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Unter Lacoste-Kunstbürgern

von Guido Rademachers

Düsseldorf, 6. November 2011. Gerhart Hauptmanns still verplätschernder "Einsame Menschen"-Schluss, in dem Vockerat auf den Müggelsee rudert, um dort Selbstmord zu begehen, wird im Düsseldorfer Schauspielhaus ganz aufs Trockene gelegt. Drei Akte lang konnten Dr. Vockerat und Fräulein Anna bei akuter Notlage den Überschwang ihrer Gefühle in einem Wasserbecken ausplanschen. Wenige Meter hinter der Rampe beginnend fällt es sanft ab und füllt die Bühne fast völlig aus. Dann, nach der Pause, ist das Bassin leer. Am Ende stehen alle davor, aufgereiht wie zum Familienfoto. Vockerat kippt einfach um – und niemand merkt's.

Insbesondere Tina Engel als Mama Vockerat findet, wenn sie über den daliegenden Sohn schreitet, zu alter Ignoranten-Höchstform zurück. Gleich zu Beginn des dreistündigen Abends trampelt sie mit einem gelangweilt gedehnten "Ach nee!" in Mayonnaise, lässt beiläufig die Mokassins vom auf den Knien nachrutschenden Personal säubern, um es nach getaner Arbeit mit abfälliger Handbewegung wegzuwedeln. Dass solch saturiertes Großbürgertum einmal selbst auf die Knie fallen könnte, ist im Normalfall erst nach Derricks drittem Hausbesuch denkbar. Hier ist es Anna Mahr, gespielt von Bettina Kerl, die die glänzende Familienfassade zum Einsturz bringt.

Nervenbündel mit Jungencharme

Kerl ist mit ihrer flotten 60er Jahre-Karojacke und der rostbraunen Caprihosen-Jeans ein echter Hingucker im Vockeratschen Weiß-Creme-Beige-Farbschema. Ansonsten reicht ihr ein ungeschminkt sanftes Pauschal-Lächeln, an dessen Leerstelle sich alle so lange abarbeiten, bis auch der letzte noch schwelende Konflikt in Gänze eskaliert ist.

Vor allem Johannes Vockerat bietet mit seinem beruflichen Scheitern, verquasten Lebensanschauungen, der Abhängigkeit von den Eltern und seiner kaputten Ehe glänzende Ansatzpunkte. Ingo Tomi zeigt ihn als zunehmend durchdrehendes Nervenbündel. Seine Hände verkrampfen sich hinter dem Rücken oder reiben die Schulter. Die Augenlider zucken, der Kopf schießt jäh hin und her. Hinter solch grobschlächtigen Veräußerlichungen lässt Tomi immer wieder den Charme eines Jungen aufscheinen, ironisiert sich selbst, trägt bewusst etwas zu dick auf. Hinter dem Getöse stecken die Unsicherheit und das Wissen darum.

Die Theatermaschine läuft

Xenia Noetzelmann hat als Ehefrau Käthe schwer am Marionettenkreuz ihrer Sohn-Puppe zu tragen, steht blass neben ihrem Mann und – nach einem Pausenbesuch in der Maske – noch blasser neben sich. Nachdem auch sie verstärkt an Zuckungen und Gleichgewichtsstörungen zu leiden hat, starrt sie immer mehr Löcher in die Luft. Christoph Schechingers Braun glaubt zwar nicht mehr an Gott, aber zum resignierenden Augenaufschlag zum Himmel reicht es noch. Als Freund der Familie rappelt er sich noch zu ein paar halbherzigen Kurzinterventionen hin und schüttelt einmal kräftig Fräulein Anna durch. Dann drückt er sich kopfschüttelnd beiseite.

© Sebastian Hoppe
"Einsame Menschen" im Nirgendwo. © Sebastian Hoppe

 

Nora Schlocker setzt bei ihrer Einstandsinszenierung als Düsseldorfer Hausregisseurin ganz auf die Schauspieler und baut ihnen Arrangements aus dem Regielehrbuch. Die Theatermaschine läuft wie geschmiert. Auf einem Steg, der bis an das Wasserbecken reicht, macht ein Jazz-Trio gepflegt Stimmung. Auch der Zuschauerraum wird genutzt. Was die Schauspieler dort wirklich zu suchen haben, bleibt aber fraglich.

Züge auf dem Regieschachbrett

Schlocker zeigt ein aller materieller Sorgen enthobenes Lacoste-Kunstbürgertum. Die Familienstruktur um 1890 als psychologisches Grundmuster wird ins zeitliche Nirgendwo transformiert. Die Züge auf dem Regieschachbrett gelingen perfekt. Aber losgelöst vom alten Milieu Hauptmanns und von einer heutigen Gesellschaft, in der eben diese Familienstruktur schon lange obsolet ist, bleiben nur noch Erkenntnisse übrig wie: Jeder möchte sich frei entfalten und alle wollen geliebt werden.

"Wie sehr dürfen wir die Realität ausblenden?" Das ist die Frage, die laut Nora Schlockers Programmheftbeitrag das Stück stellt. Man muss die Frage an das Düsseldorfer Schauspielhaus weitergeben.

 

Einsame Menschen
von Gerhart Hauptmann
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Marie Roth, Musik: Paul Lemp, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Hans Diehl, Tina Engel, Ingo Tomi, Xenia Noetzelmann, Christoph Schechinger, Bettina Kerl, Anna Kubin, Friederike Bellstedt, Eric Harings, Andreas Hirschmann, Gregor Kerkmann.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Zuletzt sah man die "Einsamen Menschen" auch an der Schaubühne Berlin (Regie: Friederike Heller) und am Staatsschauspiel Dresden (Regie: Julia Hölscher).

 

Kritikenrundschau

"Schlicht und präzise" sei Nora Schlockers Hauptmann-Inszenierung, schreibt Dorothee Krings in der Rheinischen Post online (8.11.2011). Man werde allerdings auch in dieser Inszenierung den Eindruck nicht los, dass dieses Stück im 19. Jahrhundert verhaftet sei. Gestrig wirke auch die Langatmigkeit des Dramas, der Schlocker nicht zu Leibe gerückt sei. Dass man der Geschichte trotzdem folgen möge, liege an den Schauspielern - die Krings alle einzeln lobt. Besonders gut gefallen hat ihr Tina Engels Darstellung der alten Frau Vockerat: "Wie sie am Ende in Selbstmitleid zerfließt, als ihre schöne Familienwelt zerbricht, das ist ein Höhepunkt dieser Inszenierung."

Mit Hauptmanns "Einsame Menschen" treffe Nora Schlocker den Nerv nicht ganz, findet Marion Troja in der Westdeutschen Zeitung (9.11.2011). Der Abend besteche vor der Pause durch Schauspieler wie Ingo Tomi und Tina Engel. "Doch trotz Freizeitkleidung mit Krokodil auf der Brust wirken die Menschen wie aus einem vorigen Jahrhundert." Dass Schlocker dennoch ein Gewinn ist, zeige ihre Weimarer-Inszenierung von Sartres "Die schmutzigen Hände", die beim Willkommens-Festival in Düsseldorf zu sehen war. "In beeindruckend klarer Regie-Sprache führt sie politische Positionen vor und zwingt Zuschauer, Stellung zu beziehen. Mehr davon, Frau Schlocker."

In der Frankfurter Rundschau (9.11.2011), wie zuvor schon auf der Webseite des Deutschlandradios (6.11.2011), schreibt Stefan Keim: Offenbar sei es das Credo des Intendanten, den Blick, ganz bewusst, auf die Schauspieler zu lenken. So geschehe es auch in Schlockers Inszenierung von "Einsame Menschen". Aus dem Goldkäfig des Holmschen "Hamlet" sei ein Wasserloch geworden, in das die Schauspieler nur über Stege von den Bühnenseiten gelangen könnten. Der Philosoph Johannes Vockerat befinde sich "im Denk- und Lebensstau". Ingo Tomi spiele ihn mit der Lebenshaltung eines "Dauerpubertierenden", als "stammelnden, egomanen Wuschelkopf". Schlocker inszeniere das Stück "ohne moralische Botschaft". Sie wolle zeigen, Hauptmanns Konflikte sind auch die unseren. Was so schnell gelinge, dass es zum Problem werde, denn was passiert, ist jederzeit vorhersehbar. Hauptmanns Text wirke "verquasselt", er brauche "Straffungen und Zuspitzungen". Obwohl vor allem Tina Engel als Mutter Vockerat und Xenia Noetzelmann als Ehefrau Käthe "große Kraft" entwickelten, ziehe sich der dreistündige Abend.

Noch genereller wird Vasco Boehnisch in der Süddeutschen Zeitung (26.11.2011) nach den ersten Wochen der Intendanz Staffan Valdemar Holms, der "publikumspassgenau ordentliches, zeitlos - statt zeitgenössisch - schönes Schauspiel" präsentiere. "Eine Art solide Moderne, wie sie die berühmte geschwungene Hausfassade von Bernhard Pfau symbolisiert: Theater ohne Ecken und Kanten." Schlocker mache aus dem Ehedrama "einen starken Mutter-Söhnchen-Konflikt: Dort verlaufen die ideologischen Gräben, weil die unbedarfte Käthe ihrem abtrünnigen Mann eh kein Kontra geben kann." Schlocker zeichne "im leeren Raum ein undefiniert formschönes Gesellschafts-Stillleben, das sich, untermalt von Live-Jazz, ohne rechte Anknüpfung ans Heute ausbreitet, das aber - auch schauspielerisch bis in die kleinste Rolle - als erstaunlich genau gearbeitete Lebenslektion beeindruckt."

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