Jede Menge Jedermänner

von Caren Pfeil

Senftenberg, 16. September 2011. Wenn Intendant Sewan Latchinian in Senftenberg darauf verfällt, den "Jedermann" zu inszenieren, kann man sich denken, dass es dabei eher weniger feierlich zugeht. Und so fuhr ich mit der großen Hoffnung, diesen verstaubten Moralschinken einmal anders zu erleben, in die ostdeutsche Provinz.

Zum achten Mal eröffnete die Neue Bühne Senftenberg die Spielzeit mit dem GlückAufFest – auch diesmal wieder an ungewohntem Ort und mit hohem Eventfaktor. Allerdings konzentrierte man sich diesmal auf nur ein Stück, auf "Jedermann" von 1911, in der geradlinig-kantigen Fassung von Manfred Wekwerth. Verschnitten wurde es außerdem mit dem 2010 erschienenen Pamphlet "Empört euch!" des Franzosen Stéphan Hessel, in dem der einstige Résistance-Kämpfer im hohen Alter versucht, der rettungslos verlorenen Welt den Spiegel der Erkenntnis vorzuhalten. Das kommt in seiner agitatorischen Geradlinigkeit in etwa dem erzkatholischen Moralismus des "Jedermann" gleich. In Senftenberg wurde sozusagen versucht, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, womit wir schon mitten im Thema wären. Aber der Reihe nach.

Gott in der Tischtennishalle

Alles begann mit Latchinians traditionellem GlückAuf-Einläuten auf dem Theaterhof, dann stieg das zahlreiche Publikum in zweistöckige Shuttlebusse und ließ sich zum Spielort kutschieren, dem sagenumwobenen Snowtropolis – auch wenn die Theaterkritikerin aus der sächsischen Hauptstadt davon noch nie etwas gehört hatte. Aber wer fährt auch schon mitten im Sommer in einer geschlossenen Halle bei 12 Grad Minus auf Skiern einen Hang aus Kunstschnee hinunter? Und warum?

Zunächst saß man bei normalen Temperaturen in der Tischtennishalle. Alle schauten in Guckkastenmanier in die gleiche Richtung auf eine Bühne, die im Wesentlichen aus der Vorderfront eines Tiroler Einfamilienhauses der oberen Gehaltsklasse bestand, und erlebten den ersten Akt, wie man ihn kennt. Also: Gott schaut desillusioniert auf die Menschen, und es fällt ihm zu ihnen nichts mehr ein, als dass einer von den besonders Schlechten, der reiche Jedermann beispielsweise, mal eine Abreibung bräuchte. Der Tod soll ihn (vorfristig) holen und vor Gottes Gericht zerren.

Nönnchen auf Snowboards

Wie schon der Name unmissverständlich andeutet, gibt es viele Jedermanns, und so traten sie in Senftenberg denn auch zunächst in Masse auf. Über den ganzen Abend verteilt gaben sich fünf Exemplare dieser Spezies den Staffelstab in die Hand, was zunehmend interessanter wurde. Erstmal aber spielte man recht eindimensional am Text entlang, die Luft in der Halle wurde auch immer schlechter, Moralmief sozusagen. Nach einer Stunde hatte Jedermann den drohenden Tod erfolgreich verdrängt und lud zum großen Fest. Raus an die frische Luft und hinein in 12 Grad Minus und an den Hang. Die meisten Zuschauer hatten warme Sachen mitgebracht, außerdem gab es rote Ikea-Decken gratis, und sogar Glühwein, aber nur für diejenigen, die bummelten und nicht gleich brav, so wie die Eifrigen, die oberen Reihen erklommen hatten – wie ungerecht! Wie im wirklichen Leben.

Der zweite Teil war im Wesentlichen eine Show on Snow, mit Attraktionen wie Nönnchen auf Snowboards, einem Papppanzer, der sich den Hang hochquält, oder dümmlichen Werbesprüchen des Showmasters. Reich ist also nicht nur geil – siehe Buhlschaft, mit dunkler Haut und im Glitzerkleidchen, das sie erwartungsgemäß noch fallen ließ –, sondern auch noch doof.

Auf dem Höhepunkt der Dekadenz dann der Hessel-Text, von Heinz Klevenow mit der nötigen Dringlichkeit, aber glücklicherweise den schlichten Text nicht überfordernd auch schlicht gesprochen. Wirklich beeindruckend allerdings war eher eine echte Artistin, die waghalsig und elegant an einem Seil turnte – konzeptionell nicht unbedingt einleuchtend, aber sehr schön anzuschauen. Nach 45 Minuten hatte es in der Halle gefühlte 15 Grad unter Null, dafür wurde man draußen mit einer langen Pause belohnt, in der man essen, trinken und Geld ausgeben konnte.

Seelenkampf zwischen Melodram und Musical

Zurück in der Tennishalle war jetzt tatsächlich das langsame Sterben des Jedermann zu erleben, der um seine Existenz feilschte, bzw. am Ende nur noch um sein Geld. Und auf einmal wurde es spannend. Da war der Gute Gesell gar nicht mehr gut, weil er seinem Herrn mitnichten auf dessen Weg ins Jenseits folgen wollte, herrlich frech und ironisch: Juschka Spitzer. Da sprang die Regie unverschämt locker zwischen Melodram und Musical hin und her, ließ die Geldsäcke singen und tanzen, und entzauberte so den ganzen moralinsauren Kampf um Jedermanns Seele.

Die Allegorien Glauben und Werke, Tod und Teufel waren skurrile Figuren mit Riesenköpfen und handfesten Argumenten, während die Maschinerie zu Jedermanns Rettung im sehr heutigen Krankenhaus-Outfit erschien und einmal mehr deutlich machte: "wer Geld hat, hat auch den Krankenwagen" oder so. Die eigene Wirklichkeit wurde dabei frech zwischen die Hoffmannsthal'schen Zeilen gedichtet – und siehe da, der Stoff vertrug das gut.

Am Schluss erfanden die Lausitzer ihr ganz eigenes Ende für den Jedermann, sich selbstbewusst gegen das des Berliners oder gar Salzburgers behauptend: Der Senftenberger Jedermann kommt nicht in den Himmel. Und wenn doch, dann wenigstens nicht seine vielen Stellvertreter. Und derer gibt's genug in der Gegend.

P. S. Nach vielen Stunden Theater luden Schauspieler und Musiker noch zu einem Tanz des Lebens ein, für den ein scheinbar niemals müde werdendes Ensemble noch extra Tanz- und Gesangsnummern aus dem Hut zauberte und das Publikum zur eigenen Aktivität animierte. Hochachtung!

 

Jedermann
von Hugo von Hofmannsthal, Bearbeitung: Manfred Wekwerth
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung: Tobias Wartenberg, Musik: WALLAHALLA, Dramaturgie: Gisela Kahl, Choreographie, Stagemanagement: Ingo Zeisig.
Mit: Sybille Böversen, Eva Kammigan, Anna Kramer, Hanka Mark, Maria Prüstel, Juschka Spitzer, Catharina Struwe, Till Demuth, Berndt Färber, Heinz Klevenow, Roland Kurzweg, Marco Matthes, Friedrich Rößiger, Benjamin Schaup, Wolfgang Schmitz, Lutz Schneider, Mirko Warnatz, Alexander Wulke, Ingo Zeising und Statisten.

www.theater-senftenberg.de

 

Andere Jedermänner? Hier die Nachtkritik zu Christian Stückls Salzburger Inszenierung von 2010. Einmal ganz anders fasste Jürgen Kruse das Stück vom Sterben eines reichen Manns 2010 am Leipziger Centraltheater auf.

Kritikenrundschau

In der Lausitzer Rundschau (19.9.2011) schreibt Hartmut Krug: Sewan Latchinian hole das Stück "hinein in unsere Zeit" Der Reiche sei "kein einzelnes Individuum, sondern eine vielköpfige Menge". Dass "alle menschlichen Beziehungen kaputt sind", arbeite die Inszenierung im "munteren Schauspielerspiel" so "lehrstückhaft wie unterhaltsam" heraus. Das böse Spiel sei beherrscht von "Fun und Entertainment". In der Schneehalle präsentiere ein Entertainer "die korrupten Einflussträger der Gesellschaft" aus "Kirche, Industrie, Justiz, Militär und Medizin", während Nonnen, Soldaten und Krankenschwestern den Abhang hinunter snowboarden: "Eine Gesellschaft in Talfahrt". Latchinians "gesellschaftskritische Inszenierung" setze einerseits auf "effektvolle Unterhaltung", hole aber andererseits "das Geschehen immer wieder in die analytische Ernsthaftigkeit zurück". Der letzte Teil biete "schauspielerisch prägnante Momente". Und "wenn des Reichen Geldsäcke aus der Garage marschieren, dem Reichen aber die Gefolgschaft versagen, wird das Wesen der Geldgesellschaft in ein wunderbar komödiantisches Bild gefasst". "Der Abend: ein logistisches Meisterstück und enorm unterhaltsames Bedeutungstheater."

Die Regie befreie das Drama aus "seiner katholischen Umklammerung" und setze es als derb-deftiges Fastnachtsspiel in Szene, findet Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (19.9.2011). "Sewan Latchinian inszeniert das Ringen Jedermanns um Unsterblichkeit als 'Tanz des Todes', als bunten Reigen aus Revue und Drama, aus Persiflage und Komödie. Das geht schwer los, wirkt anfangs ziemlich dröge. Im 'Kühlschrank' passiert optisch mehr, so richtig heiß wird es aber erst im Schlussteil. Da stimmt alles: Tempo, Augenmaß, Absicht. In Salzburg kommt der bekehrte Jedermann in den Himmel. In der Lausitz auf den OP-Tisch, und dann holt ihn, unter starkem Beifall des Publikums, der Teufel."

Gerd Bedszent schreibt in der jungle world (21.9.2011): "Jedermann" gelte seit je her als "Selbstbeweihräucherung des Bürgertums". Latchinian nun, wolle das Stück aus seiner "katholischen Umklammerung" befreien. Dank Manfred Wekwerths Textbearbeitung und dank "gnadenloser Verulkung" des "Kultstatus des Stückes" sei ihm das weitgehend gelungen. Bei Latchinian sei Jedermann ein FDP-Yuppie, "überzeugt von der Allmacht seines Reichtums und erbarmungslos gegen alle Verlierer". Auszüge aus dem Manifest "Empört euch" hätten, obwohl es im Kern nur die Wiederherstellung des Sozialstaates fordere, die Zuschauer polarisiert. "Ein Teil reagierte mit frenetischem Beifall, andere mit eisigem Schweigen." Die Inszenierung nach dem "furiosen Spektakel" auf dieser Höhe zu halten, habe sich dann als schwierig erwiesen.

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