Angst als Antriebsmittel der Geschichte

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 3. November 2007. Alles dreht sich. Die Zeit ist ein Kontinuum, in dem das Morgen nicht besser als das Gestern ist und vom Heute aus eine Zeitreise in die  Vergangenheit angetreten wird. Auf der Analyse-Couch beginnt für Leopold Kessler der Schlaf der Unvernunft. Unter hypnotischer Einwirkung fällt er in einen Traum und in sein zu durcharbeitendes Trauma von "Europa" – jedenfalls in Sebastian Baumgartens Fassung und Regie von Lars von Triers frühem Kinofilm.

Die zehn Dogma-Regeln des dänischen Kino-Reformators liegen noch ein halbes Jahrzehnt weit in der Zukunft, als Lars von Trier 1991 diesen letzten Teil seiner Trilogie über die verwüstete – auch mental verwüstete – Nachkriegslandschaft und die moralischen Grauzonen des alten Kontinents dreht. "Europa" arbeitet mit allen Raffinessen der Aufnahme- und Studiotechnik, mit Schwarzweiß-Bildern, in die schockhaft wie ein element of crime Farbe eindringt, mit Panoramen, die an die mythisch melancholische Bildkraft des Russen Tarkowski erinnern, mit suggestiven Rückprojektionen.

Im Herz der Finsternis 

Kino ist hier noch bei von Trier die große Bilder- und Illusionsmaschine. Eine Reise ins Herz der Finsternis, bei der die Nacht der romantische Begleiter des Helden ist. Katastrophenfilm, Melodram und Thriller werden vereint zum artifiziellen Gefühlskino – das sich auch wie ein Epilog auf Visconti und Bob Fosse, Liliana Cavani und Fassbinder und deren thematische und ästhetische Auseinandersetzung mit dem schönen Schein des Nationalsozialismus als Neigung zur Dekadenz lesen lässt. "Die Angst, in einem Zug zu sein, nicht aussteigen zu können und nicht zu wissen, wohin die Reise geht", beschreibt eine Erzählstimme die Atmosphäre.

Die Stimmung eines Lands im Vorüberfahren  

Diese Angst, klaustrophobisch verdichtet, ist das Antriebsmittel der Geschichte um den deutschstämmigen US-amerikanischen Kriegsdienstverweigerer Leopold Kessler. Er – eine Kafka-Figur, ein Lehrling des Lebens, naiv und guten Willens – entdeckt 1945 im Vorüberfahren ein Land, das den Weg vom Idealismus in die Barbarei, vom Untergang in einen korrumpierten Neuanfang genommen hat. Ein rechtsfreier Raum, in dem Werwölfe ihr Unwesen treiben und alte Kameraden und neue Parteigänger sich treffen: gewissermaßen das Gegenbild zum Wien in "Der dritte Mann".

Leopold lernt Katharina Hartmann kennen, die Tochter des Inhabers der Eisenbahngesellschaft Zentropa, bei der er angestellt ist. Er wird in die Familie eingeführt, heiratet Katharina. Vater und Bruder Hartmann werden ums Leben kommen. Leopold gerät zwischen die Fronten unbelehrbarer Nazi-Terroristen und Alliierter, wird als Attentäter angeworben, manipuliert, erpresst, ausgenutzt – bis die Bombe platzt.

Deutschland, ein Lummerland 

Alles dreht sich: nicht nur wegen des der dramatisierten Fassung hinzugefügten Prologs und seiner Zeitverschiebung. Nicht nur wegen der Drehbühne (Alexander Wolf) im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels, auf deren Boden die Namen deutscher und amerikanischer Unternehmen verzeichnet sind, die Kapital geschlagen haben aus dem Krieg. Sondern auch, weil links auf einem Grabbeltisch mit Produkten von Persil bis Aspirin eine Spielzeugeisenbahn rattert und, ausgestattet mit einer Minikamera, ihre Runden auf einen Bildschirm projiziert. Man denkt an Lummerland und an Jim Knopf. 

Sebastian Baumgarten, der in Amélie Niermeyers erster Düsseldorfer Spielzeit Sartres "Schmutzige Hände" mit Theorie, Video und allerlei Zeichensalat zum totalen Bild- und Textkrieg aufgerüstet hat, setzt auch in seiner zweiten Regiearbeit am Gründgens-Platz den Dauerbeschuss fort. Und er tut alles, und das sehr ausdauernd, um die Ebenen von Realität und Simulation auch für den Begriffsstutzigsten zu problematisieren und ein antidramatisches "method acting" zu inszenieren, für das sich das Achter-Ensemble wie wild gebärdet.

Puppenkiste fürs große Politspiel 

Das Deutschland im Jahre Null, wie es Baumgarten sieht und, demonstrativer als die Vorlage es tut, auf die ethische Verwirrung unserer Gegenwart bezieht, besteht aus Geld fressenden Kannibalen und einem Bestiarium comichaft überzeichneter Erscheinungen, die Anleihen beim expressionistischen Stummfilm, dem Ausdruckstanz und der Riefenstahl-Gymnastik nehmen. Wobei sich Nadine Geyersbach als Katharina Hartmann besonders hervortut, was sich von Ilja Niederkirchner in der Rolle des ahnungslosen Leopold nicht sagen lässt.

Die zwei überdrehten, collagehaft ambulanten Stunden, die trotz ihrer Dekonstruktions-Methoden exakt die Szenenauflösung des Films im Begleitkommentar mitliefern, haben das Tempo einer beschleunigten Zeitlupe. Wo von Lars von Triers formbewusster Kunstwelt das Irritierende einer Halluzination ausgeht, hat Baumgartens hysterische Trash-Schnulze mit Totentanzgeruch den Charakter aufdringlicher Unterweisung. Es ist, als habe sich jemand auf dem Theater eine modisch-medial aufgemotzte Augsburger Puppenkiste für große böse Politspiele gezimmert.

 

Europa
von Lars von Trier und Nils Vorsel
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Alexander Wolf, Kostüme: Ines Burisch, Video: Stefan Bischoff.
Mit: Miguel Abrantes Ostrowski, Markus Danzeisen, Nadine Geyersbach, Anna Nerlich, Ilja Niederkirchner, Götz Schulte, Pierre Siegenthaler.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

In der Deutschlandfunk-Sendung Kultur heute vom 4. November 2007  erklärt Christiane Enkeler: "Sebastian Baumgarten ist 37 und will Theater machen, das einen angreift." Doch für ein Theater der "emotionalen Auswirkungen" reiche die Adaption von Europa nicht aus. Es gelinge Baumgarten nicht, "die Atmosphäre von Surrealität und Absurdität adäquat auf die Bühne zu bringen". Am besten verstehe man die Aufführung, wo sie versuche, die Sprache der Bühnen-Groteske zu erneuern. Das zeige "atmosphärisch oft Wirkung", funktioniere aber oft nur, wenn man den Film kenne. Manches bliebe auch dann "rätselhaft". Vieles rausche "an einem vorbei wie ein Schnellzug. Es könnte Bedeutung haben. Muss aber nicht."

Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhr-Nachrichten (5.11.2007) macht es ganz kurz: Ohne die Filmsprache, ohne Montage, Kamera, Szenenbild ist "Europa" nur "hemdsärmelige Geschichte, Küchenpsychologie", ein "fußlahmer Thriller". Mit "Videos, Musik und Sound" mühe sich Baumgarten, einen "hypnotisierenden Sog wie der Film" zu kreieren. Vergeblich. "Bühnenbild, Kostüme (Barock bis Basecap) und das hysterische Spiel der Darsteller" tendierten "zu surrealem Kasperletheater".

In der taz (7.11.2007) beschreibt Regine Müller Sebastian Baumgartens Vorgehensweise: Außer einem Heine-Zitat keine weiteren "Texteinbauten und Montagen vom Regisseur, der für sein "politisch kritisches Fußnotentheater" bekannt sei. Stattdessen: Nicht nachlassendes "Aktions- und Technik-Dauerfeuer, fragmentiert, überzeichnet, ... grelle Schockeffekte", hohes Tempo, "das bisweilen auch für szenische Verwirrung sorgt." Dazu Wagner, Modelleisenbahn mit Minivideokamera. "Doch die klassische Übercodierung der Bilder, auf die Baumgarten sich sonst so gut versteht, scheint ihm diesmal ins Leere zu laufen." Der Abend schwitze und ächze unter Überambition, er wolle "seine Botschaft förmlich einprügeln und trampelt doch nur wild auf der Stelle."

 

 

Kommentar schreiben