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Rundreise im Niemandsland

von Hartmut Krug

Berlin, 3. und 5. November 2011. Streitbar, zerrissen, radikal, verletzlich und selbstzerstörerisch: das sind so Feuilleton- Klischees, mit denen der Autor Thomas Brasch zu seinem 10. Todestag aus der Vergessenheit geholt wird. Als Übersetzer, von Shakespeare, von Tschechow, ist er auf den Bühnen präsent, doch seine eigenen Stücke, deren Kraftquell stets, selbst wenn es um Georg Heym ging, die Auseinandersetzung mit der DDR und der Widerstand gegen falsche Autoritäten waren, haben sich auf den Bühnen nicht behaupten können.

Zum "runden" Todestag werfen seine Weggefährten nun Erinnerungen an den Dichter Brasch auf den Markt: Christoph Rüter den Dokumentarfilm "Brasch – Das Wünschen und das Fürchten", Klaus Pohl seinen Brasch-Roman "Die Kinder der preußischen Wüste" und das Berliner Ensemble, neben dem Brasch am Schiffbauerdamm 5 gewohnt hat und mit dem er eine komplizierte (Arbeits-)Beziehung besaß, ein Brasch-Erinnerungswochenende mit Filmen, einer Ausstellung, Reden über Brasch und zwei szenischen Abenden.

Manfred Karges bedeutsamkeitsheftige Brasch-Collage

Auf der Probebühne hat Manfred Karge mit drei Schauspielstudenten eine szenische Collage unter dem Titel von Braschs direkt vor seiner Übersiedlung in den Westen im Rotbuch Verlag erschienenen Erzählband "Vor den Vätern sterben die Söhne" eingerichtet. Der Versuch, halbwegs chronologisch Biographie und Werk des Autors vorzustellen, wirkt zuweilen wie ein weihevoll tremolierendes Kulturprogramm und verschränkt biographisches und politisches mit dem literarischen Werk.

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"Vor den Vätern sterben die Söhne"
© Matthias Horn

Manfred Karge sitzt am Dozententisch und liest und erklärt großväterlich einige Texte, während auf der Rückwand hinter dem Bühnenpodest Dokumente und Szenenfotos von Brasch-Uraufführungen die Texte kommentieren. Eine Schauspielstudentin und zwei Schauspielstudenten tragen wie im Zeugenstand auf hohen Stühlen vor einem Geländer unterschiedlichste Texte vor.

Mal chorisch, mal singend, mal rauchend, aber immer mit Bedeutsamkeitsheftigkeit – nicht aus dem titelgebenden Buch, sondern aus der Montage "Papiertiger" ("Ich kann nicht aus meiner Haut. … Kein Volk kann aus seiner Haut, wenn ihm vor der Macht graut"), aus dem Bauernkriegstext "Hahnenkopf 1525", der Bestarbeiterparodie "Kasimir und Margarete", aus dem von Karge und Matthias Langhoff 1980 in Bochum uraufgeführten parabelhaften Georg-Heym-Stück "Lieber Georg" und aus "Kassandra". Bedrückend das erste Dia auf der Rückwand, das den etwa zwölfjährigen Thomas in Uniform zeigt, während Karge aus einem Brief des Vaters Horst Brasch vorliest, der später, nach den Flugblatt-Protesten seines Sohnes gegen den Einmarsch in die CSSR, als stellvertretender DDR-Kulturminister zurücktreten musste, obwohl er seinen Sohn mit einer Anzeige selbst ins Gefängnis brachte.

Der Abend besitzt etwas ältlich Kraftmeierisches und wirkt zugleich merkwürdig besinnlich. Er verlebendigt den Autor Thomas Brasch weniger als dass er ihn zu verwichtigen sucht. Was haften bleibt, sind aufbegehrende Sprüche und die Frage nach Gehen oder Bleiben, ist ein Setzen von Aufgeregtheit gegen Sattheit, ist der Versuch, auf ein eigenes Leben im falschen zu beharren, besser, gegen ein falsches aufzubegehren. All das empfindet man als ungemein ehrlich, doch erscheint es, eingebettet in einen starken Gestaltungswillen von Autor und Inszenierung, auch wie eine Pose. Der Abend: ein Dokument der Kulturerinnerung.

Philip Tiedemann zeigt "Mercedes" zeit und ortlos

Das Drei-Personen-Stück "Mercedes",  1973 von Matthias Langhoff in Zürich mit Christoph Waltz und Katharina Thalbach uraufgeführt und am BE zuletzt 1996 von Schauspielschülern auf der Probebühne gezeigt, hat Regisseur Philip Tiedemann entgegen der Aufführungstradition mit älteren Darstellern inszeniert. Im Stück treffen ein Mann und eine Frau irgendwo im gesellschaftlichen Niemandsland und dramatischen Bedeutungsland aufeinander. Brasch hat sein Stück in Notizen und mit Zwischentiteln, in denen das Stück zu einer Versuchsanordnung erklärt wird – getreu seinem Satz "Mir geht es um das Finden einer neuen Ästhetik mittels des Vergessens von dem, was man kann" –, auftrumpfend und vergeblich zwischen Beckett, Shakespeare, Surrealismus und einem Spiel mit theatralischer Zeitlosigkeit anzusiedeln gesucht.

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"Mercedes". © Marcus Lieberenz

Tiedemanns Inszenierung betont die Zeit- und Ortlosigkeit des Stückes und macht es damit zu einem harmlosen Konversationsstück. In vier hintereinander verschachtelten Raumfenstern rennen die Figuren nicht um ihr Leben, sondern parlieren nebulös über es. Wo Michael Thalheimer am Theater der Jungen Generation Leipzig noch 1998 den Zusammenprall von zwei Jugendlichen einer Informations- und Mediengesellschaft zeigte, die keine Zukunft für sich sehen, geht Tiedemann rein formal an das Stück heran.

An Beckett gechult

Ob das, was besprochen wird, wirklich passiert, bleibt offen. So wie offen bleibt, ob Sakko (Dieter Montag spielt ihn mit seiner mauligen Verstocktheit wunderbar gelassen) arbeitslos ist, ob er den Mercedes, der für Luxus und Bewegung steht, wirklich überführt, und ob Oi (Swetlana Schönfeld gibt den temperamentvollen Widerpart) wirklich eine Hure ist. Es macht eine Zeitlang Vergnügen, den beiden souveränen Schauspielern bei ihrem Handwerk zuzuschauen. Die dritte Figur, bei Brasch ohnehin fast wortlos, wird nicht gezeigt, sondern nur angespielt – so wie ihre Kreuzigung oder Annagelung, die vergeblich die existentielle Radikalität des Stückes behaupten soll.

Warum die beiden elegant gekleideten Herrschaften im besten Alter hier auf der Straße mit sich und dem anderen ihre Probleme haben, warum sie ungelenke Hasch-Mich-Spiele treiben und philosophische Überlegungen vortragen, warum sie becketthaft immer wieder von vorn beginnen und warum sie in so merkwürdig albern kürzelhaften Sätzen reden (Unterschicht!?), all das macht die Inszenierung weder klar noch plausibel. Immerhin sind die langen Monologe, in denen bei Brasch nicht die Figuren, sondern aparterweise ihre Darsteller über allerlei arg grundsätzlich vor sich hin denken (eine Uraufführungskritik sprach von der "Wiedergeburt des Existentialismus aus dem Geist der Klamotte"), entweder gekürzt oder gnädig gestrichen. Es ist ein ehrgeiziges, aber nicht gelungenes Stück. In einer kleinmütigen, belanglos unterhaltsamen Inszenierung.

Wir haben den Dramatiker Thomas Brasch nicht vermisst, und die beiden Abende im BE machen deutlich, warum. Fazit: Wiederbelebung missglückt. Was bleibt, ist der sprachkräftige Übersetzer von Tschechow und Shakespeare.


Vor den Vätern sterben die Söhne
Eine Erinnerung. Papiertiger, Lieber Georg und andere
von Thomas Brasch
Leitung: Manfred Karge, Musik: Toni Edelmann, Alfons Nowacki
Mit: Johanna Griebel, Patrick Bartsch, Manfred Karge, Andy Klinger.

Mercedes
von Thomas Brasch
Leitung: Philipp Tiedemann, Bühne und Kostüme: Norbert Bellen, Musik: Ole Schmidt, Dramaturgie: Hermann Wündrich
Mit: Swetlana Schönfeld, Dieter Montag.

www.berliner-ensemble.de


Kritikenrundschau

Kein Satz des Erzählbandes "Vor den Vätern sterben die Söhne" sei in Karges szenischer Collage mehr "im Originalzustand zu hören", so Volker Trauth im Deutschlandradio Kultur (Fazit, 3.11.2011). Verbindendes Element zwischen Braschs Erfolgsbuch und den collagierten Texten des ersten Teils sei vielmehr "die Grundsituation, der unaufhebbare Widerspruch zwischen der Generation der Väter und der der Söhne". "Ohne auffälligen Übergang" folge im zweiten Teil eine verknappte Fassung von Braschs "Mein lieber Goerg", wobei Karge, der auch die Uraufführung herausbrache, "keine neue eigenständige Inszenierung, keinen anderen interpretatorischen Ansatz" versuche. In dieser "minimalistischen Inszenierung" hätten die Schauspielstudenten "nur wenig Fleisch, um ihr Talent zeigen zu können" – es seien allerdings "deutliche Begabungsunterschiede zu erkennen". Trauth lobt besonders Patrick Bartsch dafur, dass er "aussagefähige Figurenumrisse anzudeuten" versteht.

Für die Berliner Zeitung (5./6.11.2011) hat Doris Meierhenrich den Karge-Abend "Vor den Vätern sterben die Söhne" besucht: Einen starken, aktuellen Auftakt hat sie mit "Papiertiger" erlebt: "Die Welt ist eine völlig andere seitdem, und dennoch bleiben die Worte in ihrem Aufdersuchesein, ihrem Anrennen gegen Oberflächen so aktuell wie je." Der rhythmisierte Vortragsstil der Schauspieler "macht die Sätze nur noch wacher"; sie "summen, stottern, schleudern sie heraus, wie Jockeys die Gertenhiebe, doch werfen sie sich die Worte dann wieder so locker zu, wie Bandmusiker einander die improvisierten Klänge." Anschließend aber verliere der Abend an Kontur und Intensität und mit "der Lesung des Stückes 'Lieber Georg'", das Regisseur Manfred Karge 1980 selbst zur Uraufführung brachte, "verrutscht der Brasch-Abend in eine Karge-Gedenkstunde".

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