30. September − Ulrich Rasche ästhetisiert den Bahnhofskampf in Stuttgart
Widerstand und Recht und Freiheit
von Tomo Mirko Pavlovic
Stuttgart, 23. September 2011. Ein älterer Mann schält sich aus dem Dunkel des Raumes, ein Würdenträger im schwarzen Ornat, vielleicht ein Hohepriester. Totenbleich erstrahlt er in der Bühnenmitte, das Licht wirft einen Schatten, so als stünde dieser namenlose Herr in einer Kirche und durch ein einziges Fenster weit oben fällt der erste Morgenstrahl auf sein kahles Haupt. Dann beginnt er mit einem Vortrag, ernst, bestimmt, jedes Wort wie ein eiskalter Luftzug. Er spricht zum Publikum über die Angst des Einzelnen. Über den Krieg aller gegen alle und wie dieser Naturzustand mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrages überwunden werden kann. Thomas Hobbes, der "Leviathan" (1651). Stocksteif steht Elmar Roloff da, nur seine linke Faust verrät die Anspannung. Es ist eine politische Predigt – ohne das Pathos eines Politikers.
Chor der Individuen
Dann bekommt der Einsame Gesellschaft, man kann das nun wörtlich verstehen, der Vertrag gilt. Sechzehn Sprecher und Sänger setzen sich in Gang, sie sind ähnlich, aber nicht gleich gekleidet, in Grauschwarzblau. Sie kommen in wechselnden Formationen immer wieder von hinten nach vorn, verebben wie Wellen an der Rampe, gehen auseinander und marschieren aus der Bühnentiefe erneut voran, über die vierundsechzig blinkenden Felder eines Schachfeldes. Und während sie rhythmisch und synchron, mit verschleppendem Schritt wie bei einer Marienprozession ihre Linien ziehen, mal parallel, dann wieder nicht, bilden sie einen Chor der Individuen. Ihre Bewegungen fließen, sie singen und rezitieren im Kanon Verse und Texte von Kleist, Schiller, John Locke und Michel Foucault. "We don't need no thought control" von Pink Floyd, schließlich Verdis Fluch "Feriam! Feriam!" aus seinem Don Carlo (Musik: Sir Henry). Sie kreisen allesamt um die Frage, inwieweit der Bürger sich das Recht anmaßen darf, gegen den Souverän, die Staatsgewalt aufzubegehren. Wann ist Widerstand rechtmäßig? Kann das Gesetz gewissenlos sein? Jede Stimme deutlich hörbar. Kein Ausfallschritt geht zu Lasten eines Nachbarn. Er herrscht nicht Chaos, es regiert Vielstimmigkeit. Auch Rüdiger Grubes Zitat geht nicht unter in diesem demokratischen Resonanzraum: "Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsneubau gibt es nicht."
Streit spaltet die Stadt
Aus und vorbei mit der Harmonie. Ganz im Sinne dieser Aussage des Vorstandvorsitzenden der Deutschen Bahn setzte am 30. September vergangenen Jahres im Stuttgarter Schlosspark der Staat sein Gewaltmonopol ein, um das Gelände für die bereits anberaumten Stuttgart-21-Baumaßnahmen vor einer überschaubaren Demonstrantenschar zu schützen. Der Abriss des Kopfbahnhofs ist zwar demokratisch legitimiert, parlamentarisch abgesegnet. Doch die Gegner der Bahnhofneubaus kritisieren bis heute, dass die vorgeblich demokratischen Prozesse mit falschen Zahlen manipuliert worden seien. Der Streit spaltet die Stadt. Am "Schwarzen Donnerstag" im Herbst 2010 fliegen erst die Worte, dann Kastanien, schließlich greift die Staatsmacht durch und wirft die Wasserwerfer an. Hunderte werden verletzt, einige schwer. Der Demonstrant Dietrich Wagner verliert sein Augenlicht.
Demokratie wird zum hohl tönenden Ritual
Ulrich Rasche begibt sich mit seinem Chorprojekt "30. September" eben nicht, was zu befürchten war, in die Schützengräben der rhetorischen Stellungskriege im Stuttgarter Talkessel, ihm geht es nicht um Tunnelkosten, Untersuchungsausschüsse und Fahrplansimulationen. Rasche entscheidet sich für die ästhetisierte Sublimation, für eine vergeistigte Meditation um das Recht des Einzelnen innerhalb eines Kollektivs. Für das Miteinander findet und choreografiert der Regisseur das schlüssige Bild des Ineinanderfließens in einem sakralen Raum: der Öffentlichkeit. Wie in einem fein abgestimmten Ritual gibt der Bürger sein Recht an die Gemeinschaft ab und bekommt dafür Sicherheit. Freiheit. Mit dem Gesellschaftsvertrag beginnt ein perfekt ausbalancierter, harmonisch dahinwogender Cantus Firmus. Die Sänger unter der Leitung von Eric Beillevaire: beeindruckend. Die Bühnenidee mit dem Schachfeld wirkt zwar abgegriffen, aber nicht störend. Dieser anfänglich von einer dramatischen Handlung losgelöste Chor hat hier die Funktion eines idealisierten Zuschauers, der in Anlehnung an die antike Tragödie das große Ganze durchschaut. So scheint es zumindest. Denn Rasche, und das ist das Luzide an dieser Inszenierung, lullt einen mit diesem mehrstimmigen Singsang ein. Demokratie wird zum hohl tönenden Ritual. Zum selbstgerechten Abgesang.
Der Vertrag ist gefährdet
Als alles verstummt, das Dunkel hereinbricht und die Schauspielerin Kornelia Lüdorff nach einer halben Ewigkeit das Protokoll des erblindeten Rentners Dietrich Wagner aufsagt, stockend, mit brüchiger Stimme, ist es kaum auszuhalten. Die Aufnahmen von Wagners blutüberströmtem Gesicht mit den aufgedunsenen Augensäcken sind um die Welt gegangen. "Das war . . . ein Knall . . . ein Schlag und dann merk ich noch, ich falle."
Das dauert.
Das Nervzehrende dieses Berichts, es ist das Atemholen. Da vergeht Zeit, sie dehnt sich, wird breit und vielleicht so lang wie an diesem Nachmittag am 30. September. Zeit, die körperlich ist, spürbar. Danach lässt Rasche wieder seinen Chor marschieren, es klingt wieder harmonisch, aber nicht ganz so angenehm und einschläfernd wie zuvor, das Individuum, die einzelnen Stimmen werden lauter, schriller. Widerspenstig. Der Vertrag ist gefährdet. Elmar Roloff tritt noch einmal hervor uns zitiert Hobbes: "Nie wird es einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, der ganze Staat wird zugrunde gehen." Eine Geduld fordernde, kunstsensible Aufführung zu Stuttgart 21, die einmal nicht provozieren will. Und genau deswegen eine Provokation ist.
30. September
Chorprojekt von Ulrich Rasche
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Musik: Sir Henry, Kostüme: Hudda Chukry, Ulrich Rasche, Chorleitung: Eric Beillevaire, Sprechchorleitung: Alexander Weise.
Mit: Andrej Falk, Stefanie Frauwallner, Laura Louisa Garde, Roman Hemetsberger, Toni Jessen, Birte Leest, Kornelia Lüdorff, Elmar Roloff, Alexander Weise, Marco Wittorf. Und den SängerInnen: Ekatarina Baeva, Eric Beillevaire, Julika Birke, Alexa Dieterle, Guillaume Francois, Christopher Kaplan, Arturas Miknaitis, Ausra Stravinskaite.
www.staatstheater-stuttgart.de
Mehr dazu: Bilder zum Wasserwerfereinsatz vom 30. September 2010 in Stuttgart.
Für Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (26.9.2011) ist an diesem Abend vor allem überraschend, dass für das Thema nicht der "der notorische Theaterrebell Volker Lösch" beauftragt wurde, sondern "der notorische Theaterpriester Ulrich Rasche". Und dieser inszeniere nun "nicht löschhaft aufgeregt und agitierend, sondern streng liturgisch, höchst artifiziell und, je nach Gusto, todlangweilig." Es sei ein "Theatergottesdienst", entworfen mit einer "Pedanterie, die ans Sterile grenzt und sich auch auf die Choreografie überträgt". Wie "willenlose Roboter" würden sich die Akteure der Dramaturgie unterwerfen. Das Textkorpus der Aufführung könne "als theoriegrauer Reader für einen Grundkurs in Staatsphilosophie durchgehen". Das Interesse des Regisseurs und seines Dramaturgen Jörg Bochow gelte nicht den konkreten Ereignissen des 30. September, sondern "seinen abstrakten Folgen". Entsprechend verlege sich Rasche "mit seiner überzüchteten Ästhetik" darauf, "reale Ereignisse derart fein zu sublimieren, dass nichts mehr von ihnen übrig bleibt – ein Verlust, der in der Werkhalle auch noch in seiner banalsten Spielart zu vermelden ist."
Rasches Abend sei "ein ambitioniertes Annähern an die Frage, ob und wann Widerstand rechtmäßig sein kann?", schreibt Gabriele Renz im Südkurier (26.9.2011). Aber er häufe "Fragen über Fragen, die im Zuge der Inszenierung freilich immer mehr zu Behauptungen werden." Ein "Zitatenreigen" sei zu erleben; gerade so, "als wäre kräftig gegoogelt worden, fügen sich die Schlagworte in den Kanon: Widerstand, Macht, Herrschaft, Gerechtigkeit, Eigentum, Gesetz, Gewissen." Den Bericht vom Demonstranten Dietrich Wagner, "der mit seinen blutenden Augen zum Bild des S 21-Protestes wurde", trage eine Schauspielerin so "stockend" vor, "jede Silbe einzeln", dass es zur formal wie inhaltlich zur "Nervenqual" werde. Das Problem des Abends: "(S)chiere Betroffenheit suggeriert Wahrheit. Gewissen wird absolut gesetzt, als gäbe es nur eines. 'Das Volk' tritt nur als widerständiges Volk in Erscheinung. Und 'die Macht' bleibt eine namenlose, gesichtslose Fratze: So einfach kann man es sich machen im Verlautbarungstheater."
Weniger ablehnend beschreibt Monika Köhler auf morgenweb.de (26.9.2011), dem Nachrichtenportal des Mannheimer Morgen, den Abend. Rasche setze auf "Distanz, Abstraktion, Minimalismus", es werde mit "hervorragenden Stimmen gesungen, Protestsongs, die mal volkstümlich schillern, mal sakral leuchten, so dass die Grenze zur Oper fließend wird". Obgleich nicht gespielt werde, "brennen sich die Bilder ein: statt mit Handlung mit Eindringlichkeit." Es würden an diesem zweistündigen Abend "Machtmissbrauch und das Recht auf Widerstand zitiert. Verhandelt werden sie nicht."
Viel entschiedener spricht sich Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (26.9.2011) für diesen "streng durchstrukturierten Abend" aus. Er besitze eine "ausgeklügelte Choreografie von großer Intensität, nicht starr, sondern zwangsläufig wirkend", und biete im Ganzen eine "komplexe Collage", "akustisch fordernd, intellektuell sowieso". Sätze von Hobbes und Schiller würden "wiederholt, skandiert, geschnetzelt, und wie die Sprechenden und Singenden bleibt der Zuhörer allein damit." Fazit:: Dieses Stück "ist die sinnliche Antwort der Kultur und des Intellekts auf Vereinfachung, Niederschreierei und das fatale Nicht-ernst-Nehmen. Auch politisch ist das ein Niveau, von dem die Politik Lichtjahre entfernt ist. Insofern ist es auch ein Abend zum Verzweifeln."
"Moralisch korrekt, teilweise pathetisch, auch langatmig" fand Nicole Golombek den Abend, die für die Stuttgarter Nachrichten (26.9.2011) drüber schreibt. Dennoch verlasse man das Theater "ziemlich beeindruckt", so Golombek. Dem Regisseur sei eine ambivalente, ästhetisch interessante Inszenierung gelungen. Dabei setze er auf quälende Langsamkeit, und die sehr persönliche Redeweise stehe in scharfem Kontrast zu den staatstragenden Gedanken. Antworten gebe es nicht an diesem "im Grundton verhalten melancholischen Abend."
Zum Jahrestag des "Schwarzen Donnerstag" habe Ulrich Rasche "Gewährsleute aus vier Jahrhunderten auf die Bühne geholt" und führe einen "nüchternen staatstheoretischen Diskurs", schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2011). Wie grafische Elemente auf eine abstrakten Gemälde seien die Akteure auf der schachbrettartigen Bühnenfläche verteilt. Mit den "luftigen und zarten Klängen", die Musiker Sir Henry für den Abend gestaltet habe, flögen die revolutionären Schlachtrufe allerdings fort. Deshalb habe der "engelsgleich schöne, betörende, melodische" Abend inhaltlich wenig zu bieten: "Keine These, kein Kommentar."
Rasches "30. September" sei "ein Hochamt für die Opfer auf höchstem Abstraktionsniveau", befindet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.9.2011). "Dass die einzelnen Stimmen immer wieder im polyphon-polyglotten Brausen des pfingstlichen Geistes untergehen, die Individuen ins Glied zurücktreten und das Publikum von den staatsphilosophischen Endlosschleifen eingeschläfert wird, hat natürlich Methode: Der Prozess demokratischer Willensbildung ist ein hohl tönendes Laufband, das den Sieg des Guten hemmt." Obgleich der Kritiker dem Abend "streckenweise durchaus einen hypnotischen Sog" attestiert, hat der doch im Ganzen wenig dafür übrig, wie Rasche den Protest entleert, "alles Leben vom Bauzaun entfernt und das leere Gerippe in seinem sakralen Haus der Geschichte" ausstellt. "Ästhetisch sublimiert, formalistisch ausgekühlt und abgezirkelt und sehr weit weg von hier und heute, bleiben vom Feuer des Dagegen-Seins nur noch die kalte Asche maschineller Perfektion und eintöniges Gesumse übrig."
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