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Wogen aus Blei

von Andreas Klaeui

Zürich, 30. September 2011. Vielleicht muss man hinten beginnen. Da haben Hamm (Robert Hunger-Bühler) und Clov (Jean-Pierre Cornu) ihr Spiel, das nie endet, fast schon zum Theaterschluss gebracht, Hamm bleibt alleine im Rollsessel, Clov verabschiedet sich im schwefelgrünen Ausgehkostüm vom Huis-clos in eine Außenwelt – und findet da einen Song. "You will miss me when I burn" von Will Oldham (was für ein schöner Name in diesem Zusammenhang). "It is longing that I feel, to be missed for, to be real."

Sehnsucht nach authentischer Zwischenmenschlichkeit: Wenn's nicht so pathetisch wäre, könnte der Abend hier auch enden. (Was noch folgt, ist Hamms große Wegwerfgeste.) Stefan Pucher ist ein Meister der millimetergenau austarierten, dabei mächtig suggestiven Bühnenatmosphären, das erweist er in diesem "Endspiel" – seiner ersten Beckett-Inszenierung – mit aller Deutlichkeit. Was er mit diesem Song bricht, ist eine zuvor beinahe ins Unerträgliche gesteigerte Empfindung von Absurdität. Darin blitzt etwas auf wie die existentielle Revolte in der Beklemmnis dieses Beckettspiels, das nie stehenbleibt und sich stets im Kreis bewegt, natürlich wird auch sie nicht zum Ziel führen, wo das Gestern "ein dickes Ende Elend her" ist, ein Morgen nicht existiert und das Heute sich in permanenter Wiederholung erschöpft. Aber versuchen kann man's ja. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Wie aufgesprühte Graffiti

Pucher eröffnet dem Abend damit an seinem Ende eine neue Dimension – wie in Umkehr zum Anfang, wo sich über Bilder von der Außenwelt, Videofahrten durch Zürich, in signalgrüner Zweidimensionalität die Umrissbilder von Hamm und Clov legten, als wären's aufgesprühte Graffiti. Der eiserne Vorhang hebt sich, die Bilder verlieren sich auf einer Bühne ganz in Grün, im grünen Licht, das den Schauspielerteints einen Graustich verleiht, ein Retro-Grau wie im Schwarzweißfilm oder bei einer noch nicht fertig entwickelten Fotografie.

Die zweite Lichteinstellung ist Rot: leuchtendes Signalrot, das auch mal in den Zuschauerraum hinüberkippt. Natürlich: Grün und Rot, als Farben stehen sie komplementär zueinander wie Hamm und Clov, die ja ohne einander nicht leben und nicht sterben können und in dialektischem Verhängnis aufeinander angewiesen sind wie, die Namen sagen's, der Schinken und die Gewürznelke. Natürlich: Die Außenwelt im "Endspiel" ist schwarz und öd, was "Flora, Pomona, Ceres" nicht mehr zuwegbringen – Grün – erhält sich im Innern in Künstlichkeit. Doch so einfach ist es nicht. Die Lichtwechsel folgen keiner Bedeutungsdramaturgie – "Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu bedeuten?", ängstigt sich Hamm –, sondern sie legen sich wie Farbflächen über die Bühne und geben der Inszenierung ihren eigenen Rhythmus; einen gleichsam nonfigurativen Rhythmus, wie in einem Gemälde; Puchers Inszenierung wirkt auf dieser Ebene geradezu abstrakt.

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Robert Hunger-Bühler und Jean-Pierre Cornu.
© Matthias Horn

Schauspielerische Feinarbeit

Auf der Ebene der großen, suggestiven, auch deroutierenden atmosphärischen Bilder – die Feinarbeit liegt bei den Schauspielern. Da wird alles ausgespielt, was im Text nur drinsteckt, da wird das "Endspiel" auch wirklich zum Spiel, zur hinreißenden, auch hinreißend komischen Theaterarbeit. Hamm gähnt wie ein Filmlöwe, wenn Clov ihn unter seinem Tuch hervorholt, gierig fragt er nach den Beruhigungspillen, heiser und ängstlich nach Clov, oder pfeift ihn mit der Trillerpfeife her. Er schikaniert Clov nach allen Regeln der Kunst, soigniert schlägt Clov zurück, in stillem Triumph oder mit lautem Gezeter. Sie können sich wie Kinder triezen, sie sind aufsässig, geben sich auch mal im gehässigsten Staccato ihre Repliken – denn immer spielen sie ja Theater –, und als Hamm sich entsetzt fragt, ob sie nun tatsächlich was bedeuten, was reibt sich da Clov mit der Hand hektisch dazu in der Hose? – Er hat einen Floh; der Insektentod erfolgt postwendend per Pulver.

Von zahnloser Boshaftigkeit ist auch Siggi Schwienteks alter Nagg – für einmal nicht aus der Tonne heraus, sondern aus einer Art Schrein auf der Hinterbühne, da thronen er und Nell wie vergammelte Götzenfiguren und entschweben schließlich in eine andere Welt. Eine Welt der Puppen, eines lebensecht-leblosen Chors.

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Das ist im lustvollen Schlagabtausch von einiger Komik, unangestrengt, frei. Doch begnügt sich Pucher damit nicht. Er sieht in Hamm und Clov nicht bloß die jämmerlichen Existentialclowns, er zählt nicht nach gelandeten Treffern. Sondern legt über das Spiel – und das ist das wahrhaft Beeindruckende an diesem Abend – ein beunruhigendes Fluidum von Endgültigkeit und auswegloser Absurdität, das sich auch auf die Komik auswirkt, die Wahrnehmung des Ganzen geradezu verlangsamt. Wenn hier die Wogen hochgehen, dann sind es Wogen aus Blei.


Endspiel
von Samuel Beckett
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Marysol des Castillo, Musik: Christopher Uhe, Video: Stephan Komitsch, Andi A. Müller, Licht: Ginster Eheberg, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg.
Mit: Robert Hunger-Bühler, Jean-Pierre Cornu, Iris Erdmann, Siggi Schwientek.

www.schauspielhaus.ch


Ein anderes Endspiel inszenierte Jan Bosse 2007 am Deutschen Theater Berlin, mit dem Duo Ulrich Matthes und Wolfram Koch.

 


Kritikenrundschau

"Komik verkommt zum Comic, dessen Zweidimensionalität sich jeder Tiefenschärfe verweigert – kein Endspiel, bloss eine grün polierte Oberfläche." So zeigt sich Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (3.10.2011) von diesem Pucher-Abend enttäuscht. "Was Dekoration scheint, zeigt sich als Dekonstruktion von Becketts lebensweltlichem Konstrukt. Pucher will sezieren statt deuteln. Er kennt Becketts Aversion gegen Deutungsversuche, auf die ihn ein hilflos nach 'Sinn' grabschendes Publikum einst festzunageln versuchte." Allein seine Mittel seien "recht und gut, aber viel zu wenig für dieses geniale Stück, das in Dialogfragmenten die Schöpfung samt ihrem Untergang nachvollzieht. Den grossen Reichtum des Universums, von Beckett in feinsten Anspielungen auf Literatur und Philosophie skizziert und mit Geschichten schmerzlich lebendiger Humanität unterfüttert, reduziert Pucher auf platten Schematismus."

Dieses Spiel von Herrschaft und Unterwerfung gleiche einer Versuchsanordnung, die so oder anders verlaufen könnte, schreibt Klara Obermüller in der Welt (7.10.2011). "Ja, selbst die Verzweiflung scheint nicht mehr die gleiche wie früher. Sie ist zwar noch da, aber sie überträgt sich nicht mehr, sondern wird gezeigt: ironisch gebrochen, gewissermaßen ein Zitat ihrer selbst." Der Preis dafür: Hamm und Clov ließen einen kalt. Obermüllers Fazit: "Zu geleckt, zu glatt war das Ganze, als dass es hätte an die Nieren gehen können."

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