Pendler zwischen Welten

von Simone Kaempf

Berlin, 2. November 2007. Sie sind Polizeikommissarin, Abgeordneter der Grünen, Musikproduzent oder haben wie Emel Abidin-Alga durch die Forderung nach einer mündigen Religiosität in den Medien Aufmerksamkeit erlangt. Ihre Eltern kamen vor vierzig Jahren nach Deutschland, meist als Gastarbeiter, die ein besseres Leben wollten. Sein Vater träumte davon, einige Jahre lang Geld zu verdienen, wird einer an diesem Abend erzählen. Die Jahre vergingen, das Geld war nie genug, und "niemand ahnte, dass er hier sterben würde". Sie aber, die Nachgeborenen der türkischen Einwanderer, die zweite Generation, scheinen zu erreichen, wovon die Eltern nur träumen konnten.

Geschafft nach oben?

Emel Abidin-Algan, Tuna Başgerdan, Dilek Bölükgiray, Hülya Duyar, Özcan Mutlu und Ünal Yüksel - mit ihnen stehen sechs Deutschtürken auf der Bühne, die den Weg nach oben geschafft haben. Das ist Ausgangs- und Endgedanke von "Klassentreffen" am Berliner Hebbel am Ufer. Nur wandelt sich im Laufe des Abends der Begriff von "oben". Denkt man anfangs noch an Berufskarriere, verschiebt sich das, was sie geleistet haben, dahin, erfolgreich mit Widersprüchen zu leben: das Beste und das Schlechte aus zwei Welten zu kennen – und dazwischen einen Weg der Selbstbehauptung zu finden.

Die Schauspielern Hülya Duyar zum Beispiel, die zusammen mit Lukas Langhoff auch für die Regie verantwortlich ist, erzählt von ihrem größten Traum als Heranwachsende, "von zu Hause auszuziehen, ohne verheiratet zu werden." Doch habe sie lange gebraucht, um sich der Mutter anzuvertrauen, aus Angst sie zu verletzen. Später, als sie ihre Jungfräulichkeit verlor, empfand sie Enttäuschung darunter, dass der Vater an so eine banale Sache die Familienehre hängte.

Experten im Zirkeltraining des Alltags

Es ist vor allem die Offenheit, mit der alle sechs über ihr Familien-, Ehe- und Berufsleben erzählen, die den eigentlichen Sog des Abends ausmacht und - über seine Form hinweghilft. Lukas Langhoff lässt sie als Experten des Alltags auftreten und über ihr Leben erzählen. Wie sie nach vorne treten, denkt man streckenweise, das sei Dokutheater à la Rimini Protokoll. Doch wo in deren Abenden die skurrilen Zwischenspiele die Figuren erst greifbar machen, stören sie hier. Persönlicher als das, was sie erzählen, kann keine veralberte Szene mit einem übergroßen Plastikhandy sein.

Gespielt wird im Bühnenbild einer Turnhalle: mit Böcken, Turnkasten und aufgestapelten Matten. Sinnbild für das Lebenstraining unter verschärften Bedingungen. Nicht nur wegen schlechter Deutschkenntnisse, zu kleiner Wohnungen und dem Gerede der Nachbarn auf der Straße, sondern weil Ehewünsche gar nicht und Berufswünsche nur selten Beachtung fanden. Am berührendsten ist die Biographie von Emel Abidin-Algan, lange Jahre Vorsitzende des islamischen Frauenvereins, die vor zwei Jahren einen radikalen Schritt machte und das Kopftuch ablegte, als Konsequenz und nicht als Missachtung einer verantwortlichen Gläubigkeit. Jetzt erzählt sie stockend und jedes Wort genau wählend, wie es dazu kam.

Aufgeräumt in der Gegenwart

Zwischen den kleinen Monologen kommen die Figuren auf der Bühne zusammen. Mal tanzen sie zusammen, dann lösen sie sich wieder auf. Eine Choreographie des Pendelns zwischen Kollektivdasein und Individualwesen. Aus ihren Erzählungen ist der Druck heraushörbar, den ihre Familie und ihre religiöse Gemeinde einst auf sie ausübte, oder es immer noch tun. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wirken sie sehr aufgeräumt in der Gegenwart lebend: selbstbewusst, fest auf beiden Beinen stehend, von sanfter straightness.

Der knapp zweistündige Abend zeigt ihr Selbstbild: zu den Umständen zu gehören, in die man hineingeboren ist. "Man darf nicht vergessen, woher man kommt", sagt Özcan Mutlu. Nämlich aus der Waldemarstraße, altes Kreuzberg, von wo sich der benachbarte Wrangelkiez schon wie eine andere Welt ausnimmt. Mutlu sitzt für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus "Mir geht es nicht um Ideologie, sondern darum, dass es den Menschen gut geht." Aber wenn ihn jemand vor seinem Türkei-Sommerurlaub fragt, ob er jetzt in die Heimat fahre, dann fällt der Politiker in der Ton der Straße: "Berlin ist meine Heimat, Du Arschloch."

Überraschung aus dem Osten

Die Türkei ist ihnen Urlaubsziel, aber warum nicht später dort leben? Mit den Veränderungen der Stadt Berlin sind sie auf ihre eigene Weise konfrontiert. "Mein Lieblingsort ist Westberlin, der Ku‘damm", sagt Tuna Başgerdan, "es kotzt mich an, dass alle in die Hackeschen Höfe rennen". Nach der Wende hatte Mutlu plötzlich einen Cousin mehr: der Onkel hatte jahrelang eine Geliebte in Ost-Berlin. Dann sei der türkische Cousin ein Neonazi geworden. Die Biographien sind gespickt mit überraschenden Wendungen, so wie sie die Stadt in den letzten Jahrzehnten geschrieben hat. Und wenn "Klassentreffen" formal auch nicht überzeugt: von den sechs hätte man gerne noch mehr gehört.

 

Klassentreffen – Die zweite Generation
von und mit: Emel Abidin-Algan, Tuna Başgerdan, Dilek Bölükgiray, Hülya Duyar, Özcan Mutlu, Ünal Yüksel.
Regie: Lukas Langhoff / Hülya Duyar, Dramaturgie und Text: Christopher Hanf, Ausstattung: Sven Nahrstedt.

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Michaela Schlagenwerth von der Berliner Zeitung (5.11.2007) hat beim Stück "Klassentreffen – die zweite Generation" am Berliner HAU 3, in dem türkische Migranten von ihren Biografien erzählen, "tatsächlich sehr viel über deutsch-türkische Lebenswirklichkeit" erfahren: "Gerade weil es besondere Biografien sind, geben sie wie unter dem Vergrößerungsglas etwas von diesem Alltag wieder." Die Inszenierung sei vital und witzig: Es gebe "etwas freundliches, offenes und wohl typisch türkisches im Umgang miteinander" – und darüber hinaus "so viel zu erzählen, es könnte ewig weitergehen, aber dann geht einfach das Licht aus."

in der taz (5.11.2007) schreibt Christiane Kühl: Im Foyer klinge es so, wie es in einem Berliner Foyer klingen sollte. Es werde deutsch gesprochen, türkisch, und bisweilen zweimal im Satz die Sprache gewechselt. Gespräche mit den Akteuren bildeten die Grundlage der Textcollage von Lukas Langhoff und Hülya Duyar. Die Offenheit, mit der über Familie, Sex und Vorurteile gesprochen werde, sei "bisweilen frappierend". Die "Monotonie, mit der das stets monologisch, zentral auf der Vorderbühne, frontal zum Publikum geschieht", sei dagegen "bald ermüdend". Die szenischen Einfälle helfen nicht. Anders als bei den Experten von Rimini Protokoll handele es sich hier um "Spezialisten des eigenen Lebens", also um Betroffene. Das mache "das Verhältnis zu ihnen näher", den "ästhetischen Bezug bzw. Abstand schwieriger." Das ergeben eine Art "Community-Theater" dessen Stärke im gemeinschaftlichen Erleben liege. Alle Beteiligten seien etwas zu erfolgreich, dadurch sei alles etwas zu nett, zieht Frau Kühl ihr Fazit.

 

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