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Die beste Zeit fürs Rudelgesetz

von Isabella Kreim

Ingolstadt, 15. Oktober 2011. Bei nasskaltem Wetter, in Regencapes, kommen sie zur Arbeit. Eine Fabriksirene quäkt. Dann ein Monolog Friedas über die Topographie und wirtschaftliche Situation Ingolstadts Ende der 1920er Jahre. Und Regisseur Donald Berkenhoff schärft diesen Prosa-Einstieg Nußbaumeders und lässt die kleinen Geschäftsleute und Handwerker, die wie Fleißers Vater, der Kupferschmied, ums wirtschaftliche Überleben kämpfen, einstimmen in eine Anklage gegen die sozialen Missstände.

Später werden nicht nur zwei junge Draufgänger des Sportvereins, sondern dieselben "Wutbürger" gewalttätig. Gegen die Grabsteine des Jüdischen Friedhofs und mit chorischer Unerbittlichkeit auch gegen eine, die sich ihren Spielregeln entzieht wie Frieda Geier, die Emanzipierte, die raucht, Auto fährt, sich als Mehl-Vertreterin gegen eine Männerkonkurrenz durchsetzt und es schließlich wagt, einen von ihnen, das Schwimm-Idol Gustl Gillich, zu verlassen. Weil er von ihr verlangt, ihre wirtschaftliche Selbständigkeit, mit der sie auch ihrer Schwester eine höhere Schulbildung ermöglicht, aufzugeben und sich als kostenlose Arbeitskraft in seinen Tabakladen zu stellen.

Falscher Mann oder falsche Umstände?

Friedas und Gustls Aufbruch in ein modernes Verständnis (vertauschter) Geschlechterrollen scheitert genauso wie die erste deutsche Demokratie. Frieda hat nicht den falschen Mann, sondern die falsche Zeit erwischt. Der finanzielle Druck lässt Gustl in sein reaktionäres Frauenbild zurück fallen, die Wirtschaftskrise treibt Deutschland in den Faschismus.

Um dies aufzuzeigen, bedarf es keiner Hakenkreuz-Menetekel. Fünf Schauspieler lassen die vielen Figuren des Fleißerschen Kleinstadt-Kosmos erstehen. Die Bürger bleiben immer präsent. Sie sitzen an zusammengeschobenen Tischen im Bühnenzentrum und werkeln. Da wird auf dem Tisch ein Fahrrad repariert und witzig als Projektor für einen Alt-Ingolstadt-Film fingiert. Die Klosterschülerin arbeitet an einer Engelsfigur, es wird getippt, gebastelt, repariert, genäht, Teig geknetet, gelesen, registriert und inventarisiert. Denn an den Wänden befinden sich mit Fotos versehene Akten, ein Stadtarchiv der Fleißerschen Figuren und Geschichten und gleichzeitig Regale eine Lagerhalle, aus denen sich spielerisch Requisiten entnehmen lassen. Die Bürger schauen zu oder von ihrer Tätigkeit auf, wenn sich Frieda und Gustl alleine glauben, brüllen auch mal "Ruhe" bei Gustls lautstarkem Trennungskampf um die Verflossene, umkreisen neugierig den Tisch, unter den der Student das Mädchen "ins Gebüsch" gezogen hat.

Symbolischer Stadtkosmos

Auch Fleißers Raumsymbolik mit dem konservativen Stadtkern und der Außenwelt hat Regisseur Berkenhoff nachgezeichnet. Ein Kreis aus Kleidern markiert den Grünring um die Stadt, den Freiraum für sexuelle Abenteuer und die Heldentaten von Gustl, dem Rettungsschwimmer. In diese Kleider wühlt sich Gustl in seinem Trennungsschmerz, rasch markieren einzelne Tische die Eisschollen, auf denen ein Junge versucht, die Donau zu überqueren: Spielerisch-improvisatorische Bühnenlösungen und präzise kleine Simultanaktionen sorgen für eine immer lebendige Erzählweise, die jede platte Illustration des Textes vermeidet.

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   Victoria Voss als Frieda und Enrico Spohn als Gustl                            © Ludwig Olah

In den über 30 Szenen nehmen die Männerrituale des Schwimmvereins starken Raum ein -  als Vorübung der lustfeindlichen Körperertüchtigung, auf die HJ und Wehrmacht zurückgreifen können. Die Liebesgeschichte zwischen Frieda und Gustl bleibt der rote Faden. Retrospektiv erzählen die beiden von ihrer ersten Begegnung, in der Betroffenheit ihrer Figur berichtet Frieda von Gustls Verwahrlosung nach ihrer Trennung. Denn Nußbaumeder hat soviele Brocken der Fleißerprosa wie möglich integriert. Dennoch wirkt die sperrige, lapidare Bildhaftigkeit der Fleißerschen Sprache in den dialogisierten Passagen notgedrungen etwas abgeschliffen.

Hellsichtige Parabel

Enrico Spohn ist kein Kraftprotz, sondern ein eher schmächtiger Gustl. Umso sinnfälliger muss er aufbrausen, sich eitel in Positur werfen, um bestehen zu können gegen die starke, kluge, überlegene Frieda von Victoria Voss mit der Fleißerschen Bubi-Kopf-Perücke. Durchaus auch amüsante Glanzlichter sind die anderen Rollenportraits, herausragend Denise Matthey als die Klosterschülerin Linchen.

In Berlin haben sich SA und Kommunisten Straßenschlachten geliefert, in Ingolstadt opfert Gustl vier Schneidezähne bei einer Schlägerei, um die Ehre des Schwimmvereins zu retten. Auf das "Rudelgesetz", wie die Fleißer es nennt, ist überall Verlass. Nußbaumeder und Berkenhoff haben die durchaus auch anekdotischen Ingolstadt-Episoden zu einer hellsichtigen Parabel der Kleinstadt-Mentalität im Kontext einer Wirtschaftskrise verdichtet und damit Fleißers Roman "Vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen" unabweislich auf die analytische Höhe von Lion Feuchtwangers "Erfolg" gehoben. Endlich.

Ein großer Wurf für Marieluise Fleißer, Ingolstadt und eine Gesellschaft in der Finanzkrise. 


Eine Zierde für den Verein (UA)
von Marieluise Fleißer, für die Bühne bearbeitet von Christoph Nußbaumeder
Regie und Bühnenbild: Donald Berkenhoff; Kostüme: Monika Gebauer.
Mit: Doris Buchrucker, Denise Matthey, Victoria Voss, Anjo Czernich, Ulrich Kielhorn, Sascha Römisch, Enrico Spohn.

www.theater.ingolstadt.de

 

Mehr zu dem Dramatiker Christoph Nußbaumeder, Jahrgang 1978: zuletzt wurde hier sein Stück Eisenstein besprochen, von Anselm Weber im September 2010 in Bochum uraufgeführt. Und mehr zum Regisseur Donald Berkenhoff gibt es im nachtkritik-Lexikon.

Kritikenrundschau

Barbara Bogen bespricht auf BR 2 (17.10.2011) zwei Premieren zum Ingolstädter Spielzeitauftakt, über Fleißers Stück sagt sie: "eine selbstbestimmte Frau sucht die Freiheit und sich selbst und findet in dem mageren Gustl einen Mann zwischen Körperwahn und Sportfieber, ein lebensängstliches Schwimmtalent, eine Zierde für den Verein", so charakterisiert Borgen das Stück. Die Bühne mit ihren losen Kleiderfetzen und Schuhen und wecke Assoziationen an Christian "Boltanskis KZ-Räume". Fleißers Text stehe in der Nachbarschaft zu Fallada und Döblin und nehme zugleich Jelineks Sportstück vorweg, "Sport und Faschismus, das scheint mitunter tatsächlich verwandt zu sein", eine "viel versprechende Premiere".

Auf der Webseite des Donaukuriers (17.10.2011) schreibt Anja Witzke: Die Beziehung zwischen der "mehlreisenden" Frieda Geier und dem Tabakhändler Gustl Gillich sei "eine komplizierte Beziehung in einer komplizierten Zeit". Eine Zeit des Aufbruchs, in der die "neue Frau" selbstbewusst mit alten Konventionen breche und "Männerarbeit" nachgehe. Auch eine "Zeit der Angst vor dem Umbruch, vor Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise", die viele "empfänglich" mache für "vermeintlich einfache politische Lösungen – und radikale Parolen". Fleißer habe "hellsichtig und mit kunstvoler Akribie" beschrieben, wie man "lebt und liebt in dieser Zeit in dieser kleinen Stadt". Nußbaumeders Fassung folge einer anderen Chronologie als der Roman und wechsele zwischen Erzähl- und Spielebene. "Immer wieder treten Figuren heraus, sprechen das Publikum direkt an." Auf der Bühne, die "wunderbares Spielmaterial" biete, herrsche "der Eindruck einer undurchschaubaren Ordnung vor", die von den "Figuren – katalogisierend und inventarisierend – zunächst emsig aufrechterhalten wird". Mehr und mehr breche diese Ordnung ein. Victoria Voss und Enrico Spohn in den Hauptrollen meisterten ihre Aufgaben mit Bravour. Grandios führten die beiden Schauspieler "die Komplexität ihrer Charaktere wie ihrer Beziehung" vor. Das Ensemble zeige "hohe Präsenz und Präzision".

Eine "beeindruckende, höchst lebendige, oft auch sehr witzige" Inszenierung hat Friedrich Kraft gesehen, der im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung (18.10.2011) schreibt. Christoph Nußbaumeder habe aus der Romanvorlage geschickt eine Szenenabfolge gebaut und wohltuend auf billige Aktualisierungen verzichtet. Weiterhin lobt Kraft Regie, Bühne und Kostüme sowie "hohe Sprachqualität, kluge Tempowechsel und vorzügliche Schauspielerleistungen".

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