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Die Kraft der Gegensätze 

von Kai Krösche

Wien, 13. Oktober 2011. Eine alte Frau, ein junger Mann. Sie: weltfremd, geht nur noch zu bestimmten Zeiten vor die Tür, sucht die totale, die utopische (oder allenfalls im Tod zu findende) Ruhe, fühlt sich bereits von der Aura anderer Menschen, insbesondere Kinder, gestört. Eine Aura, der sie dennoch wie eine Abhängige nachspürt, hinter dem Türspion lauernd, wartend auf den beruhigenden Augenblick, in dem die Spur des Gegenübers verfliegt und eine Leere zurücklässt. Er hingegen: Offen (wenigstens dem Schein nach), Weltenbummler (in Indien), der seinen Urlaub, die Nahrungsaufnahme ("Körpergewicht: 17% abgenommen"), die Nächte, ja offenbar die ganze Welt in Zahlen erfasst. Zahlen, die es nicht gut mit ihm meinen, denn er ist einer der Verlierer der Wirtschaftskrise.

U-Bahn-Schläger, Wirtschaftskrise, Kulturen-Clash

Ja, Wirtschaftskrise. Auch damit beschäftigt sich Ewald Palmetshofers Stück "Körpergewicht. 17%", das vor zwei Jahren als einer von vier Einaktern am Nationaltheater Mannheim unter dem Titel "4x4" aufgeführt wurde. Natürlich nur am Rande, den Fokus auf das Innere seiner Protagonisten legend. Das Individuum also als Spiegel gesellschaftlicher Umstände usw.; das ist nicht unbedingt etwas besonders Einfallsreiches, auch nicht in Palmetshofers Stück, wo es leider ebenso wenig etwas sonderlich Spannendes ist.

Allein die bewusste und im Stück klar angelegte Konzentration zweier monologisierender Figuren in einer Darstellerin verleiht dem die meiste Zeit nur an der Oberfläche kratzenden und wenig eindrückliche Bilder produzierenden Text (U-Bahn-Schläger, Wirtschaftskrise, Kulturen-Clash etc. verleihen dem Stück dafür einen allzu abgedroschen-zeitgeistigen Geschmack), ein gewisses Konfliktpotential, mittels dessen im Rahmen einer Inszenierung eine produktive Reibung entstehen könnte.

Zwischen Büroordnern und Urlaubs-Dias

Regisseurin Felicitas Brucker hat diesen Text nun ins Nachbarhaus, die kleine Nebenbühne des Schauspielhauses Wien gebracht, mit der Schauspielerin Katja Jung als Verkörperung jener beiden gegensätzlichen Stimmen. Als Bühne dient ein klaustrophobisch kleines, erhöhtes Holz-Kämmerchen, das neben der unsichtbaren vierten Wand einen Ausblick lediglich durch kleine Lüftungsschächte bietet.

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Im Licht des Diaprojektors: Katja Jung.
© Alexi Pelekanos

Die kurzen 50 Minuten überbrückt Brucker dabei mit einer – gemessen an der Aufführungsdauer – überwältigenden Fülle an Regieeinfällen: Von einem brennenden Dreirad (das an die diffuse Angst der alten Frau vor einer künftigen, heranwachsenden und sie überlebenden Generation erinnert) über einen Karton, gefüllt mit Wall-Street-Habseligkeiten (Hemd, Brille und, als wären es der Referenzen nicht bereits genug, Aktenordner mit dem Schriftzug "Lehman Brothers"), die von der Bühne geworfen werden, hin zur Urlaubs-Diashow, die sich mangels projizierter Bilder (der Projektor wirft nur ein weißes Viereck auf die Bühne) und aufgrund eines immer schnelleren Wechsels zu einem discogleichen und atemlosen Hell-Dunkel-Blitzen steigert.

Das ist nicht nur handwerklich auf hohem Niveau – überhaupt hat der Abend dank seines flotten Rhythmus keine Längen – sondern erzeugt auch hin und wieder spannende, uneindeutige Bilder, die ein Gefühl des Verlorenseins, der Enttäuschung und der diffusen Bedrohung vermitteln. Leider bleibt dabei das Eigentliche, nämlich Sprache und vor allem Inhalt des Palmetshofer-Textes auf der Strecke.

Zwei Seelen wohnen, ach! in einer Brust

So durchgehend solide die schauspielerische Leistung Katja Jungs auch ist, so sehr vermisst man dann trotzdem berührende Momente, in denen etwas aufbricht, Risse sichtbar werden in der nur scheinbaren Selbstsicherheit, die die Monologe sowohl des Mannes als auch der Frau suggerieren. Das wäre auch trotz der Schwächen der Vorlage möglich gewesen, hätte man hier einfach mehr an den Monologen selbst gearbeitet, anstatt die spannendsten Inszenierungsideen zu nebenstehenden, vom Text meist abgetrennten Kommentaren zu degradieren. Entsprechend wartet man dann auch vergeblich auf eine Zerrissenheit im Spiel Jungs – zwar werden die Wechsel von Frau zu Mann und von Mann zu Frau mit der Zeit schneller, zwar vermischen sich dezent die Rollen – ein Kampf, ein Aufeinanderstoßen im Körper, in der Sprache der Schauspielerin ist jedoch selbst am Ende nicht zu spüren.

So erstickt die Inszenierung in einer Vielzahl an ästhetisch konsequenten, aber ebenso oft auf überflüssige Weise den Text doppelnden Regieeinfällen das einzige Potential, das dem sonst in der Wahl seiner Bilder bei allem sprachlichen Geschick dann doch belanglosen Text innewohnt: Nämlich die Gelegenheit eines darstellerischen Grenzgangs, eines Widerstreits zweier vermeintlicher Gegensätze, der eben erst im Kunst-Körper der Auf-der-Bühne-Stehenden zu einer erkenntnisbringenden Symbiose gelangen könnte.


Körpergewicht. 17% (ÖEA)
von Ewald Palmetshofer
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Michael Zerz, Kostüme: Eva-Maria Lauterbach, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Katja Jung.

www.schauspielhaus.at

 


Kritikenrundschau

Begeistert ist Ronald Pohl im Standard (15.10.2011) von Katja Jung: Herrlich sei es, "wie Jung die Palette ihrer Möglichkeiten anrührt. Durch die Entlüftungsklappen ihrer Puppenstube liebäugelt eine seelisch Eingeschüchterte mit der Welt." Auf Palmetshofers "rhythmisch hübsch schnurrendem Text" allerdings lägen "ein paar Tonnen Sekundärliteratur: von Ulrich Beck aus abwärts immer nur das Beste". Immerzu glaube man, dass hier in Wahrheit gar keine Figuren reden, "sondern Theorie-Sprechpuppen mit beschränkter Haftung".

Palmetshofers Stil habe sich etwas verbraucht, findet bp in der Wiener Presse (15.10.2011). Dennoch sei das Stück "durchaus auch abgründig komisch in seiner Zelebrierung der Ticks der beiden Figuren, die sich über alles erregen: von lärmenden Kindern bis zu darbenden Indern". Katja Jung deklamiere souverän den Text. "Keine Frage, alles wahr und erschütternd, aber nicht sehr, weil man Predigten dieser Art dauernd hört."

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