Der Unvollendete

von Christian Rakow

Berlin, 15. September 2011. Man hätte es schon ahnen können, als man die Postkarte des Centraltheaters Leipzig zur aktuellen Spielzeit in den Händen hielt. In der Manier eines Cy Twombly kringelt sich dort auf weißem Grund eine schwarze krakelige Spirale abwärts. Von 2011 bis 2012, wo der Strich auffallend dünn wird.

ct-postkarte

Für Sebastian Hartmann geht es am Leipziger Theater vertragsgemäß noch bis zum Ende der Saison 2012/2013 weiter. Danach ist Schluss, nach fünf Cy-Twombly-mäßig turbulenten Jahren. Schade. Von Fahrten nach Leipzig war man in dieser Zeit stets ästhetisch erfrischt nach Berlin zurückgekehrt. Gleich, ob nach guten oder – das soll im Theater ja vorkommen – schlechten Abenden.

Fitnessprogramm in radikal modernistischer Ästhetik

Ein kühnes Experiment neigt sich hier dem Ende zu. Hartmann hat der – allein den Zuschauerzahlen nach – traditionell theaterunfreudigen Studentenstadt Leipzig ein Fitnessprogramm in radikal modernistischer Ästhetik verordnet und sie damit in die vordere Riege der deutsprachigen Theater zurückgespielt. Premieren in Leipzig sind wieder ein Muss für reisende Kritiker.

Zur innerstädtischen Anerkennung hat dieser überregionale Prestigeschub nur bedingt beigetragen. Nicht abgeebbt sind in Leipzig die Diskussionen um die Verengung des Stadttheaterprofils unter Hartmann, um zögerliche Publikumseinbindung oder um das Klima am Haus, aus dem führende Schauspielerinnen wie Anita Vulesica viel zu früh ausgeschieden sind. Sparzwänge und die drohende Spielstättenschließung der Skala, die Hartmann als Gründe für seinen Verzicht auf die Vertragsverlängerung anbringt, stellen lediglich Konfliktmomente eines umfassenderen Zermürbungskampfes um das Haus dar.

sebastian_hartmannSebastian Hartmann © Centraltheater Leipzig

Hartmanns Leipziger Handschrift

Die Bilanz wird beizeiten gezogen werden. Aber wie steht es um einzelne Argumente, die jetzt auch im Forum von nachtkritik.de vorgebracht werden? Hat sich hier eine künstlerische Monokultur ausgebreitet? Ja. Hartmann hat junge Regisseure wie Robert Borgmann, Mareike Mikat, Martin Laberenz oder Pernille Skaansar gefördert. Es sind Künstlertypen, die schon früh einen guten Schluck Dekonstruktion gekostet haben, die Werke stückeln, kommentieren und um drei Ecken winden. Zurückhaltende Erzähler wie etwa Tilmann Köhler oder Roger Vontobel, die in Dresden zum Erfolg des Neustarts unter Wilfried Schulz beigetragen haben, fehlen dem Leipziger Team, mindestens an zentralen Positionen.

Angesprochen auf Jorinde Dröse, die als Hausregisseurin in der ersten Spielzeit in Leipzig mit Die Schock-Strategie. Hamlet eine unvermutet verstörende Stückentwicklung vorlegte, während sie anderswo diskretere Arbeiten abliefert, meinte Hartmann einmal: "Ein Regisseur, der zu mir kommt, kommt in einer gewissen Grundspannung her. Das ist nicht der, der sich weich formulieren möchte". Auch wenn er sich stets dagegen verwahrt, dass das Centraltheater ausschließlich mit seiner Arbeit als regieführender Intendant identifiziert wird: Hartmanns Stil prägt das Profil entscheidend.

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"Pension Schöller". © Rolf Arnold

Als Regisseur hat Hartmann in den zurückliegenden Spielzeiten eine Serie von herausragenden Inszenierungen geschaffen. Es sind Werke eines vor Ort agierenden Künstlers, der die Reibung mit seinem Publikum sucht, der die Frage nach dem bürgerlichen Selbstverständnis so zartfühlend wie angriffslustig (bei Hartmann gibt es ungeachtet seines Brachialo-Images immer beides!) angeht. Derart konkret auf Leipzig zugeschnittene Sitten- und Gesellschaftsanalysen wie in Eines langen Tages Reise in die Nacht nach Eugene O'Neill oder jüngst in Pension Schöller nach Carl Laufs und Wilhelm Jacoby wären einem autonom tourenden Regiekünstler kaum mit vergleichbarer Dringlichkeit gelungen. Nicht von ungefähr hat sich für den improvisierenden, auf losen Verabredungen basierenden Schauspielstil in vielen Arbeiten das griffige Label "Leipziger Handschrift" durchgesetzt.

Kein Castorf-Epigone

Wer die Leipziger Werke anschaut, wird auch dem Epigonalitätsargument, das in Presse und nachtkritik-Forum gern bemüht wird, kaum trauen. Nein, Hartmann wandelt nicht als getreuer Erbe in den Fußstapfen Frank Castorfs. Sein Zugriff war schon immer subjektiver, seine Bildsprache arabesker. Hartmann ist im tiefsten Sinne des Wortes ein postmoderner Romantiker, von universalpoetischem Furor getragen. Wenn Hartmann das bürgerliche Individualitätsverständnis zu irritieren sucht, dann um offene, poetische Denkräume zu erzeugen. Philosophische Fragen nach Raum und Zeit prägen sein Werk (wie in Paris, Texas nach Wim Wenders) viel stärker als historisch konkrete Bestandsaufnahmen à la Castorf.

Fraglos sind dieses Unterschiede innerhalb eines ästhetischen Paradigmas. Und hier liegt die Crux. Leipzig hat auf höchstem Niveau eine Kunstform weiterentwickelt und universalisiert, die im Stadttheater gemeinhin nach Einbettung verlangt. Im Centraltheater fühlt man sich gelegentlich wie in einer Galerie, die ausschließlich Abstrakten Expressionismus zeigt. Es fehlt die gegenständliche Malerei als Kontext. Da hilft es auch nicht weiter, dass Gegenständliches – sprich: traditionell gearbeitete Dramatik – an nahezu allen Theatern außerhalb Leipzigs das herrschende Paradigma bildet. Theater funktioniert immer noch lokal – reisende Kritik hin oder her.

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"Paris, Texas" © Thomas Aurin

Bis das Chaos aufgebraucht ist

Eine Träne zum baldigen Abschied darf man gleichwohl verdrücken. Denn schön wäre es ja, wenn eine Kunstsprache wie diejenige Hartmanns oder Castorfs auch außerhalb Leipzigs zumindest punktuell überzeugend gepflegt würde. Doch weit gefehlt. Die Dekonstruktion ist in der Generation der um die 30-jährigen zum poppigen, ungefährlichen Anspielungs- und Spielchentheater verkommen. Es fehlen Leidensdruck und gedankliche Schärfe. Es fehlt auch das ebenso coole wie grenzenlos verausgabungsbereite Schauspiel dafür: Mit Peter René Lüdicke, Guido Lamprecht, Holger Stockhaus oder dem jungen Maxmilian Brauer hat das Leipziger Haus eine Vielzahl an unvergleichlichen Akteuren für seine Kunst gewonnen.

Im Februar 2012 wird Hartmann am Berliner Maxim Gorki Theater "Der Trinker" nach Hans Fallada inszenieren. Es wird ein Schaulaufen. Dass er einer der ernst zu nehmenden Kandidaten für die Nachfolge an der Volksbühne ist, ist ein offenes Geheimnis. Für Leipzig stehen zwei weitere Spielzeiten experimenteller Grenzkunst an. Danach wird einzuschätzen sein, ob für Hartmanns Intendanz der alte Brecht-Satz gilt: "Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit."

 

Mehr zum Fall Hartmann: Eine Presseschau sammelt die Reaktionen. Was Sebastian Hartmann selbst zu seiner Entscheidung zu sagen hat, hat er dem MDR sowie der deutschen bühne verkündet. Im Oktober 2010 gab es zudem einen Leipzig-Schwerpunkt auf nachtkritik.de: Tobias Prüwer versuchte, sich und anderen die Aufregung um das Centraltheater zu erklären. Und Stefan Kanis dachte über die Verantwortung des Performers in Hartmanns Theater nach.

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