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Jahrhundert-Spiegel

von Esther Slevogt

Berlin, 24. September 2011. Wir sitzen vor einem riesigen Spiegel und sehen erst mal uns selbst. Zumindest, wer einen Platz einigermaßen im Zentrum des Zuschauerraums hat. Wer am Rande platziert ist, ist von der Reflexion ausgeschlossen, die der Spiegel uns Menschenbrüdern ermöglichen soll, den Bühnenbildner Olaf Altmann als vierte Wand vor die Bühne gebaut hat. Er lässt sich um einige Grade kippen, was gelegentlich zu verblüffenden optischen Effekten führt: Die sieben Schauspieler sind manchmal nur im Bild zu sehen, das der Spiegel von ihnen zurückwirft, und sehen dabei zuweilen aus wie präparierte Insekten im Kasten eines Schmetterlingssammlers. Oder wirken, als kämpften sie mühsam gegen die Schwerkraft, gegen den Sog der Unterwelt an. Als wänden sie sich aufwärts, rutschten in ihren schlammigen, blutverschmierten Kutten und Anzügen aber immer wieder ab. Gegen Ende des dreieinhalbstündigen Abends ist der Spiegel so weit gekippt, dass man im Hintergrund merkwürdiges Treiben beobachten kann. Ein spitzhütiges archaisches Gefährt rollt gemächlich über die Hinterbühne (ein skythischer Totenwagen, klärt uns das Programmheft auf). In diffus flackerndem Licht sieht man undeutliche Bewegungen der Akteure, die so recht kein Bild ergeben. Blicken wir hier jetzt schon ins Totenreich?

Jeder ist schuldig
Wir sind in Berlins Maxim Gorki Theater und wohnen dem Versuch bei, die unfassbare Geschichte des 20. Jahrhunderts auf ein theatertaugliches Format zu kondensieren. Im vorliegenden Fall liegt der Sache der 2006 erschienene Roman von Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten" zu Grunde. Ein Buch, das den Zweiten Weltkrieg und die Gräuel der Wehrmacht mit unfassbarer Detailtreue aus der Sicht des Intellektuellen und SS-Mannes Max Aue schildert und dabei gleichzeitig das Projekt verfolgt, diesen Mann als einen Orest des 20. Jahrhunderts zu zeichnen, den Zweiten Weltkrieg und seine Schrecken zu einem modernen trojanischen Krieg erklärt. Wobei der antike Mythos dieses Krieges sozusagen den Beginn der Geschichte und zivilen Ordnung markiert, während jener Zweite Weltkrieg bei Littell nicht nur das Ende der Geschichte, sondern auch das Ende jeglicher zivilen Ordnung ist. Jeder ist schuldig. Alle sind Mörder. Da wären wir wieder beim Spiegel im Zuschauerraum des Maxim Gorki Theaters. Die Mörder sind auch unter uns Zuschauern, will der uns nämlich sagen. Wenn das Theater uns doch bloß nicht immer für dümmer halten würde, als wir sind. Oder ist es am Ende selber dumm?

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Foto: Bettina Stöß

 

Bestürzende Miniaturen
Denn Pathos und große Geste, mit der hier zur Welt- und Katastrophenerklärung ausgeholt wird, sind nach einer halben Stunde kunstangestrengten Theaters verpufft. Man sieht ein paar redlich brüllenden, gelegentlich chorisch sprechenden Schauspielern dabei zu, wie sie einerseits mordende Nazis, sterbende Soldaten oder Juden mimen. Es ist vom Mord an den europäischen Juden die Rede, von Massakern und Massenerschießungen an der Ostfront, zerfetzten Soldatenkörpern, Auschwitz. Littell gelingt es immer wieder, bestürzende Miniaturen individueller Opfer einzubauen, Einzelnen in den Leichengebirgen plötzlich Gesichter von großer Eindringlichkeit zu geben, sie symbolisch zu überhöhen. Geschichten, die auch die Fassung des Gorki Theaters wirkungssicher isoliert und nacherzählt. Dabei aber den Verdacht erweckt, die Brutalität in den Dienst einer (leider wohlfeilen) Ästhetik des Schreckens zu stellen.

Blut und Kot
Armin Petras und sein Dramaturg Jens Groß können sich nicht entscheiden: Einerseits wollen sie Mythos, konkrete Bildverweigerung. Da wedeln die Darsteller mit archaischen Masken, als wärs ein volkstümliches Mysterienspiel. Eine Cellistin (Anne-Christin Schwarz) legt vom Zuschauerraum aus eine düstere Tonspur unter das Geschehen. Peter Kurth, der den alten Max Aue spielt, packt irgendwann seine Klarinette aus und untermalt jazzig die mörderische Erzählung. Es spritzt und schmiert viel dickflüssige rote und schwarze Farbe – sie steht für das Blut und den Kot, der aus dem notorisch durchfallkranken SS-Mann Aue fließt. Auch ein Mörder hat schließlich eine Psychosomatik. Max Simonischek, der ihn spielt, windet sich immer wieder wie von krampfartigen Anfällen geschüttelt. Soviel Konkretion muss bei aller Bilderverweigerung wohl doch sein. Dann ist da Anja Schneider, die mit sicherem Tragödinnenton ihre Figurenfragmente versieht (und verkitscht). Cristin König, die dramaturgisch wichtige Figuren schablonenhaft überspielt und gänzlich um ihre Wirkung bringt. Aenne Schwarz als dunkle Schöne und moderne Elektra kann auch nicht so richtig wirken. Thomas Lawinky peppt das Tableau mit verschiedenen tumben Nazi-Typen auf.

Wie früher im Wurstgeschäft
Und wir, die wir als Zuschauer erwartungsvoll immer auch das Bild von uns selbst betrachten, das uns der Spiegel zurückwirft, sehen uns langsam zermürbt vom vermessenen Anspruch des Abends, hier als kleines Theaterlein mal so eben die großen Fragen des Jahrhunderts an einem Abend aufzuwerfen - ohne Entscheidung, ob man die Sache mythisch oder aufklärerisch angehen will. So tunkt die Bilderwelt des Abends den Stoff in eine mythische Ursuppe. Das Programmheft tritt sehr geschwollen mit Beiträgen zur modernen Täterforschung und Aufklärung auf, zu der dieser Abend nun wirklich keinen Beitrag leistet. Er ist Theater und sonst nichts (und leider eben noch nicht mal gutes). Theater, das sich als Ausdrucksverstärker ein paar Millionen Leichen zu Hilfe nimmt und dabei nicht immer deren Würde zu wahren weiß. Manchmal fühlt man sich wie früher im Wurstgeschäft. Wenn die Verkäuferin mit serviler Miene noch ein paar Scheiben zusätzlich auf die Waage legte: "Darf's ein bisschen mehr sein?"

 

Die Wohlgesinnten
von Jonathan Littell, auf der Basis der Übersetzung von Hainer Kober für die Bühne bearbeitet von Armin Petras
Regie: Armin Petras, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Karoline Bierner, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Jens Groß, Cello: Anne-Christin Schwarz.
Mit: Peter Kurth, Max Simonischek, Cristin König, Anja Schneider, Aenne Schwarz, Thomas Lawinky.

www.gorki.de

 

Mehr zur Geschichtsaufarbeitung am Maxim Gorki Theater? Zuletzt inszenierte Jorinde Dröse Hans Falladas Widerstandsroman Jeder stirbt für sich allein, davor ging Milan Peschel mit Sein oder Nichtsein das Thema Nationalsozialismus komödiantisch an.

 

Kritikenrundschau

An die Stelle von Saftigkeit und Identifikation setze Armin Petras Ästhetisierung und Reflexion, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (26.09.2011). Das Zitieren von Theaterstilen, selbst der Einsatz von Blut-, Eiter- und Kot-Ersatzstoffen sei "eine einzige hohe und ausgestellte Kunstanstrengung. Nichts Authentisches, kein Foto, kein Filmeinspieler." Mit der kühlen Reflexion gehe der Theaterabend eine gänzlich andere Richtung als der Roman: "Er nimmt zwar wie dieser die Täterperspektive ein und vermeidet jeglichen identifikatorischen Blick auf die Opfer – aber er bleibt appellarisch, ganz und gar ungenüsslich. Das Theaterartifizielle wirft einen immer wieder aus dem Geschehen, in das einen der Roman hineinzwingt. Das ist womöglich gar nicht Absicht und der Tatsache geschuldet, dass eine 1400-seitige mythisch überhöhte, aber konkrete Gedanken- und Erlebnis-Sammlung nicht in dreieinhalb Theaterstunden zu fassen ist ohne zu abstrahieren und abzuhaken. Das aufregerische Wirkprinzip des Littell-Saftschinkens muss so zur theatralen Selbstreflexion verdörren."

Die Bilder, die Petras finde, wirkten nicht immer souverän, befindet Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (26.9.2011): "Der Konfettiregen bei Fliegerangriffen im Luftschutzkeller kommt wie so mancher Licht- und optische Täuschungseffekt am Riesenspiegel aus der Trickkiste für olle Kamellen." Außerdem nehme es Petras "mit diesem Abend, mit diesem Sujet so verdammt ernst, dass er keinesfalls in jene Pornografiefalle tappen will, in der einige Kritiker Littell zappeln sahen". Indem er fast alles Skandalöse, Anstößige und Irritierende des Romans tilge, bleibe wenig mehr als eine politisch korrekte Geschichtsstunde, die wenig Neues erzählt.

"Vom Täter Maximilian Aue bleibt in dieser Inszenierung nicht viel", meint Dirk Knipphals in der tagesszeitung (26.9.2011). "Eher sieht man, dass ihre Taten auch für die Täter menschlich schwierig auszuhalten und zu bearbeiten waren. Ob man das so genau wissen will, war schon beim Lesen des Romans eine große Frage." Der Bühnenspiegel, das zentrale Requisit, behaupte zudem, dass dieser Theaterabend als Selbsterkundung funktionieren solle. "Man versteht als Zuschauer auch diese Geste, aber findet letztlich trotz aller einleuchtenden Theaterlösungen zu wenig Material, in dem man sich selbst erkunden kann."

Der Abend schwimme ungeniert im Schatten des Skandalbestsellers von Jonathan Littell daher und schrumpfe dessen komplexe narrative Verstiegenheit auf ein gemütliches Mittelmaß zusammen, ärgert sich Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.9.2011). Zuschauer, die den Roman nicht gelesen haben, würden sich in dieser "sprunghaften Szenenfolge" wohl kaum zurecht finden. "Historischer Wahnsinn hin, wirkungssüchtiges Kalkül her - das alles hätte uns etwas angehen können." Aber Petras' Inszenierung habe dafür "weder das Format noch die Mittel, weder das Herz noch die Härte."

Erzählung schaffe ja immer Distanz, schreibt Matthias Heine in der Welt (27.9.2011). Insofern habe wohl niemand das Gorki Theater nach diesem "manchmal atemberaubenden" Abend mit Tränen in den Augen verlassen. Aber: "Wer solchen Reflexen nachgibt, denkt nicht." Insofern sei es nicht das Schlechteste, was man diesen Berliner "Wohlgesinnten" nachsagen könnte: "dass sie einen zum Denken zwingen".

"Diese Inszenierung ist eine Zumutung", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2011). Aber: auch die Romanvorlage sei ja eine Zumutung. Und Petras sei es gelungen, aus Littells "ungeheuren Stoffmassen" einen Abend über die dünne Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei zu machen, ohne in die "naheliegenden Fallen einer obzön süffigen Weltkriegs- und Nazishow" zu gehen. Trotz der "unübersehbaren Schwächen" des Abends, der über lange Strecken keine Form finde, nötigen Laudenbach der Ernst, der Mut, die gesamte Haltung der Beteiligten, sich ohne Ausflüchte mit diesem so fürchterlichen wie unabweisbaren Roman-Monster auseinanderzusetzen, "großen Respekt" ab.

Zwar gebe der Spiegel über der Bühne, der zunächst die "Mitte der (Theater-)Gesellschaft" zeige, "eine Einladung zur Selbstreflexion", aber wie "Aue ins Morden gerät, spielt sich dann unten vor dem Spiegel ab, oder besser: spult sich ab. Denn gespielt wird kaum." Wobei die Spielverweigerung dem Sujet angemessen ist, findet Maximilian Probst in der Wochenzeitung Die Zeit (29.9.2011). Nach der Pause weiche "Petras Scheu vor Bildern". "Allerdings sind die Bilder, die Petras nun findet, vor allem solche, die einen selbstreflexiven, bis zur Ironie gehenden Zweifel an ihrer Tauglichkeit transportieren." Sprich: Nicht ein "funktionaler Machtbetrieb" und seine "perverse Normalität" sind auf der Bühne zu sehen, sondern "nur ein paar Spinner". Weder die langsame historistische Genauigkeit noch die Beschleunigungen des Erzähltempos könne die Bühne realisieren. "Nur die saftigen Passagen des Romans kommen deshalb bei Petras aufs Parkett", und damit nicht mehr als ein halber Litell. "Ein halber Littell taugt aber gar nichts" bzw. allenfalls zum Beweis, "dass sich 'Die Wohlgesinnten' unter keinen Umständen auf die Bühne bringen lassen".



Kommentare  
Die Wohlgesinnten, Berlin: nicht klüger als wir
und vielleicht fange ich mit dem wichtigsten an: der abend versucht nicht klüger zu sein als wir es sind. er stellt in grosser dichte ausschnitte aus dem vergangenen jahrhundert des tötens, mordens und wegsehens u.a. der dt. mittelschicht, der wehrmacht, der sich unterodnenden mitvollstreckenden ukrainer usw usf. auf die bühne. und in dieser sich verlängernden kette von schichten, einzelnen, absichten, gefühllosen, sich verlierenden, fehlgeleiteten, gierigen, kotzenden, selber verletzten, schmalspurigen, wohlgesinnten u.a. zeigt er in selten gesehener einfachheit auf die banalen abgründe - auf das, wenn es sich ereignet (er schließt sämtliche politischen, wirtschaftlichen und sozialen erklärungen nicht aus, er verhandelt sie nur nicht direkt) was der körper des einzelnen hier erlebt (der körper des täters - männlich). er stellt die schlimme frage, ob der mann oben auf der grube der schießt und der mensch unten der stirbt nicht austauschbar sind und da mag man sich noch so sträuben es bleibt ein rest von möglichkeit das dies stimmt und damit ist jede sicherheit dahin. auch wenn die rechtsordnung jeden dieser täter verfolgen sollte - der riss, den unsere gleichgültigkeit der welt oder die welt uns - zufügt ist nicht kittbar. und nach 70 jahren nachdenken über den von dt. ausgeübten massenmord beginnend in der mitte europas erschien mir - auf eine weise völlig unzeitgemäß - die inszenierung einen schritt zurückzugehen und nochmal "nur! zu erzählen was dort zurückliegend geschehen ist. Selten habe ich ein abendensemble des gorkis so homogen und kraftvoll spielen sehen und ein von beginn hoch gesetztes energieniveau über drei stunden halten können. und sie verweigert zu recht die meiste zeit bebilderung und schafft es gleichzeitig momente des sterbens, leidens des erlittenen grauens mit theatermitteln glaubhaft neben die erzählungen zu stellen. und ja es ist theater und es sind seine mittel und die mögen vor dieser geschichte klein sein und der versuch sie zu benutzen mag vermessenheit streifen. aber sie versuchen nicht perfekt zu sein und mancher spieler mag nicht immer der anstrengung dieses themas gewachsen sein - ist alles möglich. aber mir schien der abend von einer ehrlichkeit getragen, die dies alles nicht wichtig macht. dazu in seiner einfachheit ein hochgelungenes bühnenbild, das den bühnenraum radikal beschneidet, den raum von uns trennt und mit dem grossen spiegel den schauspielern leichter hand ermöglicht, fliegen, fallen, kleben zu spielen, ohne das die schwerkraft hier bemüht werden müßte. und es ist gut, das wir sie spielen sehen, wir sehen die unmöglichkeit die wirklichkeit hier abzubilden und wie klein die theatermittel dagegen sind und wir können diesem spielerischen scheitern zuschauen und es in unser ermessen einbauen. viel mehr geht wahrscheinlich nicht. und man muss kein fan von petras sein und kann doch sagen, hier hat ist er reifer geworden. und man freut sich auf jens gross und hofft auf eine fruchtbare weiterarbeit. und man muss die wohlgesinnten nicht gelesen haben und auch nach diesem abend nicht lesen wollen und ist trotzdem froh, das dieses buch den aufschlag für diesen abend gegeben hat.
Die Wohlgesinnten, Berlin: entlarvt
Bist ein freund des Gorkis, ich sehschon.....tzz tzz
Die Wohlgesinnten, Berlin: Gefallen braucht keine Freundschaft
man muss niemandes freund sein um etwas zu mögen.
Die Wohlgesinnten, Berlin: jede Vorfreude genommen
liebe frau slevogt, vielen dank, dass sie mir mit ihrem gründlichen VERRISS fast jegliche vorfreude auf das stück genommen haben. ist das der sinn von nachtkritik?
habe karten für die zweite vorstellung am donnerstag und kann mir nur schwer vorstellen, dass es in einer dreieinhalb stündigen inszenierung von armin petras keine gelungenen moment oder aspekte gibt.oder sie haben uns die-bewusst?- vorenthalten.
sie sprechen davon, dass die inszenierung nicht die würde der mio leichen zu wahren weiß. bis zu welchem punkt wäre die würde denn noch gewahrt geblieben und ab wann ist sie es nicht mehr?
die KRITIK von frau wahl im tagesspiegel spricht in dem zusammenhang übrigens von einer "politisch korrekten" inszenierung.
Die Wohlgesinnten, Berlin: Empfehlung: Vergleich im Anschluss
Sehr geehrter kommender Besucher,

auch ich werde am Donnerstag im Gorki sein. Der Unterschied besteht nur darin, dass mich Kritiken im Vorfeld eines Theaterbesuchs wenig interessieren. Im Anschluss an die Aufführung vergleiche ich dann aber sehr gerne meine Eindrücke mit den auf u.a. Nachtkritik.de veröffentlichen Kritiken. Ich wünsche uns einen bewegenden und interessanten Abend.
Die Wohlgesinnten, Berlin: des Schauspielers Entgegnung
Liebe Esther,

Mensch was schreibst du denn da...
Die Wohlgesinnten, Berlin: Antwort an Thomas L.
ja... was schreibe ich denn da? ich liebe das gorki oft für die subjektive skizzenhaftigkeit seiner entwürfe. für den zärtlichen blick auf menschen & welt. ich mag auch die sanftmut, mit der dieses theater immer wieder bohrende fragen stellt. manchmal aber ärgere ich mich auch, wenn das gorki sich sachen zu leicht macht.
im fall der 'wohlgesinnten' vermisse ich schlicht ein bewußtsein für die relation, was ein theater leisten kann und was nicht. welche fragen zu stellen in seinen möglichkeiten liegt und welche eben nicht. auch hatte ich im fall der gespielten fassung ab und zu den eindruck, der roman wurde inhaltlich noch nicht mal vollständig durchdrungen. und das habe ich in meiner kritik noch nicht mal geschrieben. wer sich an ein solches thema wagt, riskiert, sich zu verbrennen. aber das sollte man dann auch aushalten können. und auch mit der verletzung, die er bei anderen damit anrichtet leben.
Die Wohlgesinnten, Berlin: Copyversuch
Seinsvermiesung verdoppelt!
Was heißt schon "Ehrlichkeit", ib (Klarname wäre auch ein Betrag dazu!) Wenn nichts anderes geht, dann wenigstens "ehrlich".
Esther Slevogt´s Nachtkritik trifft es genau: Das war/ist Theatermachen in Ergriffenheit vor sich selbst. "Jeder ist schuld"? - das ist aufwändige Verklärung und Mythos pur. Ich jedenfalls fand es einen zwanghaft-unsinnlichen Copyversuch von Seinsvermießung. Tut mir leid Jungs, auch für die noch Kommenden, aber "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch" (Hölderlin).
Die Wohlgesinnten, Berlin: von Brack geklaut?
Komisch, dass das niemand sonst hier erwähnt, aber das Bühnenbild erinnert doch frappierend an Luk Percevals "Draußen vor der Tür" am Hamburger Thalia Theater aus diesem Frühjahr (Bühne Katrin Brack). Nur dass der Spiegel dort sich nicht bewegt hat.
Die Wohlgesinnten, Berlin: die Unberührbaren
Wie unberührbar können Theaterkritiker eigentlich sein!
Ich saß auch in der Premiere. Im Gegensatz zu Herrn Seidler habe ich Menschen unruhig auf Theaterstühlen rücken, Stirne in Falten gelegt und einen Frau lautlos weinen sehen. Mir selbst war übel. Von der ersten Sekunde an, wenn das Ensemble uns, das Theaterpublikum, durch autoritäres Auf- und Abgehen in Schach hält, die Minuten des unter-Beobachtung-Stehens zu gefühlten Stunden werden und dann ein Text einsetzt, der das vermeintliche 'Glück' der zu-spät-Geborenen zum Thema hat und die perverse, aber innere Logik des SS-Mannes Max Laue Fahrt aufnimmt.
Das, was andere als Trockenlegung und Entsinnlichung beschreiben, war für mich gerade im Vertrauen auf das ausgedehnte Erzählen, und weitergefasst, auf die Kraft der Sprache so bedrückend. Das Monströse ist nicht darstellbar; es ist nicht einmal sprachlich zu fassen. Aber in Petras' Versuch via chorisches Sprechen, sonores Berichten, monotones Erzählen, enervierendes Wiederholen ("Komm gib Mami einen Kuss"!) - zusammengefasst: durch den Akt des Sprechens ist ihm gelungen, aufzuzeigen, dass es für das Böse keine Darstellungsweise gibt. Stattdessen ein sprachliches Umkreisen dessen mit dem Bewusstsein, dass auch das Kreisen um den Kern scheitern muss. - Sicher, ein Hörspiel zu inszenieren ist langweilig. Doch das hat Petras gar nicht getan. Sein Ensemble kämpft sich ab: Männer, die Frauen spielen, gebären Kinder (!), Frauen, die Männer spielen töten diese Kinder. Während dem einen Kamerad - wieder einmal - "nüscht passiert ist", sagt der andere, seinen Dickdarm in den Händen haltend, nur lakonisch "Aua, aua." Es ist genau diese 'Banalität', die mich getroffen hat. Das Vertrauen in Sprache, nötigt den Zuschauer, die Bilder selbst zu imaginieren. Der Grad der Brutalität dieser Bilder liegt in uns und entlarvt uns im Grunde nur selbst. Das Kopfkino dreht seinen eigenen Film. Petras hat der Kraft der Sprache vertraut und auf die Bereitschaft, dass wir mehr als nur unser Spiegelbild im Spiegel erkennen. Der Spiegel hat ja nicht nur unser Angesicht gespiegelt, er hat in seiner Neigung unsere Gesichter zu Fratzen verzogen. Und er hat die Schauspielerkörper zerlegt, zerstückelt, bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Welch besseres Bild kann ich denn für unsere imaginierte Intaktheit des Subjekts auf der einen Seite und den phallischen Wahnsinn des Mordens auf der anderen Seite finden!
Dass auch Theaterkritiker dem Theater wieder wohlgesinnt sein können, im Wortsinne, das wünsche ich mir. Das Premierenpublikum nämlich war es.
Die Wohlgesinnten, Berlin: Orest und Troja
Also, liebe Frau Slevogt: Nicht nur ist das Gorki Theater offensichtlich zu klein, um sich an ein großes Thema wagen zu dürfen, jetzt hat Armin Petras auch noch den Roman "inhaltlich noch nicht mal vollständig durchdrungen". Vielleicht sollten Sie sich mit weiteren Anmaßungen doch ein wenig zurückhalten, wenn Sie selber in Ihrer Kritik die Wehrmacht mit der SS verwechseln und gar auch noch den eh schon gebeutelten Orest überflüssigerweise in den Trojanischen Krieg schicken, wo er mythologisch zumindest nie gewesen ist.
Die Wohlgesinnten, Berlin: gespannt
toller beitrag von NB - hat spaß gemacht zu lesen.
ich bin mittlerweile jedenfalls sehr gespannt auf die aufführung.
Die Wohlgesinnten, Berlin: konzentriert und bewegend
"Nein, rundum begeistert ist niemand über Armin Petras' Versuch, Jonathan Littells Bestseller-Roman auf die Bühne zu bringen." ??
Doch, ich. ok, ich bin kein kritiker und das buch habe ich auch nicht gelesen, aber seit 5 jahren bin ich begeisterter theatergänger in ganz deutschland und ich habe selten eine so konzentrierte, schauspielerisch herausragende, bewegende inszenierung gesehen, die über die volle länge (dreieinhalb stunden) fesselt und auch am nächsten tag noch intensiv nachhallt.
die überwiegend schlechten kritiken sind für mich nicht nachvollziehbar. ich fühlte mich auch nicht (ob des spiegels) für dumm verkauft- im gegenteil.
bravo-rufe am schluss sind kein qualitätkriterium, das ist mir durchaus bewusst; verschweigen sollte man sie aber auch nicht. auch nicht, dass ungefähr 10 prozent des publikums zur pause gegangen ist.
Die Wohlgesinnten, Berlin: doch ein Ärgernis
Bin gestern in der Zweiten gewesen.
Nun, ich finde, bei allem löblichen Engagement ist der Abend am Ende doch ein Ärgernis.
Beim ersten Lesen der Kritik von Frau Slevogt dachte ich auch erstmal an motivierten Verriss o.ä., nachdem ich es dann aber selbst gesehen habe, verstehe ich sie besser, geht finde ich in Ordnung.
Als zentrales und fragwürdiges Versäumnis empfand ich, dass Aue kaum als Täter in Erscheinung tritt. Gerade diesbezüglich drückt der Abend eben nicht auf Reflektion, Abstraktion und Distanz sondern recht bodenständig auf die Identifikationstube, genau da wo er knallhart sein müsste, und wo der Roman auch schonungslos ist.
Unerträglich wird es in dem Zusammenhang, wenn Aue selbstreflektierend -ach so kritisches- Gutmenschenbekenntnis aus heutiger Zeit in naivster Manier in den Mund gelegt bekommt. Da wird es wirklich kitschig und jugendstückhaft, und vor dem Hintergrund des Gegenstandes sogar obszön.
Ärgerlich ist es auch, wenn der Abend in einigen Momenten, genauso wie einige sich hier Äußernde mal wieder Täter und Opfer in einen Topf schmeißt. Wie schreibt hier doch einer ganz am Anfang: Es sei doch egal, wer oben steht und wer unten. Nein, nein, nein, ist es nicht! Täter sind im Moment der Tat Täter und Opfer sind in dem Moment Opfer. Punkt. Aus. Da ist systemtheoretisches Nivellieren perfide-unbewusste Propaganda im Sinne der Täter. Es ist ein Symptom einer furchtbar häufig anzutreffenden krankhaften Identifikation mit den Tätern. Von Seiten vieler Opfer wie vieler Betrachter. Viele wissen nicht, dass gerade dies zu jenen Tatwerkzeugen gehört, die im Nachgang serviert werden.
Die an dem Abend vorgeführten inneren Konflikte der Täter halte ich weitestgehend für Sozialromantik. Die meisten der Jungs wie Aue hatten aus ihrer Sicht eine verdammt gute Zeit... Das belegt die NS-Täterforschung zweifelsohne. Und das ist das eigentlich Erschreckende, was dieser Abend komplett ausspart. Max Aue wirkt dann doch eher wie der berichterstattende Zeuge, der wider besseren Wissens und gegen sei Gewissen nicht eingeschritten ist. Nein, es hat dieser Figur Spass gemacht. Das alles war für diese Jungs und Mädels eine große Sause, auch wenn man hinterher kotzen geht.

Die Schauspieler haben ihr bestes gegeben, aber konnten den Abend am Ende nicht retten, der seine Stärken allerdings in Bildern, in der Musik und in Pantomimen fand. (Z.B. wenn die Schauspieler ganz nebenbei abfotografierte Leichen geben.)
Und am Ende des Theaters ging man ungerührt nach Hause, emotional war im Publikum nichts zu spüren, und vom Erkenntnisgewinn war es leider ebenso eine Leerstelle, was einem Scheitern gleichkommt.
Da wünscht man sich als Zyniker dann doch lieber ein ehrlich-geschmackloses Auschwitz-Musical aus amerikanisch-jüdischer Feder o.ä., anstelle von Petras' nicht wirklich komischen, verklemmten Slapstickmomenten, oder dann doch lieber wieder einen Film wie Schindlers Liste, der einem die Dinge weningstens ansatzweise erleben lässt, anstatt reflektierend bei theatralen Verrenkungen zuzusehen.
Die Wohlgesinnten, Berlin: verleitet zum Denken
@hubert: ist ja alles schön und gut, was sie da schreiben, aber mit folgendem satz diskreditieren sie sich meiner meinung nach selbst:
"Und am Ende des Theaters ging man ungerührt nach Hause, emotional war im Publikum nichts zu spüren"
"man"?
sie vielleicht, ich habe zwei tage später noch die selbst imaginierten bilder vor augen, zu denen einen die aufführung zwingt.
das ist die stärke der aufführung, wie es auch matthias heine in der "welt" schreit: dass sie einen zum denken verleitet.
Die Wohlgesinnten, Berlin: streng
@sarah h.: da sind sie aber streng mit mir...
Wir haben die Leute gesehen und das um uns herum wahrgenommen.
Wenn Sie sich allerdings intellektuell und sinnlich befeuert fühlen - wie gesagt gerade einige Bilder fand ich auch stark - dann möchte ich Ihnen das nicht nehmen und bilde mir auch nicht ein, Sie wegen der Flüchtigkeit Ihrer knappen, imperativen Äußerung zu bewerten.
Die Wohlgesinnten, Berlin: das Schreckliche erleben
Spielbergs Schindlers Liste lässt schon das Schreckliche erleben, aber nicht zu übersehen sind seine publikumswirksamen Effekte:
Sex und Tötungen, die den Eindruck des Erfolgfilms schmälern.
Die Wohlgesinnten, Berlin: hab ich genauso gesehen
"Dieser streckenweise atemberaubende Abend macht auch mürbe. Er ist schwer zu verdauen. Aber was erwartet man von der Bühnenadaption eines Romans wie „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell? Darin schildert der sexuell verkorkste SS-Mann, Intellektuelle und Mörder Max Aue die Gräueltaten des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges aus unmittelbarer, kältester und härtester Täterperspektive.
Armin Petras hat das monumentale Werk als Steinbruch benutzt, um eine ganz eigene Arbeit herauszuschlagen. Naiv, wer glaubt, der Regisseur müsse oder wolle auch nur der Vorlage gerecht werden. Die rundum glänzenden, teils im bedrohlichen Chor agierenden Schauspieler – etwa Peter Kurth als alter Aue, der rückblickend erzählt, oder Max Simonischek, der das junge Alter Ego spielt – tragen enge, schwarze Kleidung und Stiefel, SS-Reminiszenzen ohne die Uniformen zu kopieren. Ein Hakenkreuz wird höchstens mal spielerisch aus einer Art überdimensionalem Zollstock geformt. Gleichwohl ist die Ästhetik (Bühne: Olaf Altmann), mit der das Monumentale des Romans beinahe Leni-Riefenstahlartig dann doch eingefangen wird, erschlagend. Ein riesiger, beweglicher Spiegel steht hinter oder schwebt über dem Geschehen und zwingt die Zuschauer nicht nur zuzuschauen, sondern immer auch sich selbst zu sehen – und nicht zuletzt zu reflektieren. Ein wichtiger, mutiger und alles andere als gefälliger Abend." (Steffen Maher- Zitty Berlin)
hab ich genau so gesehen!
Die Wohlgesinnten, Gorki Berlin: ständige Rücknahme
Am Anfang war der Spiegel. Riesig thront er über und auf der Bühne, wirft er unseren Blick zurück auf uns selbst. Um uns, das sich für kultiviert, gebildet, zivilisiert haltende Theaterpublikum soll es gehen an diesem Abend, in dieser Adaption eines Romans, der sich mit einem Mann befasst, der so ist wie wir, vielleicht noch ein bisschen gebildeter und kultivierter als so mancher im Saal. Und der Dinge tut, die wir für unvorstellbar halten, weil wir sie uns nicht vorstellen wollen. Und der sie auch noch aus Überzeugung tut, der das, was da geschieht, für notwendig und richtig hält. Dieser Max Aue, dieser bewusste Massenmörder in SS-Uniform, das sind wir, so sagt uns der Roman und so sagt es uns auch Olaf Altmanns Spiegel. Und siege da, da sitzt er auch, im ersten Rang, mitten unter uns, und erzählt seine Geschichte, klar, sonor, ein wenig gelangweilt, ohne Reue. Und genau da fangen die Probleme des Abends auch schon an.

Denn Aue (Peter Kurth) sitzt eben nicht unter uns, er ist von Beginn an isoliert. Um ihn herum sind einige Plätze frei gehalten, er sitzt im grellen Scheinwerferlicht, während wir im Dunkeln verharren. Kaum hat Petras Inszenierung ihren Ausgangspunkt festgelegt, schon dekonstruiert sie sich wieder. Diese ständige sofortige Rücknahme gerade eingeführter Interpretationsansätze durchzieht den ganzen Abend. Das, was wir dort sehen, sind eben dann doch nicht wir, und so kann sich der Zuschauer schon bald ein wenig entspannter zurück lehnen und dem sich immer stärker distanzierenden Treiben auf der Bühne aus komfortabler Entfernung zusehen.

Hinzu kommt, dass Petras die entscheidenden Thesen des Romans eher herunterspielt. Dieser Aue, wenn er sich kurzzeitig mal umfassen lässt, ist kaum der gebildete, kultivierte Weltbürger, den Littell im Sinne hatte, eher ein langweiliger Durchschnittsmensch, für den natürlich niemand im Saal sich selbst halten mag. Er ist kein Überzeugungstäter, eher ein Opportunist. Zu stark betont Petras auch die zweifelnden Momente, die angewiderten Reaktionen auf das Geschehende, in dem Aue eher als Beobachter denn als Täter auftritt. Eigentlich will er das Ganze nicht, suggeriert das, die wirkliche Verantwortung landet dann schnell wieder auf den Schultern der sadistischen Schlechter. Zwischen einem, der die Verbrechen nicht verhindert, und dem, der sie plant und vorantreibt, ist eben doch ein Unterschied. Die wirklich Bösen bleiben auch hier die anderen. Die monströse Kluft zwischen dem intellektuell Schöngeistigen, der in den Schönheitsbegriffen idealistischer Philosophie klassischer Kunst verankerte deutschen Hochkultur und dem Grauenhaftesten, zu dem Menschen fähig waren (oder sind), tut sich hier nicht auf. Für verstörendes Erkennen bleibt hier kein Raum.

Die anderen Figuren tun ein Übriges. Insbesondere Cristin König darf ihre Figuren wiederholt ins albern Karikierende abdriften lassen, was immer wieder zu Lachern führt. Das ist kein verstörtes, widerwilliges Lachen, sondern ein befreiendes, distanzierendes. Das Grauen, von dem da erzählt wird, es ist so weit weg, die Komik hebt es endgültig weitgehend auf, auch wenn sie wie im albern französelnden Moreau des Thomas Lawinky zuweilen ins Peinliche kippt. Die vielen hübsch anzusehenden Regieeinfälle Petras, der insbesondere mit den Möglichkeiten des kippbaren Spiegels spielt, stehen größtenteils für sich, zu dick ist auch die Glasschicht, durch die wir das Geschehen beobachten. Die vierte Wand, sie wahr selten spürbarer als an diesem Abend, der doch angetreten war, uns den Spiegel vorzuhalten. Und so tritt das Publikum etwas gelangweilt und weitgehend unberührt den Heimweg an. Angesichts des Stoffs eine nicht zu unterschätzende Leistung dieser Inszenierung.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2011/10/22/jonathan-littell-die-wohlgesinnten-maxim-gorki-theater-berlin-regie-armin-petras/
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