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Der Mensch ist Schauspieler

von Guido Rademachers

Mülheim, 21. September 2011. Ein Bilderbuch-Vollmond scheint vom sternenklaren Nachthimmel-Hintergrund. Musiker Matthias Flake improvisiert schwer romantisch am Flügel. Und ein etwas aus dem Leim gegangener Herzog Orsino schluchzt ins Mikro "Die Jugend ist zu kurz".

Etwas Sentimentales dürfte ihre Mülheimer "Was ihr wollt"-Inszenierung auch für Karin Neuhäuser gehabt haben. Hier war sie sieben Jahre als Schauspielerin engagiert, bis sie das Ensemble 1999 verließ und eine Karriere startete, die sie über Zürich ans Hamburger Thalia Theater führte.

Auch am fernen Strand von Illyrien kennt sich Neuhäuser inzwischen aus. Letztes Jahr spielte sie einen viel beachteten Narren in Jan Bosses "Was ihr wollt"-Inszenierung, 2002 hatte sie das Stück in Münster bereits einmal selbst inszeniert. Shakespeares liebestraumverlorene Gesellschaft setzte sie damals als nicht mehr ganz so fröhliche Zechrunde, die den rechtzeitigen Abgang verpasst hatte, an einen Tresen.

Aus Illyrien wird: rien
Jetzt erhebt sich auf der Mülheimer Bühne eine halbhohe Backsteinmauer. Ein Eisenbahngleis teilt sich per Weiche in zwei auf das Publikum zulaufende Spuren. Über dem Gleis ist in blauer Neonröhren-Schrift ein "Illyrien" an der Mauer angebracht. Am Ende, nach nur zwei Stunden Spielzeit, auf die Neuhäuser die Komödie zum "Was ihr wollt"-Essential eingedampft hat, ist die Beleuchtung der ersten beiden Silben ausgefallen und ein "rien" übrig geblieben: "Nichts".

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 Foto: Andreas Köhring
 

 

 

 

 

 

Viel mehr war auch am Anfang nicht da. Die Illyrier haben sich rote Plastikeimer über den Kopf gestülpt und sitzen auf Drehstühlen. Schließlich zieht Albert Bork als todmüder Orsino im Morgenmantel einen goldenen Revolver, spielt eine Runde russisches Roulette, um gleich anschließend seinen Kopf für ein Nickerchen auf die Schienen zu legen. Seine pro forma angebetete Olivia, gespielt von Simone Thoma, könnte eher Sir Tobys Tante als Nichte sein. Mit dürren Armen drückt sie einen edelsteinbesetzten Totenschädel à la Damien Hirst an die Brust. Hirst-Vorläufer Andy Warhol ist in Gestalt Sir Bleichenwangs auch dabei. Mit seinem eintönigen, leicht tuntigem Leisesprech unter Kunsthaarperücke kommt Klaus Herzog dem Original recht nah.

Posen, was das Zeug hält

"Ich kann nur glauben, was ich in Filmen sehe." Von Andy Warhol stammen die Kernsätze postmodern dekonstruierten Gefühlslebens, und genau darauf zielt die Inszenierung. Bestenfalls gibt es noch eine aus der Vergangenheit hinüberragende Liebes- und eine in die Zukunft weisende Todessehnsucht. Ansonsten gilt: Der Mensch ist Schauspieler, die Welt ist Bühne. Es braucht nur  immer wieder einen neuen Impuls. Mit dem Auftritt Violas, die von hinten über die Mauer steigt und gleich in eine volle Badewanne plumpst, ist es soweit. Es wird gepost, was das Zeug hält.

Orsino stolziert als Fett-Elvis im Glitzeranzug über die Bühne. Fabio Menéndez spreizt sich als Sir Toby wie Captain Jack Sparrow. Malvolio (Steffen Reuber), ein Sauberkeits-Psychopath in Glencheck-Karo, exerziert klassische Herrschergesten durch. Simone Thomas Olivia offeriert ihre Verführungskünste wahlweise mit Rothaarperücke oder als Marilyn Monroe. Nur Theresa Rose liefert als Neuankömmling Viola im Schauspiel-Schauspielen eine dilettantische Performance ab. Wie Pik 7 steht sie in Männerhosen gestopft, die Schuhspitzen weisen nach innen, der Mund steht offen, die Hände wissen nicht, wohin.

Respekt vor der Maske
Dass Neuhäusers Übertragung von Shakespeares Geschlechts- und Identitätsverwechslungen ins moderne Ego-Sampling so gut klappt, liegt daran, dass sie Respekt vor der Maske hat und nicht an falscher Stelle psychologisiert. Wie bei jenen Kippfiguren, die je nach Betrachtung junge oder alte Frau, Hasen- oder Entenkopf zeigen, sind Leere und Spiel, Verzweiflung und Komik hier miteinander verbunden.

Das letzte Wort hat der Narr (Volker Roos), der die ganze Zeit wie Lilo Wanders im geöffneten langen Mantel mit Piccolo und übereinander geschlagenen nackten Beinen auf der Mauer saß und das Geschehen beobachtete: "Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert."

 

Was ihr wollt
von William Shakespeare, in der Übersetzung von Thomas Brasch
Regie und Dramaturgie: Karin Neuhäuser, Bühne: Gralf-Edzard Habben, Kostüm: Tina Kloempken, Musik: Matthias Flake, Licht: Ruždi Aliji.
Mit: Simone Thoma, Albert Bork, Theresa Rose, Fabio Menéndez, Klaus Herzog, Gabriella Weber, Steffen Reuber, Volker Roos, Marco Leibnitz, Rupert J. Seidl.

www.theater-an-der-ruhr.de


 
Mehr zu Karin Neuhäuser? Petra Kohse hat die Schauspielerin und Regisseurin 2006 porträtiert.

Kritikenrundschau

Auf Der Westen, dem Online-Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (22.9.2011), schreibt Andreas Thiemann: die Liebe enthülle in Neuhäusers Illyrien "ihr tragisches Gesicht". Selten habe man "den Schmerz so unverstellt wie im Antlitz Violas (Theresa Rose)" gesehen, "die von ihrem angebeteten Orsino (Albert Bork) im wahrsten Sinne nicht erkannt wird". Karin Neuhäuser lege im "mit- und hinreißenden Schauspieler-Theater die tragischen, peinlichen, lachhaften Seiten der Liebe" bloß. "Männlein oder Weiblein", die Frage liege "auf Halde" an diesem Abend. "Das Bäumchen-Wechsel-dich-Spiel, der zarte Kuss unter Kerlen kommt wie selbstverständlich daher." Angesichts der "Finesse und der Leichtigkeit" des Ensembles, verzeihe man sogar "das Auswalzen manch wortwitziger Überdrehtheit". Neuhäusers Gastregie sei "ein Glücksfall für die Region".

Während man im Mülheimer Theater sonst eher den Eindruck erwecke, man gehe zum Lachen in den Keller, sei das doch jetzt eine Überraschung: "ein Abend voller Gekicher, Wortwitz und Sarkasmus", freut sich Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (23.9.2011). Ciullis Ensemble spiele "so unbeschwert auf, wie man es hier lange nicht erlebt hat". Neuhäuser habe einen "guten, geistreichen Humor, ein Händchen für Komik und freilich auch … für die leisen Zwischentöne". Ein "augenzwinkernder Traum-Kunst-Kosmos", so "aufgekratzt" hier manche Szenen gerieten, so sehr klaffe "dahinter die Einsamkeit". Nicht von ungefähr fielen "vor allem die Randfiguren auf". Neuhäuser inszeniere einen "Reigen der Suchenden, die nach Glück greifen, aber schon zu oft daneben langten". Diese "wunderbare Inszenierung" zeichne aus: "ein leichter Schmerz, manchmal auch ein heftiger, aber auch Trotz. Der Trost, über sich selbst zu lachen."

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