Den Pfeil auf die Sterne richten

von Marcus Hladek

Rom, 17. September. Wenige Schritte nur trennen das Teatro Valle, seit Mitte Juni Teatro Valle Occupato, von der Hauptachse der Innenstadt. Die feiert westlich als Corso Vittorio Emanuele die Gründermonarchie, ehrt ostwärts als Via del Plebiscito so schroff wie plötzlich deren Absetzung und erinnert mit der "Via delle Botteghe Oscure" an Zeiten, da die alte KPI hier saß. In Süd-Nord-Richtung geht es von der Macht der Kirche, nämlich S. Andrea della Valle, an einem faschistischen Prunkbau vorbei direkt zur Via del Teatro Valle.

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Warten auf Godot? Oder auf ein Ende der kulturpolitischen Hängepartie? Die Bushaltestelle des Teatro Valle. © Marcus Hladek

Dort nimmt derzeit, nach einer gedämpften Phase im traditionell "toten" Monat August, in dem Touristen und der Klerus das Stadtbild beherrschen, die Besetzung des Teatro Valle wieder an Fahrt und Wirkung auf. Seit Juni hatten die Wogen des römischen Mittsommernachtstraums das Thema bis auf die Seiten der New York Times und Libération gespült, die Besetzung zu einer Nachricht für die "prima pagina" der italienischen Zeitungen gemacht und von einer demokratischen Neugeburt des – angeblich – seit einem Jahrhundert sterbenden Theaters im Lande schwärmen lassen. Zuvor durch schlechte Ausstattung und obrigkeitliche Vorgaben zum Nischenphänomen verkommen, so die Blätter, rücke das Teatro Valle jetzt endlich ins Zentrum und gebe das schönste "spettacolo" des Sommers ab. Selbst im August gingen die Proteste weiter, mit einem auch kulinarischen Stadtteilfest an Ferragosto (dem 15. August) als Höhepunkt.

Kabarett, Neapolitania, Soul

Auch an diesem Freitagabend zeigt das Teatro Valle, was da droht verloren zu gehen. Es ist ein Programm-Provisorium auf hohem Niveau, zuvor werden Handzettel ausgeteilt, die für den 21. September zur großen Demo auf dem Präsidentenplatz Montecitorio aufrufen. Der Abend setzt dann mit einer unangekündigten Kabarettistin ein, die sich äußerst witzig über die unterbutterten Italienerinnen und das Elend der "mammoni" (Muttersöhnchen) amüsiert. Danach wird es anregend durchmischt. Musikalischer Höhepunkt ist zweifellos der Konzertauftritt der neapolitanischen Gruppe "Unavantaluna", die auf altertümlich-regionalen Instrumenten eine fetzige, berückend archaische Musik mit arabisch-spanisch anmutenden Klängen in schönstem alten Neapolitanisch präsentiert und das Publikum – am Ende füllt es das ganze Parkett und einen Teil der fünf Logenringe – regelrecht hinreißt.

Vor dem Schlussauftritt Peppe Servillos nebst Pianist, der in seiner chansonesken Art an Paolo Conte erinnert und ebenfalls gut ankommt, darf sich noch Barbara Eramo über die Chance zum Auftritt auf diesem "palco" (Bühne) freuen, ohne ihn so recht zu nutzen – die soulige Sängerin tut von allem zuviel und sucht noch nach ihrem Ausdruck.

Urbi et orbi

Neben komischen Umbauauftritten, die die zugespitzte Lage des Hauses thematisieren (einmal tut sich wohl der ans Museum zwangsversetzte Bühnenarbeiter als "lavoratore autonomo" hervor und muss sich von den Kollegen anfrotzeln lassen), trifft vor allem Carlo Viani als Arbeiter in Unterhemd und Bauarbeiterhelm die ausgelassene Stimmung. In seinem geistvollen satirischen Monolog liefert er eine herrliche, nicht zu böse Parodie auf das Italienisch von Papst Benedikt XVI. ab und witzelt über das viele Geschaffe hinter den ganzen Wundern – "bleibt ja doch immer alles an uns hier unten hängen". So universell und doch stadtrömisch geht es zu an diesem Abend, ganz "urbi et orbi". Wer nicht dagewesen ist, weiß nicht, zu welch toller Gratis-Unterhaltung einem Rom, völlig unverhofft, verhelfen kann.

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 Solch ein Gewimmel: Szene vor dem Theater. © Marcus Hladek

Moderne moralische Anstalt

Junge Leute tragen den kreativen Protest, Bühnenarbeiter Seite an Seite mit Schauspielern, wie die "L'Unità" hervorhob. Sie alle stemmen sich der von der Kommune betriebenen Privatisierung des Hauses entgegen, weil sie einen nicht-trivialen, nicht-kommerziellen Traum von Theater träumen, der mit der Privatisierung nicht zusammenpasst. Laura Pizzirani, Lorena Cosimi und dem Bühnenarbeiter Mauro etwa schwebt, wie sie im Gespräch darlegen, das Modell der Berliner Schaubühne vor, ein Ideal, in das Wunschbilder eines Theaters für Italien einfließen. Ein Haus wäre das, wo man den lebendigen Diskurs und vor allem die neue Dramatik pflegt, mit der sich das Land traditionell schwertut, weil einst die vielen Dialekte, heute noch die kulturelle Kirchturmspolitik (campanilismo) und der Wanderzirkus der Ensembles ein Nationaldrama als moderne "moralische Anstalt" verhindern. Der Blick gen Norden ist nicht frei von Neid, manchmal ohne gründliche Kenntnis dortiger Probleme.

Viel Begeisterung schwingt mit, wenn Laura sagt, man wolle das ganze Theatersystem verändern, ja revolutionieren, und sogleich einräumt, wer auch nur ein anständiges Mittelgebirge treffen wolle, müsse den Pfeil eben erst einmal auf die Sterne richten. Als ideale Rechtsform schwebt ihr eine Stiftung, ein öffentlich-privates "azionariato popolare" vor – doch woher Stiftungskapital nehmen und nicht stehlen? Natürlich, fügt Lorena hinzu, sei eine Besetzung illegal, aber vielleicht bleibe ihnen nichts anderes übrig als ein "esproprio forzato", also die laufende erzwungene Enteignung. Kulturpolitik in Italien leide nun einmal darunter, dass oben keine Fachleute säßen, sondern Politiker ohne jeden Bezug zur Sache, und die wollten nicht mal fürs Teatro Largo Argentina und Teatro India genügend Geld erübrigen, geschweige denn das "Valle". Ein Hauch von Polit-Mafia liegt in der Luft. Nur der Widerhall beim Publikum, das Räume besetze, sei geeignet, dagegen zu wirken.

Prominente Unterstützer

Das Teatro Valle, wo einst Luigi Pirandellos "Sei personaggi in cerca d'autore" (Sechs Personen suchen einen Autor) uraufgeführt wurde, darf sich das älteste bespielte Theater Roms nennen. In mancher Hinsicht gleicht es dem Berliner Schillertheater – schon weil es ähnlich zu verenden droht. Der Eintritt zu den täglichen Abenden des Protestes, an denen sich Kollegen solidarisieren, ist frei, Spende und Unterschrift sind erbeten. Der Unterstützer gibt es viele, sie reichen vom Krimiautor Camilleri über den legendären Marco Cavallo aus den demokratischen siebziger Jahren bis zum italoamerikanischen Filmregisseur Francis Ford Coppola, der noch am 2. September im Rahmen des 68. Filmfestivals von Venedig einen Videogruß an die Besetzer schickte, die auf dem Lido just auch das Teatro Marinoni mit einer symbolischen Besetzung beehrten, um an ihren Kampf in Rom zu erinnern. Die Zeitung "il manifesto", eine Art "taz" Italiens, nahm das zum Anlass für den sehr italienischen Titel "Coppola segnet das Teatro Valle". Manifeste im Schaukasten liefern dazu lyrisches Pathos frei Haus. Was von all dem bleibt, muss sich zeigen. Die Aussitzer in der Politik haben, leider, einen verdammt langen Atem.

 

Mehr zur Besetzung des Teatro Valle finden Sie in Eva Löbaus Theaterbrief aus Italien 1 und Theaterbrief aus Italien 2.