denken.

Eine kluge Inszenierung hat Heller laut Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.9.2011) geschaffen, die den "Fünfakter zugleich herzlich fern und fesselnd nahe erscheinen" lasse. "Knapp zwei Stunden lang machen die Schauspieler die Kämpfe um Selbstverwirklichung und Emanzipation, um Konventionen und Verantwortung auf hochkonzentrierte und gekonnte Weise zu ihren eigenen und finden dafür einen in seiner meist beiläufigen Schnoddrigkeit äußerst glaubwürdigen Ton."

Peter Laudenbach vergleicht in der Süddeutschen Zeitung (7.9.2011) die Inszenierungen von "Einsame Menschen" mit der einen Tag später herausgekommenen Inszenierung von "Jeder stirbt für sich allein" von Jorinde Dröse: "Die interessantere, wenn auch nicht ganz unverquaste Inszenierung" sei die Hellers, die Johannes als "eine der üblichen verkrachten Berliner Möchtegern-Künstler-Schwadroneur-Existenzen" zeichne, "die ihre Lebenslügen für digitale Boheme halten, während sie in Wirklichkeit nur vom Erbe leben und sich den lieben langen Tag für nichts als für ihre Befindlichkeiten interessieren." Allerdings passe zu dieser Welt das Stück nicht. Sein Fazit: bedauerlich konfuses Konzepttheater.

Barbara Behrendt würdigt in der TAZ (7.9.2011) die Neuakzentuierung, die die Regisseurin an diesem Hauptmann-Stück vornimmt: "Hellers Interesse liegt eindeutig bei den jungen Frauen und ihren Rollenbildern." In der modernisierten Käthe stelle sie "uns die Frau der Gegenwart als patente Familienmanagerin vor. Sie ist nicht geistlos, sie ist geerdet. Gegen diese Form der Emanzipation sieht Anna Mahr alt aus: Jule Böwe gibt sie als selbstsüchtige Verführerin in Highheels. Unabhängig zwar – aber ihre Geistesschärfe bleibt eine Behauptung, man spürt nur Bildungsattitüde und eine einsame, haltlose Freiheit." Auf das grundsätzliche Lob für die Konzeption folgen Einschränkungen: "Das ist eine spannende neue Lesart der 'Einsamen Menschen'. Nur ergeben kluge Überlegungen noch keinen gelungenen Theaterabend. So klar und poetisch das Bühnenbild aufs erste wirkt, so wenig Dynamik kann es auf Dauer bieten. Das Gleiche gilt für die überdeutlich gezeichneten Figuren - auf diesem winzigen Quadrat ist kaum Entwicklung möglich, das monotone Rotieren der Bühne wird streckenweise zur Einschlafhilfe."

Kommentare  
Einsame Menschen, Berlin: ganz schön langweilig
naja, war schön über weite strecken ganz schön langweilig, obwohl mich das bühnenbild überzeugt hat.
gar nicht überzeugen hingegen konnte mich jule böwe in der rolle der anna.
hätte mir die inszenierung ernster gewünscht; obwohl ich ernst stötzner an sich klasse fand, war mir seine rolle als mutter zu albern.
gut gefallen hingegen haben mir die wenigen verzweiflungs-ausbrüche von eva meckbach als "käthe".
insgesamt sicherlich eine aufführung, die man nicht zwingend gesehen haben muss.
Einsame Menschen, Berlin: Kinder der Sehnsucht
Langeweile, ja. Die Zeit vergeht, die Gestirne über uns ziehen unverändert ihre Bahn, aber wir, wir sind doch geboren, um das Leben aus uns selbst heraus zu gestalten! Wir sind Kinder der Sehnsucht nach uns selbst! Wir sind die Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters, welches zu Zeiten von Hauptmann erst in den Anfängen stand und durch das Brecht-Theater seine Blüte erlebte. Geht es denn nicht immer noch darum, über das (wissenschaftliche) Experiment zu einer Neugestaltung unseres Leben zu gelangen? Und was passiert hier? Nichts. Oder: Gefangen in den saturierten und im Grunde längst überlebten Traditionen des (Klein-)Bürgertums, dessen Weltbild immer gleich bzw. dessen Welt eine gekachelte Scheibe geblieben ist. Warum bricht hier keiner aus? Warum will sich hier keiner die Füße nass machen? Dieses ängstliche Beharrungsvermögen, trotz der Verführungen durch das (eigene innere) Fremde und Neue, das ist bitter tragisch. Man fragt sich: Warum diese Selbsteinschränkung von Käthe (Eva Meckbach) auf Küche, Kinder, Kirche, obwohl sie längst bemerkt hat, dass sie von ihrem Mann bereits abgeschrieben ist? Warum dieses blinde und gehorsame Festhalten am Altbewährten gegenüber dem Modernen durch die Mutter (Ernst Stötzner) von Johannes Vockerat (Tilman Strauß)? Warum trennt sich dieser nicht von seiner Frau, warum haut er nicht einfach mit Anna (Jule Böwe) in ein neues Leben ab? Ist das Sicherheitsdenken? Ist das ein Festhalten an bzw. das Nichtloskommen von den elterlichen Idealen? Insgeheim wünscht man sich mehr Ausbrüche, welche nicht sinnlos Energie verschleudern bzw. in die Krankheit führen, sondern Ausbrüche als Aufbrüche, im besten Fall als soziale und politische Bewegungen, raus aus dem Monadentum, raus aus der Entfremdung. Doch hier ist und bleibt alles wie es ist, hier bleibt alles statisch und jeder für sich. Und die Klaviermusik ist auch nur ein schwacher Trost.
"All the lonely people, where do they all come from? / All the lonely people, where do they all belong?" (The Beatles)
Einsame Menschen, Berlin: Fehlgriff im Bücherregal
Wahrscheinlich muss man eine Frau sein, um genauer die Gründe von Friederike Heller verstehen zu können, die sie bewogen haben, Hauptmanns sehr persönliche Familienaufstellung so zu inszenieren. Wer das nicht schafft, langweilt sich zwangsläufig zu Tode. Die Figuren haben keine Tiefe mehr, außer der von Käthe, die an Kontur gewinnt, wo sie bei Hauptmann nur in Tränen zerfließt. Allerdings kann sich Heller auch nicht aus dem Korsett des Stücks endgültig befreien und so sitzt man in der Schaubühne wieder vor einer weiteren Bestandsaufnahme der bürgerlichen Seelenlandschaft, nur dass diese hier wie aus einer anderen Welt zu sein scheint. Nicht dass es diese Menschen nicht heute genauso gäbe, aber in Zeiten der Patchworkfamilie, wird niemand, und vor allem kein Mann, wegen Orientierungslosigkeit ins Wasser gehen. Der Mann hat schon lange seine Stellung als Familienoberhaupt eingebüßt und sucht nach neuen Bewährungsfeldern.
Intellektuelle Defizite beim potentiellen Partner sind heute ja eher ein Grund erst gar keine Beziehung oder sogar eine Ehe einzugehen. Bleibt das Familienproblem mit Kindern und Haushalt. Das stellt Heller ja auch interessanter Weise in den Fordergrund. Nur kommt es einem trotzdem vor, als würde sie hier von Ihren Eltern erzählen, wie Jorinde Dröse das am Gorki mit Nora gemacht hat. Heute würde die Konstellation von Hauptmann spätestens nach dem 4. Akt auseinanderfliegen und man würde sich im Rest des Stückes mit den jeweiligen Anwälten um das Sorgerecht streiten. Bleibt noch ein Punkt, der vielleicht von Interesse wäre, gibt es eine platonische, rein freundschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau? Auch nicht gerade ein neues Thema. Liebe scheint es ja nicht zu sein, was Johannes und Anna zusammen treibt, sondern eher die gemeinsamen Interessen und mangelnde andere Möglichkeiten. Der verhinderte Schöngeist Johannes kann mit irdischen Problemen nichts anfangen und klammert sich an diese, ihm einzig ersterbenswerte Möglichkeit, dem Alltag zu entrinnen. Welche Motive Anna hat, bleibt völlig unklar. Es scheint, als ob sich das Inszenierungsteam nicht einig war, welche Themen hier eigentlich bearbeitet werden sollten. Es wirkt wie ein Fehlgriff im Bücherregal, anstatt Tschechow zieht man Hauptmann heraus und versucht das krampfhaft zu kaschieren. Viel Gerede und Getue und am Ende ist einer tot. Das ist wie Planschen im Flachwasser, allerdings auf schauspielerisch hohem Niveau.
Einsame Menschen, Berlin: Aufspaltung der Frau
@ Stefan: Aber eins ist doch bis heute zu beobachten. Dass manch ein Mann wohl am Liebsten zwei Frauen hätte: Eine, welche eher die Rolle seiner eigenen Mutter übernimmt - also die emotionale Komponente ausfüllt. Und eine Andere für seine Träume bzw. als intellektuelle Gesprächspartnerin. Und das wird hier doch auch klar herausgearbeitet, dass Johannes letztlich vor der leidenschaftlichen, körperlichen Liebe zurückschreckt, sowohl in Bezug auf seine Ehefrau Käthe als auch in Bezug auf Anna.

Zudem liegt das Problem aller, und vor allem der Frauenfiguren, meines Erachtens darin, dass sie keine Verantwortung für die veränderte Situation übernehmen wollen. Käthe flüchtet in die erlernte Hilflosigkeit der Ohnmacht, Anna flüchtet örtlich (nach Zürich), die Mutter von Johannes Vockerat flüchtet in ihr altes, von Gott bestimmtes, Weltbild.
Einsame Menschen, Berlin: immer fehlt irgendetwas
@ Raus hier
Dafür können Sie aber Friederike Heller nicht verantwortlich machen. Das steht schließlich so im Stück und daher ist es ja auch untauglich für Emanzipationsversuche, wie sie sie beschreiben. Das Stück zeigt ja gerade die Unfähigkeit der Emanzipation von Mann und Frau in dieser Übergangszeit der Jahrhundertwende. Johannes ist noch nicht fähig sich den tradierten Rollenvorgaben seiner Eltern zu entziehen. Er sucht einen Partner im Geiste und da er ihn nicht in seiner Frau zu finden vermag und nicht Anna finden darf, geht er zu Grunde. Hauptmann war außerdem kein Verfechter der Frauenemanzipation wie vielleicht Ibsen. Die einzige Emanzipation die er seinen Frauenfiguren und übrigens auch seinen eigenen Frauen zugestand, war die Verwirklichung an der Seite ihres Mannes. Käthe soll sich für die Arbeit ihres Mannes interessieren, um so ihren Horizont zu erweitern. Anna Mahr ist hier auch kein Idealbild einer emanzipierten Frau, sondern eher ambivalent. Einerseits selbständig und frei, anderseits sucht sie eine emotionale Bindung und glaubt, diese in der Familie Vockerat gefunden zu haben. Das sind Widersprüche wie sie gerade auch jetzt wieder in der anonymen Großstadt auftreten. Vielleicht will Friederike Heller ja gerade das zeigen. Alles Einsame Menschen eben, immer fehlt irgendwas.
Einsame Menschen, Berlin: fehlende Solidarität
@ Stefan: Wo habe ich denn geschrieben, dass ich Friederike Heller dafür verantwortlich mache. Natürlich geht es um Hauptmanns Perspektive, welche zugleich Parallelen zum heutigen gesellschaftlichen Kontext eröffnet.
Das Stück ist für mich nicht untauglich für Emanzipationsversuche, sondern es befragt diese im Rahmen von Abhängigkeitsverhältnissen: zwischen einem traditionell personalisierten bzw. gebietenden und verbietenden Gott und dem Menschen, zwischen den Generationen sowie zwischen Mann und Frau. Was hier in meiner Wahrnehmung offenbar wird, ist die fehlende zwischenmenschliche Solidarität, unabhängig von der standardisierten bzw. hierarchisierten Rollenaufteilung.
Es geht um die notwendige Abkehr vom metaphysischen Weltbild und damit um Aufklärung und Selbsterkenntnis. Von allen Bindungen freigesetzt, muss sich jedes Individuum als autonom und selbstbestimmt und folglich für das eigene Leben verantwortlich erkennen.
"Ach!! Freiheit!! Freiheit!! Man muss frei sein in jeder Hinsicht. Kein Vaterland, keine Familie, keine Freunde soll man haben. - Jetzt muss es Zeit sein." (Anna Mahr)
Eisame Menschen, Berlin: bedingte Freiheit
wie sieht so ein Mensch der Freiheit aus, der keine Freunde (keine "wahren" Freunde) hat (also auch keine Freundin)? - einsam und verlassen ist er unter all den Un-Freien.
mit wem sollte er reden, und über was? über seine Freiheit, die ja nicht unbemerkt bleibt in seinen Themen und Reden? - eine Freiheit die sich im Gespräch notwendigerweise alsbald bemerkbar machen wird. -
man s o l l t e frei sein, ist es aber nicht, oder nur im aller seltensten Fall (vielleicht ein Buddha oder etwas ähnliches, und da wird gleich eine Lehre daraus und eine Erleuchtung)

im Schreiben ist man zum Beispiel frei hier, und doch sind da Rücksichten zu nehmen auf Nachtkritik-Bedingungen, und welches (all-zu)freie Schreiben frei-gestellt wird oder nicht.

Immer ist doch Freiheit in der Wirklichkeit bedingt.
nur im Un-bedingten, im Absoluten nicht.
Einsame Menschen, Berlin: welche Freiheit ist gemeint?
@ Friedrich Karl: Da müsste man jetzt weiterfragen. Zum Beispiel danach, was mit Anna Mahrs Ruf nach Freiheit eigentlich gemeint ist. Geht es hier nicht vor allem um die Freiheit von ständischen bzw. schichtspezifischen Bindungen, welche als gottgegeben betrachtet und somit unwidersprochen hingenommen wurden? Geht es Anna Mahr nicht zudem um ein Aufbrechen der traditionellen Geschlechterverhältnisse? Geht es ihr nicht letztlich um die Basis der Freundschaft und somit um die potentielle Gleichheit aller Menschen? Zitat:

"JOHANNES: Gut: Ich bin abhängig. Leider Gottes! aber S i e... Warum ergreifen S i e für die andern Partei?
ANNA: Ich habe sie eben auch lieb gewonnen. Sie haben mir oft gesagt, Sie ahnten doch einen neuen, höheren Zustand der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau.
JOHANNES: Ja, den ahne ich, den wird es geben, später einmal. Nicht das Tierische wird dann mehr die erste Stelle einnehmen, sondern das Menschliche. Freundschaft, das ist die Basis, auf der sich diese Liebe erheben wird."
Einsame Menschen, Berlin: die Erkenntnis
"In der Befreiung bricht die Erkenntnis auf: Ich bin befreit."
Einsame Menschen, Berlin: ein Monolog für neue Autoren
Das Theater (1967) ändern (befreien), wo es zu ändern (zu befreien) ist.
Oder:
Unsere Altmeister, scheinen in einer anderen Welt gelebt zu haben.
(ein Monolog für die jungen deutschen Autoren 2O11)

Der Autor(spricht in der Art der 67er):

Alles habe auf der Bühne Bedeutung, jede Geste, jeder Schritt, jedes Wort, höre ich die so genannten alten Theater-Hasen sagen
(Anmerkung: hört ihr da nicht schon die 68er-Jäger der Freiheit blasen?!),
die sofort von ihrer jahrzehntelangen Praxis zu reden beginnen, wenn ich nicht in der Lage bin, mein Theaterstück mit ein paar Worten zu erzählen.
Der Kern, die Handlung, die Krise, der Schluß, auf den alles zusteuern müsse, das sei doch kurz zu erklären, behaupten sie, jede gute Geschichte habe eine Aussage, was ich mit dem Stück eigentlich wollte?
Natürlich, würde ich antworten, eine Geschichte habe ich erfunden, oder erlebt, ich könne es nicht mehr genau unterscheiden, jedenfalls müsse der junge Kerl, der immer von Geld rede, vom Tisch
herunter aufs Sofa flanken (Anmerkung: was postdramatischen Akteuren derzeit nicht schwer(sie machen ja so unendlich viel mehr) fallen sollte).
Und jetzt lache ich auch noch (das würde ein 2O11er niemals tun, da er doch um jeden Preis Karriere machen will(und muss)),
ungeschickter hätte ich mich nicht verhalten können.
(Anmerkung: wie geschickt sich im Gegensatz dazu die Heutigen doch verhalten)
Ich gehe wieder, kann leider das großzügige Angebot nicht annehmen,
bei ein oder zwei Inszenierungen zu hospitieren, sozusagen von der Pieke auf einmal alles mitzumachen, die sogenannte Theaterluft zu riechen. Es ist mir völlig egal, ob jemand von links oder rechts
auftritt, soll er doch aus dem Boden wachsen, von der Decke fallen,
dieses Theater-Handwerk langweilt mich.
(Anmerkung: das heutige Theater lässt alles möglich aus dem Boden wachsen und von der Decke fallen, und ist mit Sicherheit nicht langweilig)
Die meisten Autoren, die ich kenne, machen, wenn sie vom Theater reden, was selten vorkommt, Grimassen. Sie gehen nicht oft hinein.
Ich besuche das Theater auch nicht oft.
Uns stört der offizielle Charakter des Theaters, der Autoritätsanspruch (Anmerkung: eben diesen beanspruchen die älter
gewordenen 68er-Regisseure heute ebenso abermals für sich).
Diese riesigen Gebäude mit Verwaltungs-Flügeln -
(Anmerkung: Diese riesigen Gebäude auf ihren weit ausgebreiteten
Verwaltungsflügeln(die inzwischen noch größer geworden sind) -
wohin segeln sie?)
diese großen Ensembles, die beschäftigt werden sollen mit bezahlten Ferien. Und wenn in Staatstheatern ein Schauspieler, eine Schauspielerin es verstanden haben, zehn Jahre lang nicht unangenehm aufzufallen, können sie nicht mehr gekündigt werden.
(Frage: ist das immer noch so? (ich kann es mir nicht vorstellen))
Ämter machen mich mißtrauisch.
Die Kruste um die Bühne ist immer höher gewachsen. Stadträte, Intendanten, Direktoren, Dramaturgen, Obmänner und Schiedsausschüsse verankern offiziell die Autorität des Theaters.
Wieder höre ich den so genannten alten Theaterhasen sagen, daß alles auf der Bühne Bedeutung habe, wichtig sei, weil es vorn im
Guckkasten vor den Augen der Zuschauer geschehe.
Einsame Menschen, Berlin: der Autor lässt sein Herz schlagen
2

Der Autor:

Es hat mich bei vielen Stücken immer schon geärgert, daß sie selektiv geschrieben sind, das heißt nur zum Thema geredet wird.
Ja, ja, denke ich, das habe ich verstanden, das war bedeutungsvoll,
wird sicher im nächsten Akt umgedreht, muß jetzt gesagt werden, damit man es später verwenden kann. Fäden werden gezogen, Scharniere knarren, jeder hat das Ziel im Auge.
Wir, die Zuschauer, kennen den Zauber, legen uns in den Sitzen zurück und schauen der Illustrierung zu. Die Übereinkunft zwischen
uns und den Spielern ist perfekt, war geplant. Und wenn wir dann
gemeinsam den Schluß erreicht haben, kann jeder ein kleines
Lebens-Rezept nach Hause tragen. So war es gedacht, dazu ist das Theater da. Wir sind erfrischt worden.
Ich werde lange nicht mehr ins Theater gehen, sondern abends lesen, auch Zeitungen.
Wenn alles auf der Bühne Bedeutung hat, wie behauptet wird, dann kann es nicht meine Sache sein, die da draußen spielt.
Ich kenne die großen Augenblicke der Trauer, der Freude, des Scherzes und Ulkes nicht, es müssen Könige, gebildete Partisanen, Alt-Kapitalisten, Herzoginnen, Urmütter oder Edelnutten sein,
die das alles so rein, so vorzüglich hintereinander erleben, damit nichts stört und sie ihren Text zu Ende bringen. Natürlich, es sind Märchen, die sie uns vorspielen, denn sie reden auch so.
Wenn ich mich über den Fortschritt in der Prosa ereifert habe,
finde ich in Theaterstücken davon kaum mehr etwas. Was soll auch
ein teilweise privater Mensch auf einer Bühne anstellen, damit er
nicht verloren geht? Er muß zappeln, herumrennen, Hacken schlagen
und schreien(Anmerkung: schlechte Inszenierungen kennzeichnen sich dadurch, dass die Akteure in dramatischen Szenen nur noch schreien und brüllen, daran hat sich nichts geändert);
poltern und deutlich sprechen muß er auch.
Er soll gesehen und gehört werden.
ES IST, ALS WOLLE EINE FLIEGE EINE LEERE BADEWANNE ZUM DRÖHNEN BRINGEN.
Es muß anstrengend sein, eine Bühne zu bevölkern.
(Anmerkung: das ist noch immer anstrengend. Die heutige Umkehrung: Es ist als wolle eine Badewanne eine leere Fliege(die einen Menschen darstellt) zum Dröhnen bringen.)
Das merkt man auch. Sitze ich vorn, ist mir alles zu deutlich, sitze ich hinten, bekomme ich Elefantenohren. Es sei denn,
es tritt ein deutscher Arbeiter auf in einem deutschen Stück,
was sehr selten vorkommt(!!!)und wie es ihn vielleicht vor vierzig Jahren noch gegeben hat, inzwischen sind die meisten ja Angestellte
geworden.
Aber dann verstehe ich den Text, denn der deutsche Arbeiter röhrt,
dröhnt, hat Mark in den Sätzen.
Sein Herz schlägt -
unter einer ehrlichen Haut.
Einsame Menschen, Berlin: Zusammenhang
@schreiber: hat das irgendwas mit dieser inszenierung zu tun
Einsame Menschen, Berlin: seltsam
@ ???: Das frage ich mich auch. Seltsam. Denn dieses Hauptmann-Stück handelt ja nun nicht allein von der Sache "des deutschen Arbeiters". Und warum soll der eigentlich eine "ehrlichere Haut" haben? Das Denken im Selbstwiderspruch ist wohl nicht jedermanns Sache. Schade.
Einsame Menschen, Berlin: Altmeister aus einer anderen Welt
Hat das irgendwas mit dieser Inszenierung zu tun?
(das klingt wie ein Hilferuf).
Das hat was, irgendwas mit Gerhart Hauptmann zu tun,
mit Brecht und Zuckmayer und anderen, denn:
unsere Altmeister
scheinen
in einer
anderen Welt
gelebt zu haben...
Einsame Menschen, Berlin: zwischen Stück und Zuschauer bleibt kaum ein Rest
3

Der Autor:

Genau so wie die Bühne vor allen Zuschauern offensteht, die Spieler öffentlich auftreten, genau so offiziös sind die meisten Stücke gebaut.
Man sagt gebaut, weil sie Beispiel geben wollen.
Die Geschichte hat ein Thema, das, wenn das Stück zu Ende ist, möglichst sauber und verständlich aufgezehrt sein soll.
Zwischen Stück und Zuschauer bleibt kaum ein Rest.
Es sind die alten Parabeln und Weltmodelle, die mich langweilen, die nichts mit meinem Leben als Mieter, Angestellter, U-Bahn-Benützer, Laborassistent oder Urlauber zu tun haben.
Unsere A l t m e i s t e r, die sie erfanden, sagen wir, um die Arme so weit wie möglich ausbreiten zu können,
ZUCKMAYER und BRECHT,
scheinen in einer anderen Welt gelebt zu haben,
wahrscheinlich auch nicht in der meiner Eltern, denn die kenne ich aus Erzählungen, außerdem gibt es davon noch Photographien.
Was sie mit meinen Eltern verbinden könnte, ist vielleicht der Glaube, die Hoffnung, eine bessere Illustrierung mit nach Hause tragen zu wollen.
Der eine stampft laut daher, tut, als könne er die Welt mit Löffeln fressen (Anmerkung: Zuckmayer tut wirklich so, und manch einer seiner Generation tat so ...), weil sie so prall und bunt sei, der andere (Brecht also), den man den Listenreichen nennt (Anmerkung: ich spürte, ahnte und sah seinen Listen-Reichtum in seinem Schreiben und Gesicht immer schon), obwohl er nie Chinese war oder Indianer, lächelt dünn und blättert in exotischen Umgebungen spielende Verhaltensweisen hin, die jeder versteht.
Die Soziologie hätte ihm besseres Material liefern können.
Die Autorität, die diese beiden Autoren mir unterschieben wollen
geht mich nichts mehr an.
Sie vertreten meine Sache nicht.
(Pause)
Ich könnte also wie die meisten meiner Freunde sagen, hören wir auf damit, lassen wir die Theaterblöcke stehen wie sie sind, gehen wir
ins Kino, schreiben wir unsere Prosa.
Und was das Geld betrifft, die diese vorzüglichen Architekturen zwischen Konstanz und Flensburg kosten mit Besatzungen, die Alters-
Versorgungen haben, nun, früher waren die Kirchen auch beliebter, sie werden immer noch restauriert.
Wer Opfer bringen will, denkt heutzutage eben an sein Auto.
Einsame Menschen, Berlin: vertreten unsere Sache nicht
Recht so. Die Autoren, Regisseure, Dramaturgen und Intendanten, die uns ihre Autorität unterschieben wollen, gehen und nichts mehr an!
Sie vertreten unsere Sache nicht!
Einsame Menschen, Berlin: anarchistisch angehauchter Nihilismus
@ Carl Gusatv Schreiber: Und auch ich würde gern von Ihnen wissen: Wo ist jetzt Ihr Fokus? Könnten Sie sich konkret auf die Inszenierung beziehen? Wissen Sie, wie Sie klingen? Irgendwie ebenso nihilistisch (Stichwort: fin de siècle) bzw. um sich selbst kreisend wie die hier angelegten Figuren-Monaden. Was bewirkt Ihr anarchistisch angehauchter Nihilismus? Verändert das was? Zitat Paul Virilio:

"Es ist in der Tat kaum von der Hand zu weisen, daß sich hinter der Maske des Modernismus der herkömmlichste aller Akademismen verbirgt: derjenige der Wiederholung von Meinungsstandards, die Duplizierung 'schlechter Gefühle', die eine exkate Wiederholung der 'guten Gefühle' der offiziellen Kunst früherer Tage ist. Es dürfte kaum zu übersehen sein, daß die offensichtliche Gottlosigkeit der zeitgenössischen Kunst nichts anderes ist als die Umkehrung der geistlichen Kunst, die Verkehrung der Grundfrage des Schöpfers: warum gibt es überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?"
Einsame Menschen, Berlin: NV Bühne
NV Bühne, § 61, Absatz 3, Satz 2:
Besteht das Arbeitsverhältnis am Ende der Spielzeit ununterbrochen mehr als fünfzehn Jahre (Spielzeiten) und hat das Solomitglied in dem Zeitpunkt, in dem die Nichtverlängerungsmitteilung spätestens zugegangen sein muss (Absatz 2), das 55. Lebensjahr vollendet, kann der Arbeitgeber eine Nichtverlängerungsmitteilung nach Absatz 2 nur aussprechen, um das Arbeitsverhältnis unter anderen Vertragsbedingungen bei der (den) im Arbeitsvertrag angegebenen Bühne(n) fortzusetzen.
Einsame Menschen, Berlin: heute schreibt man nicht so
nihilismus sehe ich da keinen
was kann man sich dabei auch denken
hat der schreiber den 68er text selber erfunden (wäre irgendwie genial), oder verwendet er einen text von einem 68er
kein mensch schreibt mehr so heute
würde ich sagen
Einsame Menschen, Berlin: schlechterdings destruktiv
Paul Virilio (17.):
Die restlose Durchleuchtung des Realen mittels der Lichtgeschwindigkeit der Information ist schlechterdings destruktiv.
Sie ist - in einem wortwörtlichen Sinne - apokalyptisch.
Abgewandelt, könnte man auch sagen:
Die restlose Durchleuchtung des Theaters mittels der Lichtgeschwindigkeit der Information (durch Nachtkritik) ist schlechterdings destruktiv.
Sie ist in einem wortwörtlichen Sinne apokalyptisch.
Einsame Menschen, Berlin: Theater kann nicht stehen bleiben
Seit 67 sind beinahe 45 Jahre vergangen. Eine lange Zeit.
Das Theater hat sich geändert und verändert. Hat es sich viel verändert, oder wenig? Worin hat es sich verändert, verwandelt?
Was ist besser, freier, was ist anders geworden am Theater?
Theater kann nicht stehen bleiben -
- so wie sich der Erdball dreht, dreht sich - ja, die alte Drehbühne...
Einsame Menschen, Berlin: Trost sollen die Altmeister spenden
4

Der Autor:

Und trotzdem, bei jedem bleibt eine kleine Sehnsucht im Winkel zurück, ein restaurativer Rest, jeder hat wenigstens einmal ein Einakterchen geschrieben, mancher ein Stück.
Es ist nicht die berüchtigte historische Theater-Lust, die ihn dazu antrieb, als Pickelhering den Leuten eins aufs Maul zu geben.
Gegammelt haben wir alle, einige haben als Provos selbst Schläge bezogen. Wir möchten unsere Sachen vor uns sehen.
Offen liegt die Bühne da, überwältigt nicht mit einem Überangebot an Bildern wie im Kino, die uns füllen, auf die Straße zurückjagen und allein lassen. Die Totale der Bühne bietet genau den langweiligen Raum, den ich brauche, um mein Material auszubreiten.
Endlich kann ich mit den Leuten reden, wenn ich die Spieler da vorn sprechen lasse. Denn sie sollen sich nicht von denen unterscheiden, die unten sitzen, das besorgt schon das Podium.
Es ist wichtig, daß ich viel sage(!!!).
Die Geschichte, die ich mir ausgedacht habe, kann zwar nicht so verzweigt, verfilzt, durch Zeit gedehnt gebracht werden, wie sie sich in Wirklichkeit ereignen könnte, sie ist ein wenig präpariert.
Dramaturgen würden sagen, in dem Stück müsse noch viel gestrichen werden, um den Kern herauszuschälen.
(Anmerkung: das sagen die Dramaturgen immer zu (besonders bei einem für den es wichtig ist viel zu sagen). Und dann erst die Regisseure: streichen, streichen, streichen!)
Genau das darf nicht passieren(!!!).
Wie könnte ich es wagen, den Zuschauern ein abgekartetes Spiel anzubieten, obwohl sie es viel besser wissen.
(Anmerkung: man stelle sich vor, die Zuschauer wissen es viel besser als der Autor, der Dramaturg und der Regisseur!)
Ein Mörder ist ein Mörder, erklären sie, ein Mensch ist ein Mensch.
(Anmerkung: wie müssen die Zeiten gewesen sein, als die Zuschauer noch erklärten, erklären konnten: ein Mensch ist ein Mensch!)
Ihre Gemeinplätze sind auch die meinen(!), ich weiß nicht mehr als sie.
Ihre Hoffnung darauf, daß ein Mörder auch ein Mensch sei, kann ich nicht erfüllen. Trost sollen die Altmeister spenden.
(Anmerkung: Und diese spenden auch Trost, und daher sehen manche sie sich so gerne an. Vor allem in den konventionellen Inszenierungen).
Die Spieler der Stücke, die ich sehen möchte, sprechen beinahe wie wir.
Es ist zu spät, von Naturalismus oder Realismus zu reden, für die Gegenwart haben wir uns schon längst entschieden.
Der Autor hat nur zwei, drei Stunden Zeit für sein Material, das er ausbreiten will, er muß hetzen, schuften, schon eine Menge Personen wegschicken, die auf der Bühne keinen Platz mehr finden.
Die Geschichte fängt mühsam an.
Einsame Menschen, Berlin: thematische Nähe zu Musils Schwärmern
Christine Wahl spricht von einem recht konzeptionslosen Abend, am ehesten sei da eine "Rehabilitation der Ehefrau" auszumachen, Ernst Stötzner spiele in einer eigenen Liga, Johannes bleibe eine Nullstelle, wo es dann schlicht fraglich werde, wie der zu seiner Position als "Hahn im Korb" überhaupt kommen konnte bzw. wie er einen solchen Sog entfalten kann (ein anderer Kritiker sekundiert
etwa: So einer bringt sich nicht mit einem Sturz in den Müggelsee um). Irgendwie ist dies alles richtig beobachtet, denke ich, und dennoch geht es mir ganz ähnlich wie es in der Seidler-Kritik zum Ausdruck kommt: Der Abend erscheint mir zwiespältig (und "zwiespältig" im Sinne der Tip-Kategorien interessanter als "annehmbar"), der Freitod nach dem Muster "Klappe zu Affe tot" ("Klavierdeckel zu Mensch tot") ist irgendwie nicht von dieser Welt, dieser Delfter Happenwelt, und doch: der Abend berührt, ja, kann nicht so schnell abgeschüttelt werden, wirkt auf mich wie ein geschickter Coup von Stückminimalismus, der sowohl Lust auf die Langfassung im Text macht (ich kenne das Stück sonst nicht, ließ mir aber gestern erzählen, daß hier sehr beherzt gestrichen und gelungen modernisiert wurde) als auch auf eine Art Umwertung der Hauptmannschen "Züchtungsphantasien" im Stile -nicht einer Rehabilitation der Ehefrau- einer Revision der Ehe als Verwirklichung des Allgemeinen (im Kierkegaardschen Sinne) mitsamt der gleichzeitigen Skepsis, ob das Allgemeine hier als tathandelnd
(siehe "Religion der Tat" , auch hier deutet sich der Kierkegaardbezug an, "Religion der Tat" heißt es an einer Stelle des Stückes explizit) nicht immer Inkaufnahme einer "Suspension des Ethischen"
bedeutet. Sowohl die nichtreligiöse Partei (Anna, Braun) als auch die religiöse (der "Doppelstötzner") nehmen Johannes gegenüber eine Position an: Anna muß weg ! Die Personen handeln aus ihren jeweiligen Malerwinkeln und Strickbezirken, Küchennischen und Punktlandungen (der Vater) heraus, gerade nicht als teilnahmelose Gesellen, die sagen "X ist von übel, Y gefährlich", sie vollziehen sehr wohl persönlich fühlend die konkrete Gefahr von XY
(Johannes/Mann ...) nach, greifen ihr (erziehend) -wohlgar- sogar vor und schaffen möglicherweise (!) so erst den Über-Ich-Grund jener "Johannes-Gebrochenheit". Geschickt an der Inszenierung finde ich ja gerade, hier bewußt minimalisierend vorzugehen, also weder das Emanzipationsthema noch die Darwinismusverengung hervorzuheben, sondern meineserachtens bewußt an einem Punkt anzusetzen, der ebenso auf Sophiologie oder Mariologie oder gar Esoterik kommen könnte wie eben auf Emanzipation/Darwinismus, der Abend gelangt insofern in eine gewisse (gefühlte wie thematische) Nähe zu Musils "Schwärmern", aber ohne jene merkwürdige Besonderung der Personage (keine Musilschen Südländer, nein, Müggelseekahnfahrer ...). Der Minimalismus geht freilich auf Kosten des Soges jener "geheimen Retortenlehre" dieses deutschen Iwan, und natürlich ist es schwer, einer geschlechtlichen Spannung zu folgen, die auf der Bühne so nicht recht stattfinden kann (tatsächlich ging es mir vor allem mit dem Anselm-Darsteller der Bochumer "Schwärmer" zur letzten Goerden-Spielzeit so): andererseits leben wir in Zeiten, in denen ein Lars von Trier eine weitere "Trilogie" angesetzt hat (siehe Tip-Titelbild), deren zweiter Teil nunmehr Premiere haben soll in dieser Woche: sowohl bei von Trier als auch bei den "Ur-Vätern" Dreyer und Tarkowskij könnten wir ein wenig Anschauungsmaterial davon sammeln, worum es in der "Philosophie" des Johannes Vockerat gehen könnte, daß aber der Blick in den Abgrund auch derjenige sein könnte, der über die klinischen Ideen Alfred Loths unversehens auf eine Figur wie Theo Stör ("Der freie Wille") zurauschen lassen könnte. Ich jedenfalls hatte den angenehmen Eindruck, mit jenem gewissen "Touch" durch diesen Abend nicht allein gewesen zu sein (ich führte zB. hiernach ein Gespräch, welches diesen Eindruck erfreulich untermauerte): der Saal könnte sich zu diesem Abend also ruhig wieder ein wenig füllen, denn der Besuch war für einen recht frischen Abend an der Schaubühne ziemlich mau -dergleichen gibt es offenbar nicht nur in Rendsburg, trotz Kantine..
Einsame Menschen, Berlin: Trostspende
Die kindliche Lust zu sehen, zuzuschauen,
wie Pickelhering einem eins aufs Maul gibt -
es kann so wunderbar sein,
wenn die Altmeister Trost spenden
von der Bühne herab.

Gegammelt haben nicht alle,
und manch einer war nie Provos zugehörig,
und hat selbst nie Schläge bezogen,
und bleibt auch heute noch
mit seiner kleinen Sehnsucht
im stillen Winkel zurück,
und er nennt es Idylle,
nennt es sein privates Glück.
Einsame Menschen, Berlin: zur Entstehung des Dramas
Einsame Menschen: Drama
Entstehung:
Hauptmanns drittes reifes Drama wurde unter dem Titel "Martin und Martha" oder "Das Wunderkind" am 17. August 189O angefangen und schon am 23.November beendet. Seit dem Abschluß des "Friedensfests" hatte Hauptmann ein Liebes- und Lustspiel "Anna" begonnen und an den "Webern" weitergearbeitet, aber alles unterbrach er, um das vorliegende Werk in unglaublich kurzer Zeit zu schreiben, und zwar als sofortige Reaktion auf die Situation, die dem Drama zugrunde liegen sollte.
Im "Zweiten Vierteljahrhundert" erwähnt Hauptmann dieses Stück verhältnismäßig oft, aber trotz der rapiden Genese und der daraus zu schließenden Mühelosigkeit der Komposition wundert dies nicht, denn in diesem Stück bezieht sich Hauptmann zugleich auf seine unmittelbare Familie und auf Probleme, die ihm selbst in der Kindheit wichtig waren. Und schon 1895, also relativ kurze Zeit danach, aber auch nach solch bedeutenden Werken wie "Crampton",
"Die Weber", "Biberpelz" und "Hannele" kann er noch sagen:
"Meinen Erstling, "Vor Sonnenaufgang"...möchte ich am liebsten verleugnen. An allen anderen Stücken halte ich dagegen fest, und
nach wie vor sind mir die "Einsamen Menschen" das liebste."
In erster Linie handelt es sich um seinen Bruder Carl, dessen Situation er folgendermaßen wiedergibt:
"(Mary sagte,) daß Carl und Martha an Scheidung dächten. Carl hatte in Zürich eine junge Polin, eine Studentin natürlich, namens Anna
(= Josepha) Krzyzanowska, kennengelernt, war ihr in Marthas Abwesenheit näher getreten, ja hatte sogar mit ihr eine Sommerreise gemacht. Anna stammte aus vornehmen Hause, hatte sich als gläubige
Sozialistin von Eltern und Verwandten losgemacht und war, wie ich später mit Augen sah, eine junge Dame von Güte, Geist und Entschlossenheit, die, durchaus nicht als Schönheit anzusprechen,
doch bestrickende Reize ausübte. Nichts Gesuchtes war an ihr und somit eine ungesuchte, wunderbar kluge und klare Überlegungenheit.
Einsame Menschen, Berlin: Textflächen
Der 67er Autor:
Es ist wichtig, dass ich viel sage.
Dramaturgen würden sagen, in dem Stück müsse noch viel gestrichen werden, um den Kern herauszuschälen. Genau das darf nicht passieren.

Dazu über Jelinek Elfriede:
Eine Jelinek-Textfläche ist schon schiere Unendlichkeit. Und dann drei von der Güte! Textmassen stürzen über einen herein.
Litaneien begraben einen unter sich, üben Sog aus, nehmen den Atem.

Und weiter der 67er Autor:
Die Geschichte, die ich mir ausgedacht habe, kann zwar nicht so
verzweigt, verfilzt, durch die Zeit gedehnt gebracht werden,
wie sie sich in Wirklichkeit ereignen könnte, sie ist ein wenig präpariert.

(so wäre der 67er im Jelinek-Zeitalter der schier unendlichen Text-Flächen, vielleicht erfolgreicher als zu seiner Zeit - und präparieren können die heutigen Regisseure besser als die von damals auf jeden Fall...)

(Werter Schreiber, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir monologische Einlassungen dieser Art im Folgenden nicht mehr veröffentlichen werden. Dieser Thread dient der Diskussion über Friederike Hellers Hauptmann-Inszenierung an der Schaubühne. Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Einsame Menschen, Berlin: nur Ratlosigkeit
Friederike Heller reduziert Hauptmann, bis nicht mehr übrig ist. Kein Konflikt, kein Thema, über das nachzudenken lohnt, keine Idee, die nicht längst tot ist. Der Abend krankt daran, dass er mit dem Stoff nichts anfangen kann oder will, da ist kein interpretatorischer Ansatz, keine bestimmende Idee, nur Ratlosigkeit gegenüber einem Stück, zu dem sich kein Zugang findet. Die Themen verpuffen, die Figuren laufen ins Leere, die Konflikte bleiben Behauptung. Was Friederike Heller an Einsame Menschen interessiert haben mag, erschließt sich nicht, und so bleibt am Ende nichts als Belanglosigkeit. Und Ermüdung, trotz seiner gerade 100 Minuten Länge. Eigentlich schade.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2011/10/05/gerhart-hauptmann-einsame-menschen-schaubuhne-am-lehniner-platz-berlin-regie-friederike-hellmann/
Einsame Menschen, Berlin: Eine Frage der Fliesen
@ 27

"Man traut Jule Böwe garnicht zu, so blaß wirken zu können."

Soll sie Fliesen zertrümmern ??
Ich kann mir schon vorstellen, daß so manch einer -vielleicht sogar Sie- in dieser etwas beengten Küchenwelt nicht polternd und aufklärerisch hervorstoßen würd, sondern eher schon ein wenig blaß werden.

"Schaubühne und Wasserspiele" ??

Oder "Quadratspiele" (siehe "Kellerlochstück").
Ich finde in diesem Zusammenhang im übrigen sehr stimmig, daß die Bühne sich drehte, schlicht schon aus dem Grunde, daß es in den Ecken eine gewisse "Sitzstarre" gab. Auf diese Weise konnte uns jeder aus seiner Position heraus ansprechen. Im übrigen schien mir dieses Fliesenquadrat ein wenig auch vergleichbar zu wirken wie anderenorts der Laufsteg, hier als eine Art "Präsentierteller": Man konstruierte den jeweils anderen in der 3. Person, stellte ihn aus wie Ausstellungs-Modelle. Man kennt das zB. von Ausstellungsautos, die einem kreisend vorgeführt werden..
Einsame Menschen, Berlin: die Konfliktpunkte verschwinden
Lieber Arkadij, es gibt zwischen kompletter Abwesenheit und "Fliesen zertrümmern" schon noch ein paar Zwischenstufen :-) Böwe ist in dem Stück eine Non-Entität und das tut dem Abend nicht gut. Wenn ich den zentralen Konfliktpunkt praktisch verschwinden lasse, was bleibt dann?

Zum "Präsentierteller": Interessante Idee, die allerdings die schlechte Plakativität der Bühnensituation kaum aufhebt.
Einsame Menschen, Berlin: der unbewegte Beweger
zum Thema Präsentierteller: Das passt doch eigentlich gut zur Theorie des unbewegten Bewegers, formerly known as god. Bloß dass dieses Weltbild im Übergang zum 20. Jahrhundert obsolet wird, wenngleich eine allein naturwissenschaftliche Betrachtung des Menschen als mechanistisches Rädchen im Getriebe der Moderen (Industrialisierung, Verstädterung usw.) auch nicht unbedingt ertrebenswert erscheint. Ich würde mich in einer solcheraret verfahrenen Situation auch lieber hinter Texten verstecken anstatt Fliesen zu zertrümmern. Oder eben rausgehen.
Einsame Menschen, Schaubühne Berlin: Vergleich mit dem Film "Der freie Wille"
@ 29

Lieber Prospero, natürlich gibt es dazwischen allerlei "Graublautöne", da rennen Sie bei mir offene Türen ein, nur sah ich Frau Böwe erstens nicht als eine Nullstelle und zweitens als eine angenehme, gemessene, maßvolle und aufgeschlossene Person, mit der es nicht allzu unverständlich wäre, die Köpfe über Büchern zusammenzustecken. Ich erwähnte Glasners Film "Der freie Wille". Das hatte einerseits einen äußeren Grund, denn Mannfrau Vockerat erinnerte mich frappant an den Netty-Vater (auch so ein Vater mit "Mutterrolle": Manfred Zapatka) im Film, das empfand ich fast als einen Widergänger. Die "Einbruchstelle" bei der Schweizerin Jule Böwes, dort wo das Passivische der Figur (dies ist zweifelsohne hier sehr stark betont) ans Unbegreifliche, Bedrohliche, Selbstverletzerische grenzt: der Zungenkuß durch Ernst Stötzners Vater Vockerat. Auch hier gibt es eine Szene aus dem Film "Der Freie Wille", jene, wo Netty zu ihrem Vater zurückkehrt (Theo trennte´sich zuvor von ihr- der Rückfall), die mich sehr an die Situation dieses Zungenkusses erinnert. Ich glaube im übrigen, daß gerade von dieser stillen und dennoch zielgerichteten Art Annes ein großer Reiz ausgeht für die Käthe (Eva Meckbach), ein Brambardisieren über Emanzipationsideen und der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie (die heutzutage möglicherweise wieder für viel zu selbstverständlich genommen wird, by the way, ich sah den Abend ja gestern, ein Ella-Thema in "Unschuld"), eigentlich ging mein "Fliesenzerschlagen" als Bild in diese Richtung (das könnte zu wörtlich verstanden werden, denn an der Schaubühne gibt es durchaus mit Sarah Kane-Pflege genügend Linie für solcherlei Möglichkeiten), hätte ich da schlicht als störend und inkonsequent empfunden.

"Raus hier" ! sprach weiter oben von den Männern und den zwei Frauen !
Nun, muß das von den (!) Männern ausgehen ?
Was, wenn ich hier gestehe, daß mich nur die "Hure", nicht die "Mutter" interessiert ?
Wie schaut eine Frau aus der Wäsche, wenn ich sie ausschließlich auf "Mutter" hin betrachten, geradezu abklopfen wollte ??
Sind uns diese groben Distinktionen "Hure/Geliebte/Köpfezusammensteckichwachsmitdiraufmädchenfrautraumgaukelding" und
"MUTTER/"AVE MARIA" wirklich schon so hinreichend obsolet geworden
wie es sich allemal für "tote Ideen" gehörte ???
Ich bezweifle das, und der Abend nährt meine Zweifel..
Einsame Menschen, Berlin: altbekannte Frage
@ Arkadij Zarthäuser: Was hat jetzt Matthias Glasners Film "Der freie Wille" mit Gerhart Hauptmanns "Einsamen Menschen" zu tun? Vielleicht doch lieber beim Thema/Stücktext bleiben. Soll heissen: Die Figur Anna Mahr ist als Gegenpol zum "Muttertier" Käthe Vockerat nicht als "Hure", sondern als Studentin angelegt. Es geht hier nicht um Körperlichkeiten, sondern um den geistigen Austausch und damit um die altbekannte Frage, ob Mann und Frau Freunde sein können, ohne dass ihnen das Erotische bzw. die Eifersucht dazwischenfunkt.
Einsame Menschen, Berlin: merkwürdige Gerührtheit
Warum nicht auch "Freunde sein können", wenn das Erotische bzw. die Eifersucht dazwischenfunkt, zum Teufel ?! Sie erteilen Ratschläge, ich lege Ihnen Rohmers "Sommer" ans Herz. Im übrigen schrieb ich "Hure" bewußt in " ", und ich habe kurz an zwei Stellen umrissen, wie ich "Auf der freie Wille" gekommen bin: die Geschichte der Netty ist im übrigen ausdrücklich als "Emanzipationsgeschichte" angelegt (siehe Feinkost-Schokoladen-Ausbildung in Belgien), auch fehlen nicht die Züge, gerade nach der Möglichkeit der Freundschaft zwischen Frau und Mann zu fragen (Kennenlernszene "Ich mag Frauen nicht besonders" bishin zum "Ave Maria" in Belgien). Auf den Stücktext an dieser Stelle zu verweisen ist zudem etwas eigenartig, denn es ging hier ja gerade um den Minimalismus, die Reduktion und für Prospero um eine regelrechte thematische Nullstelle; im übrigen bitte ich darum, wenn ein Stück bei mir Anmutung von Verwandtschaft zu anderen Werken auslöst und ich meiner (merkwürdigen) Gerührtheit durch den Abend nachgehe, mir nicht vorschreiben zu wollen, woran ich mich zu halten habe. Ob Sie sich nun "Raus hier !" oder Inga oder oder nennen, es ist auch eine altbekannte Frage, ob es nicht gelegentlich gelingen kann, zwei Ansichts- bzw. Zugangsweisen nebeneinander stehen zu lassen, selbst wenn einem der (in diesem Falle) Vergleich nicht aufgehen will..
Einsame Menschen, Berlin: Freiheits-Träume
@ Arkadij Zarthäuser: Es ist gar nicht mein Anliegen, Ratschläge zu erteilen. Ich schlage bloß vor, beim Thema/Text zu bleiben. Darin finden sich nur einige wenige Hinweise darauf, was Anna und Johannes eigentlich aneinander finden, abgesehen vom (fehlenden bzw. verdrängten) Erotischen, was am Ende Mannfrau Vockerat (Ernst Stötzner) stellvertretend übernimmt bzw. seinem Sohn vorführt und diesen damit symbolisch kastriert. Ödipuskomplex als Stichwort. Der Sohn identifiziert sich mit den überkommenen Idealen seiner Eltern und projiziert auf Anna seinen Traum von Freiheit, Unabhängigkeit, Freundschaft. Doch setzt er diese Vorstellungen von einem anderen Leben nicht in die Tat um. Das wird auch Anna zunehmend bewusst, weshalb sie sich in sich selbst zurückzieht und schließlich abreist.
Einsame Menschen, Berlin: Nähe und Entfernung
@ Raus hier !

Was heißt denn, daß Johannes das nicht in die Tat umsetzt ?
Genau das tut er doch eigentlich. Warum sollten wir "seine Sicht" der Dinge so schnell auf "Verdrängtes, Gestautes" reduzieren ??
Er hat mit seiner Frau ein Kind gezeugt, hat er !!, dessen Taufe ihn überaus am Herzen liegt, oder ?! Er rügt den Maler-Freund diesbezüglich streng ! Und: Ich denke zudem schon, daß Johannes Käthe liebt und Anna (ge- ???) braucht, sich als Ehemann Käthes versteht.
Die Welt um ihn herum macht da nicht mit, was nicht vollends unverständlich erscheint und "uns" im Publikum immer den Ecken des Quadrates näher sein läßt als der Mitte. Freilich, die Spannung hat auch damit zu schaffen, daß uns nichts so weit entfernt sein kann wie diese Eckpositionen - mit dieser Nähe/Entfernung hat die Drehbühnenidee in diesem Falle aber gerade ganz konkret zu schaffen, denke ich.
Einsame Menschen, Berlin: Liebt Johannes Käthe?
@ Arkadij Zarthäuser: Welch unterschiedliche Interpretationen dieser Abend also eröffnet. Ich habe das ganz anders wahrgenommen. Ich würde Johannes eher als Religionsskeptiker bezeichnen, was in folgender Passage deutlich wird:

"Aufrichtig gestanden, Braun... du sprichst so von der Taufe... Wie ich zu der Sache stehe, weißt du. Jedenfalls nicht christlich."

Johannes Vockerat steht eher in der Tradition Goethes: Natur und Welt sind ein geordneter Kosmos, "Gott ist Natur!" heisst es an anderer Stelle, das heisst es geht um die Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem Weltkosmos, der Weltseele. Man könnte hier vielleicht auch von Kants "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir" sprechen. Bloß dass das eben doch nicht so einfach aufgeht.

Denn dass Johannes Käthe liebt, das ist auch Anna klar, aber um welchen Preis. Würden Sie die folgenden Worte Johannes' gegenüber Käthe als Liebe bezeichnen?:

"Na ja! Du hast eben immer deine Familieninteressen, und ich habe allgemeine Interessen. Ich bin überhaupt kein Familienvater. Die Hauptsache ist für mich, dass ich das, was in mir ist, rausstelle. [...] Anna hat ganz Recht. Die Küche und die Kinderstube, das sind immer noch eure Horizonte."

Wie verhält sich das eigentlich gegenüber seiner Rede von der Freundschaft als Basis der Liebe zwischen Mann und Frau? Johannes braucht Käthe als "Muttertier" und Anna für seine geistigen Interessen. In meiner Wahrnehmung geht es hier um den zwiegespaltenen Mann, welcher in seinen Vorstellungen zwar der geistig und materiell unabhängigen Frau (Anna) zugetan ist, letztlich aber doch nicht anders kann als die traditionelle Rollenaufteilung seiner Eltern fortzuführen. Das ist natürlich tragisch, aber ob Johannes sich deswegen umbringt, das bleibt in der Inszenierung von Friedrike Heller offen. Stattdessen bleibt er einfach stumm und lethargisch auf dem Stuhl in der Mitte der Drehbühne sitzen.

Fazit: War im Anfang jetzt das Wort oder die Tat? (frei nach Goethe, siehe auch die Künstlergeschichte von Garschin, abgedruckt im Programmheft)
Einsame Menschen, Berlin: Vergiftung
@ Raus hier !

Ich sah das schon als Selbstmordende -vielleicht habe ich mich da von der verzweifelt schreienden Käthe zu sehr beeindrucken lassen, aber ich sah das Ende nicht offen, Käthe schreit lange und findet nicht.
"Nicht christlich" und "am Herzen liegen" (wie ich es schrieb) schließen einander ja nicht aus, ähnlich fasse ich das bezüglich des von Ihnen gebrachten Zitates auf: freilich hat diese Art der Liebe eine krude Anmutung (gerade für heutige Ohren), aber Hauptmann scheint es im Leben recht ähnlich gehalten zu haben (wie oben angemerkt wurde). Selbstmord dann wohl auch eher, weil Johannes seine Idee ad absurdum geführt sieht qua der "Zungenkußszene", ich denke, es grenzt an Widersprüchlichkeit, anzunehmen, dieser nach "geisiger Liebe" Trachtende leide hier lediglich eine (freudsche) Kastration:
die tritt freilich unterschwellig noch hinzu und vergiftet den Glauben an die eigene Idee, indem Johannes nicht mehr diese findet, sondern immer nur noch in seinen Augen Kleinliches, immer immer !, mag sein, daß die vorübergehende Trübung des Bühnenwassers mit dieser "Vergiftung" einhergeht..
Einsame Menschen, Berlin: Johannes als Fixstern
@ Arkadij Zarthäuser: Ich weiss nicht, aber ich hatte schon Probleme, das definitiv als Selbstmord zu sehen, zumal Johannes die quadratische Bühne ja nicht verlässt, sondern einfach stoisch darauf sitzenbleibt. Für mich eröffnete sich darüber ein metaphorisches Bild: Johannes als der Fixstern, um den alles kreist, obwohl er selbst nichts dazu tut bzw. tun muss.

Kann dieses hysterisch-verzweifelte Schreien von Käthe folglich nicht auch bedeuten, dass ihr bewusst wird, dass sie ihren Mann als geliebten (und nicht nur funktionalen) Lebenspartner bereits verloren hat?

Am Ende geht es um die Liebe der Eltern, wodurch Johannes gebrochen worden sei. Wie ist das zu verstehen? Dass diese Liebe der Eltern im christlichen Weltbild steckengeblieben ist, inklusive der Vorstellung, dass das sinnliche Begehren (bereits das Anschauen!) eine Sünde sei, weshalb man die Kinder ja auch taufen müsse, um sie von vornherein von der Erbsünde reinzuwaschen? Johannes glaubt zwar nicht mehr an dieses Weltbild, aber schafft es auch nicht, sich von diesen elterlichen Vorstellungen (Stichwort: Über-Ich) zu befreien. Stattdessen träumt er sich mit Anna in eine ideale Welt hinein, in welcher der (eigene und fremde) Körper und die soziale Gemeinschaft völlig aussen vor bleiben, in welcher auch das "soziale Elend" der Arbeiter völlig aussen vor bleibt, welches in der Künstlergeschichte von Garschin (kurz angesprochen zwischen Braun und Anna) thematisiert wird.

Da entstehen für mich offene Fragen, welche man sich auch heute noch stellen kann und muss: Geht es im Leben und in der Kunst nur um die Durchsetzung der eigenen Ideen und Lebensziele oder nicht vielmehr immer auch um das Engagement und Verantwortungsbewusstsein für die umgebenden Verhältnisse, inklusive der Selbstreflexion in Bezug auf die innerfamiliale Rollenverteilung? Diese individuelle Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben und die Mitmenschen ist etwas anderes als der (blinde) Gehorsam gegenüber einem gebietenden und verbietenden Gott, von welchem Mannfrau Vockerat spricht. Dadurch werden die Seelen vergiftet, dadurch wird die Liebe gebrochen, indem man Gott nur einsetzt, um besser über andere herrschen bzw. Autorität ausüben zu können.
Einsame Menschen, Berlin: Anna als die neue Qualität des Miteinander-Seins
Die Sehnsucht, durch den seelenvollen und bewußten Blick eines Gegenübers im Sein erkannt, geachtet und beantwortet zu werden, lebt in jedem Menschen - also auch in den Protagonisten des Stückes. Anna verkörpert dieses bedingungslose im Herzen Annehmen-Können: "Ich habe sie eben auch lieb gewonnen" und alle Anderen, die in ihren Rollen immer wieder dieselbe Platte abspielen im selben wiederkehrenden Stück seit Jahrtausenden, sind diesem "Zauber" erlegen und blühen auf.... selbst der Vater küßt sie und verbindet sich so mit ihr d.h. er lebt noch. Anna als die neue Qualität des Miteinander-Seins, die bedingungslos mit-sein kann, die aber unverstanden wieder gehen muß, in die Wüste geschickt wird ..... auch seit Jahrtausenden. Johannes stirbt bzw. stellt sich außerhalb dieses ewigen Spiels, weil er erkannt wurde und so erkannt hat. Einsam ist man so oder so - unfrei in den Rollen und frei außerhalb .... sei denn eine Anna blickt einen an.
Das habe ich verstanden aus dem Stück und fand es sehr sehr toll: die Bühne, die Schauspieler, das Spiel, das durch Dialoge Räume und Zeiten kreiert ...Theater vom Feinsten.
Einsame Menschen, Berlin: gesellschaftspolitische Pflicht der Kunst?
@ Raus hier !

Gewiß, auch das ergibt einen plausiblen Grund zu schreien, wenn zu Bewußtsein kommt "Du bist tot für mich !" (wie es in "Gier" von Sarah Kane heißt, ich sah das gestern), wenn -wie es dort an anderer Stelle auch heißt- jemand stirbt, ohne daß ein Toter zu beklagen wäre. Aber, ich fand schon, daß Käthe Johannes suchte, hin und her, im Quadrat sozusagen alles absuchend, lief und "Johannes, Johannes" rief, nicht wie jemand, dem jetzt zu Bewußtsein gekommen wäre, daß es zu spät ist, sondern wie jemand, dem schlagartig klar wird, daß dies droht und zwar in jeder Hinsicht unwiderruflich. Den Bezug zur Garschin-Geschichte, muß ich gestehen, habe ich für mich noch nicht vollends aufgearbeitet, will sagen, bislang verabsäumt, hier noch einmal nachzuhaken und das Programmheft dahingehend zu konsultieren -möglicherweise gibt mir das noch einen anderen Akzent von der Sache, denke jedoch, daß Hauptmann in dieser Inszenierung nicht weniger "nach der Relgion"
interpretiert wird wie "vor jeglicher Psychologe" und das bewußt in einer Zeit, in der sich mitunter Anzeichen (und zwar durchaus reaktionäre) auffinden lassen, daß sie sich quasi "vor der Religion" und "nach jeglicher Psychologie" einzurichten beginnt.
Nun bekommt die "Waschmaschine" oder "Geschirrspülmaschine" in dieser Inszenierung ein empfindliches Leck, die Großküche Schaubühnensaal steht fast gänzlich unter Wasser, zwei Kriege, kalter Krieg, Geschlechterpolitik fest verankert in ideologischen Blöcken allenthalben, mehr als ein Jahrhundert ist in Frage gestellt, ob es uns in Fragen "Freundschaft zwischen Mann und Frau" auch nur ein
Stück weitergebracht hat trotz (!) der sozialpolitischen Emanzipation der Frau(en). Sie liegen meineserachtens schon richtig, hier nach der gesellschatspolitischen Pflicht für die Kunst zu fragen (das schien mir die Aufführung in der Tat ua. durch die Garschin-Geschichte, aber auch durch die Mutter-Vockerat-Vorwürfe an den Sohn, nichts aus seinen ofensichtlichen (?) Talenten zu machen, das gebraucht (!) werden könnte, sei es auch nur pekuniär einträglich und für die Familie), Hauptmann fragt halt auch nach der anderen, der jeeigenen Gewissensplicht, Freiheit nicht auf politische Freiheit reduziert zu verstehen, und da ist er von einem anderen biblischen Thema "Was nützte es, wenn ich die Welt gewönne, aber Schaden an meiner Seele nähme ??" nicht allzuweit entfernt. Ob sich, nennen wir es hier einmal so, "Glauben" und "Werke" wirklich so trennen lassen, wie wir es vom "Sola fide" Luthers her beispielsweise kennen, bleibt fraglich, Johannes jedenfalls kann ein Auseinanderfallen in seinem rigoristischen Ansatz nicht ertragen, ansonsten könnte er Käthe ja einfach ziehen lassen und auf das innere, das platonische Band schwören. Käthe geht meineserachtens aber weniger, weil sie hier spürt, wie bei Johannes alles äußerlich und nicht zur Tat schreitend sich verhält, sondern tatsächlich, um ua. Käthe zu schonen. So sehe ich Johannes "Selbstmordgründe" sich auch doppelschrittig vollziehen: Mit dem Zungenkuß mag sich Anna ja noch auf die Ebene Käthes begeben haben; von dieser aber meint Johannes eine Frau durchaus heben zu können, doch vollzieht Anna auch geistig die regide Trennung von Johannes: hiermit wird sein "System" haltlos, er schrumpft auf das zusammen, was er tut bzw. getan hat (um noch einmal bei Sarah Kane eine Anleihe zu machen): herzlich wenig. Er erfährt sich als irreversibel gebrochen. Allerdings bekamen wir für diesen (wohl letzten) Schritt in der Tat wenig konkretes Futter geboten, deshalb spreche ich ja unentwegt von der "merkwürdigen" Rührung durch diesen Abend (aber ich werde mir die Garschin-Geschichte und in Kiel auch das Drama in ganzer Länge noch einmal gesondert vornehmen, "muß" jetzt zu den
"Kindern der Sonne")..
Einsame Menschen, Berlin: die beste Zeit für Kommentare
Naja, jetzt verwechsle ich hier mehrfach Käthe und Anna, au weia.
Muß natürlich heißen "Anna ziehen lassen usw.". Wäre es wirklich 17:54 Uhr gewesen bei meinem Posting, so wäre das vermutlich nicht passiert, aber da es 18:54 Uhr heißen müßte, fürchtete ich ein wenig, zum DT hasten zu müssen, dann hakten auch noch einige Buchstaben aus, die getippt einfach geschluckt wurden, so kurz vor einem Theatertermin werde ich wohl fernerhin nichts mehr in die Tasten hauen. Möglicherweise, ein(e) Schelm(in) könnte das jetzt denken, wenn hier Leute anfangen selbst Anna und Käthe nicht mehr auseinanderhalten zu können, steht Johannes dann ja irgendwann wieder von seiner zusammengefallenen Lage her auf, die soetwas wie ein langer Theaterschlaf gewesen sein mag, und beginnt Nachtkritik-
kommentare zu schreiben ! Bei nk jedenfalls scheinen die Uhren anders zu gehen: war Herr von Trier auf Visite ??
Einsame Menschen, Berlin: die Widersprüche des Kesselflickers
@ Arkadij Zarthäuser: Muss man sich den Glauben bzw. das Glück (pekuniär) verdienen? Hat der in der Künstlergeschichte von Garschin dargestellte Kesselflicker die Ausbeutung und Entfremdung seiner Arbeitskraft verdient? Irgendwas stimmt hier doch nicht, oder? Geht es in der Künstlergeschichte von Garschin nicht um den Widerspruch zwischen dem Schönen Wahren und Guten als abstraktem Ideal und dem Realistischen als konkretem und in seinen inneren und äußeren Widersprüchen dargestelltem Leben?
Einsame Menschen, Berlin: über Bilder
@ Raus hier !

Eigentlich müßte ich darauf antworten, daß ich den Kesselflicker ja nicht kenne, selbst wenn ich ihn als "Auerhahn" ähnlich zu zeichnen/malen verstünde wie Rjabinin (entdeckt die Malerei hier "anders", auf die nur ihre Weise (die) Wahrheit, so gibt es freilich gegenüber der Kesselflickerei einen Überschuß dieser Kunst, oder endet diese mit dem letzten "Auerhahn(verwandten)", und muß ich nicht auch diese Wahrheit -wie auch die Sätze der Logik- letztlich glauben ??). Irgendwie gehe ich davon aus, daß Ausbeutung und die Entfremdung seiner Arbeit niemand verdient hat, aber das läßt sich auch leicht sagen oder schreiben, und mancher mag ja geradezu in Gottergebenheit schuften und/oder aus selbstverschuldeter Unmündigkeit heraus, oder aber wüßte garnicht, was jetzt "Ausbeutung" und "Entfremdung" daran wären. Passiert nicht Johannes (aus seiner Sicht) gerade dies, daß er gewissermaßen seinen "Auerhahn" zum "Lebenswerk in progress" gemacht hat und dann der worst case eintritt, indem gerade der (!)
"Auerhahn" selbst sein Werk verwirft ?! Stellen wir uns Djedow und Rjabinin doch bei einer zweiten Begehung des Kesselflickerwerkes vor: mittlerweile konnte Djedow als einflußreicher Künstler dort eine Ausstellung bewerkstelligen mit allerlei Bildern aus der Akademie. Rjabinin muß jetzt gewärtigen, wie seine (??!.) Auerhähne von Bild zu Bild streifen und von einer Landschaft zur nächsten die Augen rollen, dann aber unversehens das Bild "Der Auerhahn" erblicken und fordern, diesen als "Verrat" ihrer Arbeit bitte schleunigst zu beseitigen. Gut, dieser Fall ist (wirkt) konstruiert, aber passiert Johannes hier nicht gerade ganz Ähnliches (wenn wir bereit sind, ihn jetzt als Rjabinin-Typus aufzufassen : Kesselflicker und Weber zB., das muß ja auch nicht allzuweit auseinanderklaffen) ? Rjabinin kommt zwar zur Ansicht über seine Malerei gerade in jenen Stunden, in denen sein Leben gerade nicht mit der Malerei zusammenfällt, konstatiert aber wiederum, daß, wenn er malt, quasi sein ganzes Leben darin liegt und aus dem Prozeß heraus sich eine Eigengesetzlichkeit dieses Lebens herausschält. Nun, bei Johannes ist diese Trennung von Leben und Werk offensichtlich noch schwieriger, eigentlich wirkt es fast so, als müsse er seine Schrift (er will ja schreiben, nicht malen) sogleich stante pede verkörpern, seine "Philosophie" geht dann dem seltsamen Begriff "Lebensphilosphie" entgegen und philosophiert dann schon fast sprichwörtlich mit dem Hammer (im Porzellanladen der Inszenierung). Sein Lebensstil wird ziemlich tyrannisch im Grunde, theaterferner im übrigen kann man sich seine Lebensperformance garnicht vorstellen (und das Theater -hier die Schaubühne- "rächt" sich ein wenig, indem Johannes eher formal, weniger inhaltlich auf die Bühne gestellt wird (als Modell, auch hier die Anlehnung an das Modell in der Künstlerakademie)), kaum zu glauben, daß er angesichts der traurigen realistischen Einschätzung darüber, wie sich GaleriebesucherInnen seinem Bild nähern bzw. es schnell überfliegen würden, die (fast wieder verträumten) Sätze fände, die Rjabinin findet:"Vielleicht werden aber doch ein Jüngling oder ein junges Mädchen aufmerksam stehenbleiben und in den gequälten Augen, die leidvoll aus der Leinwand auf sie schauen, das Stöhnen lesen, das ich in sie hineingelegt habe ... ." Was, wenn jetzt ein Johannes eben gerne ein solcher Jüngling wäre, was, wenn er in Anna solch ein junges Mädchen zu finden vermeint, und sein eigenes Talent gerade dort zu liegen scheint, aufmerksam darauf zu werden, daß auch ein Rjabinin hier wieder so ein junges "Pärchen" skizziert ?..
Einsame Menschen, Schaubühne Berlin: die Frage der künstlerischen Form
@ Arkadij Zarthäuser: Mir wird nicht ganz klar, worauf Sie jetzt eigentlich hinauswollen. Ich lese die Künstlergeschichte von Garschin so, dass es darin um die Frage der künstlerischen Form in Bezug auf die Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen geht. Geht es um die Darstellung einer vermeintlich "ewigen Natur des Menschen", worüber dieser allein funktional bzw. in seiner gesellschaftlich zugewiesenen Rolle betrachtet wird (in Bezug auf Beruf und Geschlechterrollen)? Oder geht es um die Hinterfragung solch ideologisch fixierter Glaubens- und Weltbilder im Sinne eines Aufzeigens des Zusammenhangs zwischen politisch-ökonomischer Gesellschaftsstruktur bzw. dem Körper und auf der anderen Seite dem Bewusstsein des menschlichen Subjekts?

Soll die Kunst in naiver Form Schönheit, Harmonie und Wohlgefallen erregen? Oder soll sie zum Denken anregen bzw. Partei für soziale Misstände ergreifen? Unterliegt die Kunst einem allgemeinen Nützlichkeitsdenken? Sollte ein Künstler für die Allgemeinheit sprechen? Oder geht es nicht vielmehr um das einzelne Individuum, welches über die Wahrnehmung von Welt die Notwendigkeit zum (politischen) Engagement bzw. zu ihrer Neugestaltung und Veränderung verspürt und gar nicht anders kann als das (künstlerisch und/oder als Lehrer) in die Tat umzusetzen? Was hier allerdings niemand tut. Die Schauspieler sitzen im Grunde wie die Zuschauer auf ihren Stühlen fest, das heisst, sie müssten sich wie in einem wissenschaftlichen bzw. sozialen Experiment buchstäblich und metaphorisch bewegen, um Veränderungen anzustoßen. Es geht um die freie Entscheidung jedes einzelnen, etwas zu tun oder nichts zu tun.
Einsame Menschen, Berlin: Auffassungen statt Form
@ Raus hier !
Ich versuchte, eine Einordnung der Garschin-Geschichte in den Verlauf der Inszenierung "Einsame Menschen" an der Schaubühne vor-
zunehmen. Sie schreiben "Künstlerische Form", und es ist mir fast so, Sie folgten dem Holzschnitt Garschins, der ein wenig doch suggeriert, daß es hier ein einfaches "Ja" oder "Nein" zu sprechen und zu handeln gäbe. Für so "einfach" halte ich das alles nicht, zumal es ja historische Beispiele gibt von Systemen, die eine positive politische Aussage geradezu forderten und in denen dann die Ryabinins wiederum keinen Fuß auf den Boden bekamen, galt es dann eher zB., den Arbeiter in seinem Heldentum zu verklären. Auch sind die sogenannten "akademischen bzw. traditionellen" Formen keineswegs im luftleeren Raum entstanden und auf Glaube-Liebe-Hoffnungspflege naivster Lesart zu reduzieren. Im übrigen würde ich hier allemal lieber von "künstlerischen Auffassungen" handeln wollen, als hier von "Form" zu sprechen. Die Form scheint Ryabinin ja gerade nicht gesprengt zu haben, er erhält ja keineswegs einen Verweis oder dergleichen, sondern erntet einen Verriß durch L., der sich vor allem an der "Technik" (sei es ein Vorwand oder nicht) des Bildes entzündet. Würde man für die beiden Auffassungen "romantisch" und "idealistisch" setzen, käme man gewiß nicht minder ins schlingern, denn wo würden Sie jetzt Schiller sehen und seine "moralische Anstalt" ? Vermutlich doch eher bei den Ryabinins, oder ?? Gibt aber garnicht wenige andere Künstlerauffassungen in der Geschichte, die Schiller eher für einen Erz-Djedow halten würden bzw. gehalten haben, auch nicht ganz unbegründet. Die Pole Pflicht und Neigung sind da sehr beredt geworden, geradezu zur Intuitionenpumpe des schillerschen Werkes.
Wer einmal das Stück "Künstler" von Tankred Dorst gelesen oder gesehen hat (Gegenstand: Worpswede und zentral: der Aufbruch eines Künslers in das politische Engagement), wird gewiß kaum bei den garschinschen Distinktionen bleiben können. Andererseits scheinen "wir" hier auch wieder (ich empfinde das so) uns Gefilden zuzuwenden, welche schlichtweg durch die Inszenierung evoziert wurden, aber verschiedene andere Kommentatoren haben dies nicht unzutreffend angemerkt, nun gut, eine Frau bin ich jetzt aber eigentlich immernoch nicht ..., jedoch nicht (!) mehr, insofern werde ich mich jetzt (vorerst ?) aus diesem Thread verabschieden,
der GROßKÜCHE im WASSERSCHADEN..
Einsame Menschen, Berlin: Realismus-Fragen
@ Arkadij Zarthäuser: Ist Auffassung nicht Form, also wie etwas form-uliert wird, wie Inhalt und Form vermittelt werden, einerseits als idealistisch abgeschlossen und in Einklang gebracht, andererseits als offen und dem Widerspruch ausgesetzt?

Vielleicht geht es hier um die Frage des sozialistischen Realismus gegenüber dem psychologischen Realismus. Warum sollte es nicht im Schmutz Poesie geben dürfen? Liegen das Erhabene und das Hässliche/Lächerliche/Banale nicht oftmals nah beieinander? Die Kunst selbst ist nicht moralisch, sondern die Moral liegt - als Möglichkeit - in der Wahrnehmung und Entscheidung des Betrachters.

Vom Maler Braun sagt Anna, dass er kein starkes Individuum sei, weil er die Massen hinter sich fühlen müsse und dass er gewisse sozial-ethische Ideen implantiert bekommen hätte. Von Johannes sagt Braun, dass er Kompromissler (geworden) sei, sich von der Radikalisierung der Gedanken abgewandt und für die Norm und die Tradition das Wort geführt habe.
Liegt die künstlerische Freiheit (frei vom Denken in Kategorien von Ruhm und Karriere, frei von politischer Ideologie, frei von der Tradition) nicht also letztlich darin, sich zwischen Angst (Freiheit als Bedrohung) und Fanatismus zu bewegen, sich den Sinn seiner Existenz selbst zu geben? Anna spricht hier davon "die ü b e r t r i e b e n e Spannung" auszugleichen. Das heisst, sich nicht ganz von seinen Wurzeln abzuspalten, weil man sich dann auch von sich selbst abspalten würde. Das heisst, Wissen nicht nur um seiner selbst Willen anzuhäufen, sondern es auch zu gebrauchen, um Selbst und Welt neu zu gestalten. Ein neues Modell zu bauen, anstatt das alte zu bekämpfen. Verbindliche Sprachregelungen wären in diesem Zusammenhang auch ganz schön, denn dann könnte ich ihre "Großküche im Wasserschaden" besser verstehen.
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