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Aber bitte mit Butter!

von Esther Boldt

Frankfurt, 6. Oktober 2011. Tropfnass kommt er von draußen zurück, eine rechte Jammergestalt mit gebeugten Schultern. Auf Hjalmars Stirn kleben schüttere Strähnen, kein Wunder, ist er doch ohne Mütze in den eisigen Wahrheitsregen hinausgegangen! Gegen dieses Sauwetter hilft nur Ginas Hausrezept, sie zieht ihrem Gatten das Unterhemd mit dem eingenähten Bequemlichkeitsbäuchlein über den Kopf wie einem kleinen Jungen, der beim Spielen die Zeit vergessen hat. Noch den ausgeleierten Strickpulli drüber und ein Wurstbrot geschmiert – "mit extra dick Butter, bitte!" –, dann sollte das Unwetter rasch vergessen sein! Doch an die karge Wiedervereinigungstafel schleicht sich eine dünne Gestalt im schwarzen Unheilskostüm, um den Warmduscher wieder auf den rechten Weg zu bringen, auf jenen steinigen Pfad des Heldentums, in dem Wahrheit vor Wurstbrot geht.

Am Schauspiel Frankfurt hat Regisseurin Karin Henkel "Die Wildente", Ibsens Komödie mit Tragödienfallhöhe, in scharfkantige Stummfilmästhetik übersetzt: Sie lässt einen Chor mit wattierten Bäuchen und blassgeschminkten Gesichtern auftreten, aus ihren kajalumkränzten Augen schauen auch die anderen Figuren etwas hohlwangig aus. Flackernd wirft ein Beamer in zackiger Schrift verfasste Zwischentitel auf das Bühnenbild und verdoppelt so das Gesagte. Im großen Haus rotiert die Drehbühne, ein Schicksalsrad mit einer Wendeltreppe in der Mitte, um die Bühnenbildnerin Janina Audick eine Reihe halbdurchlässiger Kammern gebaut hat: Ekdals gute Stube in zwei Variationen sowie der Salon der Werles drehen sich fast fortwährend am Zuschauer vorüber, verbunden durch Fenster und Türen, deren Vorhänge aber auch rasch zugezogen werden können.

Schicksalsgefädelte Dreiecksgeschichte

Alles hängt hier mit allem zusammen, die Schicksalsfäden begegnen sich in Direktor Werles Händen. Dessen heimkehrender Sohn Gregers ist bei Henkel eine Tochter im tiefdekolletierten Abendkleid (Lena Schwarz). So werden aus dem gegensätzlichen Freundespaar Gregers – Hjalmar ehemalige Liebende, aus dem Konflikt zwischen heimischer Sicherheit und unerbittlicher Wahrheitssuche eine Dreiecksgeschichte, in der Torben Kesslers Waschlappenwicht Hjalmar zwischen seiner pragmatischen, breithüftigen Ehefrau Gina (Claude de Demo) und der drahtigen, jähzornigen Gregers steht.

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Schattenspiele: "Die Wildente" in Frankfurt
© Birgit Hupfeld

Wie eine tollgewordene Detektivin hockt Lena Schwarz auf Fensterkanten oder reckt sich über den schwarzlackierten Flügel, "Aha!" faucht sie ein ums andere Mal, während sie ihren Vater verhört – der ist schuld daran, dass der alte Ekdal im Gefängnis landete und nun ein gebrochener Mann ist. Zudem hat er Hjalmar Ekdal mit seiner ehemaligen Mätresse, dem Hausmädchen Gina, verkuppelt. Und nun stellt sich die dämonische Frage: Ist Hjalmars Tochter Hedwig überhaupt die seine? Oder nicht vielmehr die Werles? Begierig sammelt Gregers Indizien für die Manipulationen des verhassten Vaters, um sie bei Gelegenheit Hjalmar zu servieren.

Auf dem Altherren-Dachboden

Die Doppelbödigkeit der Vorlage übersetzt Henkel in ausdrucksstarke Bilder und theatral vergrößerte Gesten, wie sie in den frühen Tagen des Stummfilms eben üblich waren, und schafft so eine atmosphärisch dichte, eigene Welt auf der Bühne. Malerische Schatten fallen auf weiße Gardinen, ein blasswangiger Chor steckt seine Kollektivnase in Angelegenheiten, die ihn nichts angehen und aus dem Off ertönen Schreie, die das Bühnengeschehen kommentieren. Es ist, als sei die ganze Bühne zum Dachboden geworden, der dem alten Ekdal (wunderbar verknöchert: Michael Goldberg) als Jagdrevier dient, diese schrullige Gegenwelt, in der Männer noch Männer sein dürfen und auf die Pirsch nach Bären gehen, die sich als Kaninchen entpuppen.

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In dieser neblig-trüben Zwischenwelt sitzt der Klamauk tief und fest, hier werden Running Gags zu Tode geritten, und doch blitzt in der grotesken Überzeichnung das Allzumenschliche von Ibsens Figuren immer wieder auf. Allein: Warum die Regisseurin den Norweger mit dem Stummfilm gepaart hat, bleibt ein Rätsel, und es spielt sich umso penetranter in den Vordergrund, als die Kurzweil nach der Pause ein Ende hat: Geradezu schwermütig wird die dreistündige Inszenierung mit ihren trotzigen Kindsköpfen, die beharrlich auf ihre eigene Weltwahrnehmung pochen und sich im Selbstmitleid verbohren. Die Ideen sind ausgespielt, das Rad läuft sich leer und alles wird zum Scherenschnitt: papiern und zweidimensional. Da hilft auch kein Wurstbrot mehr, und sei's fingerdick mit Butter bestrichen.

 

Die Wildente
von Henrik Ibsen
Regie: Karin Henkel; Bühne: Janina Audick; Kostüme: Klaus Bruns; Musik: Arvild J. Baud; Video: Kathrin Krottenthaler; Choreografie: Kate Strong; Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Martin Rentzsch, Lena Schwarz, Michael Goldberg, Torben Kessler, Claude De Demo, Wiebke Mollenhauer, Arvild J. Baud.

www.schauspielfrankfurt.de


Mehr zu Die Wildente? Michael Thalheimer inszenierte sie in Berlin (Februar 2008), Peter Dehler holte in Schwerin (Mai 2008) die Mutter in den Mittelpunkt und Siegrid Herzog reduzierte das Stück in Augsburg (Mai 2009) auf seinen Kern.

Kritikenrundschau

Michael Hierholzer schreibt im Regionalteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.10.2011): "Die Schauspieler haben den Abend gerettet." Auch wegen des komischen Talents von Torben Kessler und Lena Schwarz. Bloß sei das Stück keine Komödie, auch wenn es "possenhafte Momente" und das "bürgerliche Trauerspiel als solches" sowieso "die Tendenz zur Farce" in sich trage. Karin Henkel mache "cineastische Anleihen zuhauf", ein Teil des Premierenpublikums habe sich zu Buh-Rufen animiert gesehen. Die Drehbühne verwirbele die Fragen nach Wahrheit und Schuld, Lebenslüge und Charakter ins Lächerliche. In Frankfurt werde das "rasante Verschwinden von Lebensentwürfen inszeniert, die an Konventionen orientiert sind, auf ein festes soziales Gefüge bauen, sich moralischen Ansprüchen stellen". Anstelle des Dramas erscheine die Daily Soap, deren "Kitsch- und Klischeehaftigkeit" sogleich im "Klamauk" aufgehe. Dass Gregers mit einer Frau besetzt ist, sei ein Regieeinfall, der "sich nicht wirklich" erschließe. Das tragische Ende des Stücks wirkte "reichlich aufgesetzt. Wie der ganze Ibsen in dieser Inszenierung."

"Heillos überanstrengt", sei diese "Wildente", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (8.10.2011), außen gutaussehend, innen "teils bedenklich" oder, wenn man so wolle, "unbedenklich hohl". Die Überspanntheit ziehe ihre Legitimation aus "der Überspanntheit des unglückseligen Wahrheitsfanatikers Gregers Werle", bei Ibsen ein "klassischer Henrik-Ibsen-Sohn", bei Henkel "eine Stummfilmdiva und Ausdruckstänzerin nach Art von Mary Wigman". Lena Schwarz spiele das "sagenhaft hingegeben". Man sehe "dem zappelnden, zuckenden" Torben Kessler zu und bewundere "sein Zappeln und Zucken". Neben "Grusel" und "regelrechten Klamauk" suche Henkel "das Bizarre" und koste es "in attraktiven, aber beliebigen Bildern aus". Das Kleine-Leute-Glück im Hause Ekdal drehe "in Varianten an uns vorbei", Claude de Demo und Wiebke Mollenhauer seien "wunderbar tapfer und unglücklich" und "nicht überanstrengt".

Auf der Webseite der Nassauischen Neuen Presse/ Frankfurter Neue Presse (9.10.2011) schreibt Sabine Kinner: Die Inszenierung von Karin Henkel habe kaum begonnen, da sei das "zu spielende Stück schon vernichtet". Mit einem "völlig unverständlichen Kunstgriff" reiße die Regisseurin die "Konstruktion" Ibsens aus der "psychologischen Halterung", indem sie den Fabrikantensohn zu eier Frau mache. Mit allen erdenklichen Einfällen lenke die Regie vom Inhalt ab, spekuliere mit dem "Erregungsfaktor eingestreuter Slapsticks", "revueartig arrangierter Sprechchöre". Rasch sei das "Drama in die Groteske überführt", und von dort gebe es keinen überzeugenden Weg mehr zurück in die Tragödie, als die das Stück ende. Die Schauspieler schrien und tobten reichlich. "So wenig ihnen hier abverlangt wird, so wenig haben sie zu bieten." Fazit: "Ein schrecklicher Abend. Eine Zumutung, wenn nicht gar eine Gräueltat seitens der Regisseurin."

Als "expressionistischen Stummfilm" erlebt ein enttäuschter Jürgen Berger diese Inszenierung für die Süddeutsche Zeitung (11.10.2011). Die Zutaten taugten nicht für eine "Reise ins Herz der bürgerlichen Doppelmoral": etwa der Chor, der "singt, als sei er bei Brecht/Weill zu Hause", oder "dieser düstere Racheengel Gregers", den Lena Schwarz spielt. Der "Geschlechtertausch" helfe Hjalmars Gattin Gina nicht, "zumindest die Zicke in sich entdecken", wenn sich Gregers "ganz Frau, die er nun mal geworden ist, wie ein Vamp an Hjalmar ranschmeißt". Es fehle für solche Wendungen "bei Ibsen der Text" und also erlebe man, wie "die Inszenierung über ihre kühnste Setzung stolpert".

Kommentare  
Die Wildente, Frankfurt: retten was geht
ich frage mich, wo ist das herz, wo die not der figuren. die gags sind hin und wieder nett, aber es ist die pure, zynische oberfläche. gags gehen doch auch mit tiefe, oder? und das frauenbild - aber auch das männerbild von frau henkel erschüttert mich regelrecht. eine fast verbitterte weltsicht, aber eben nur oberflächlich,kurzsichtig. dieser abend macht einen grossen bogen um alles was erzählenswert ist und bläht sich dabei auf. wie die bühne. aber die spieler retten was zu retten geht.
Wildente, Frankfurt: schrecklich
"Ein schrecklicher Abend..." (siehe http://www.fnp.de/nnp/nachrichten/kultur/geschlechtsumwandlung-in-fabrikantenkreisen_rmn01.c.9269566.de.html)
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!
Wildente, Frankfurt: wo war der Intendant?
es ist wirklich erbärmlich, frankfurts wildente. bleibt für mich die frage: wo war der intendant? hat er die aufführung nicht gesehen? oder gesehen und gedacht, dass ist schon okay? oder war ihm das egal? oder als konkurrierender regisseur sogar ganz recht? oder was?
Wildente, Frankfurt: ideologische Abziehbildchen
Ich gehe schon lange nicht mehr ins Schauspiel Frankfurt und die Kritik wie die Kommentare bestätigen mir dankenswerterweise nur wieder, warum: keine Haltung, keine Fragen und erst recht keine Ambition, irgendetwas zu riskieren, an Reeses Haus. Das war in der viel gescholtenen vorhergehenden Intendanz noch anders, wenn auch sicherlich anstrengender. Heute gibts dafür ein ideologisches Abziehbildchen nach dem anderen, als Schauspielertheater getarnt.
Wildente, Frankfurt: einer der besten Abende
Ich muss mich dem entgegenstellen und bekunden, für war einer der besten Theaterabende seit langem. Ich weiß gar nicht was ihr euch so anstellt.
Wildente, Ffm: Provinzialität in den Kommentaren
Ich fasse es einfach nicht was hier an Biederkeit und Provinzialität in den Kommentaren hervorlugt.
So einen Abend wie von Karin Henkel, ähnlich wie Drei Schwestern vor 2 Jahren am Frankfurter Schauspiel sieht man nur in Berlin und München. Es ist tiefttraurig dass in den beiden großen Zeitungen weder Michalzik noch Stadelmaier geschrieben haben, vielleicht hätten sie diesen großartigen Abend begriffen.
So eine lustige und gleichzeitig voll erzählte Wildente ohne biederen Zugriff habe ich noch nie gesehen.
Dementsprechnd sensationell die Schauspieler, fast alle geeint auf einem Spielstil. Wie gesagt reingehn und staunen.
Wildente, Frankfurt: Und jetzt Hamlet, stöhn!
@hibbe
Reeses Spielplan ist so spannend wie ein alter Schauspielführer. Jetzt, nach allen Klassikern fürs Schülerabo, kommt bald noch Hamlet... Klar. Wie wärs demnächst mit Faust? Oder Kabale und Liebe? Oder Dreigroschenoper?
Die Wildente, Frankfurt: lustvoll, witzig, genau
Kann mich mainzer handkäs und Stadelmeir nur anschließen: Ich habe "Die Wildente" von Anfang bis Ende genossen! Ein mutiger Zugriff auf ein schwieriges Stück, lustvoll, witzig und gleichzeitig psychologisch genau - selbst in der totalen Überzeichnung werden die Figuren nicht verraten. Das tragische Ende zum ersten Mal wieder wirklich tragisch erlebt.
Ein aufregender Abend, wo sonst Ibsens moralischer Zeigefinger und eine gewisse Vorhersehbarkeit regiert hätten.
Wildente, Frankfurt: das Beste seit zwei Jahren
Für mich war diese Inszenierung das Beste was ich in den letzten 2 Jahren am Schauspiel Frankfurt gesehen habe. Die ewig Gestrigen werden mit der Auffführung sicherlich nicht warm.
Wildente, Frankfurt: schlüssig, überwältigend + mit klarer Haltung
zu dem kommentar von hibbewiedribbe: es gibt wohl kaum was blöderes, als sich einer kritik über einen abend anzuschließen, den man nicht gesehen hat. ich finde auch, dass das frankfurter theater an haltung zu wünschen übrig lies in der letzten zeit (siehe die läppische, leere räuber inszenierung) aber was dieser abend wohl unbestreitbar hat ist: eine meinung, eine klare haltung. den zwar klugen, aber ober-pathetischen ibsenschen aussprüchen mit dieser virtuosen skurilen stummfilmästhetik zu begegen, war für mich höchst schlüssig und in keinster weise die figuren oder das drama entschärfend. im gegenteil: diese spielweise hat den pathos ausgestellt und dem zuschauer freigestellt, sich dazu zu positionieren und dadurch nie bevormundet, sondern im besten sinne überwältigt. selten habe ich in frankfurt einen so starken, bezaubernden, verzaubernden, durchdachten, spannenden abend gesehen. ich war begeistert, gespannt, berührt, entzückt.
wer reden will soll erst mal die augen aufmachen!
Die Wildente, Frankfurt: beste Inszenierung unter Reese
etwas verspätet gestern, ohne allzu große erwartungen, "die wildente" gesehen. schlechtes ohmen: der saal nur zu 25% gefüllt. zudem war henkels unverständlicher weise zum theatertreffen 012 eingeladenen münchner inszenierung so entsetzlich langweilig, wo doch der kölner "kirschgarten" so herrausragend war. ... und dann... habe ich die für mich beste inszenierung in frankfurt unter reese (knapp vor "ödipus/antigone", "mein kampf" und vielleicht noch "der diener zweier herren") gesehen.
zum ersten mal nimmt man torben kessler wirklich wahr - seine bisher beste schauspielerische leistung, nachdem er beispielsweise in den in den bruinier-inszenierung vollkommen unterging. lena schwarz hat so eine energie, fantastisch! sie als gregers zu besetzen ist im prinzip vollkommen logisch, um die größt mögliche oppostion zu ihrer gegenspielerin gina herzustellen. und meiner vorrednerin kann ich auch nur zustimmen, dass die stummfilmästhetik und das damit verbundene expressionistische schauspiel wunderbar die übermäßig auf sentimentaliäten und offenbarungseide aufgebaute konstruktion des stücktextes sowie den pathos der figuren offenlegt!
und noch erwähnt sei: die dramaturgin nora khoun, die noch wirklich gut konzipierte programmhefte macht. jeder text erschließt ein puzzleteil zur wildente, so viele perspektiven... es wäre wirklich schade, wennn dieser abend die aktuelle spielzeit am schauspiel frankfurt nicht überlebt!
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