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Verhängnisvolle Ohnmacht

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 11. November 2011. "Schlaf!", befehlen sich Lisa Lucassen und Sebastian Bark gegenseitig im selben Moment – und bringen die "Hypnose-Show" so zu ihrem einzig möglichen Ende. Begonnen hat sie etwa eine Stunde vorher mit einer spielerischen Beschwörung der Trance als Zaubertrick zur Annäherung an Kleists "Marquise von O.", die Hauptfigur der gleichnamigen Erzählung.

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Lisa L. von She She P. als Marquise von O.
frei nach Heinrich von K.
© Bettina Stöß

"Ich werde dich jetzt hypnotisieren", sagt Lisa Lucassen also zu Sebastian Bark und verspricht: "Es wird im Laufe dieses Abend nichts passieren, was du nicht willst, denn dein Unterbewusstsein wird das nicht zulassen." Mit dem aktiven Unterbewusstsein vereinbar ist, wie dann vorgeführt wird, das mehr oder weniger leidenschaftliche Aufgehen in der Rolle der Marquise von O. Auf Lucassens Befehl spielt Bark die verhängnisvolle Ohnmacht der Marquise.

Die Passivität der Totaltrance

Um plötzlich aufzustehen und seinerseits zum Hypnositeur zu werden. Da hätten wir dann also gleich zwei ziemlich aktive und ziemlich kontrollfreakige Unterbewusst-Seiende. Die sich gegenseitig jederzeit mit dem Befehl "Schlaf" in die Passivität der Totaltrance versetzen können; mit dem Befehl "Eins, zwei, drei" wieder in die Teil-Trance, das heißt: Handlungsfähigkeit, "aufwecken" können. Auf der sparsamen Bühne, die aus zwei Podesten besteht, unter denen verschiedene Requisiten verstaut sind, hat der jeweilige Hypnositeur die Macht über den Lichtschalter, mit dem je nach Bedarf sehr unterschiedliche Lichtsituationen geknipst werden können. So machen sich die beiden nun, wie prähypnotisch angekündigt, daran, sich mit Kleist zu beschäftigen.

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  Was fängt man mit dieser Marquise an?                                                              © Bettina Stöß

Eine verwitwete Frau, die Marquise von O., merkt, dass sie schwanger ist, und weiß nicht, von wem. Nachdem sie von ihrer Familie vor die Tür gesetzt worden ist, setzt sie eine Anzeige in die "Intelligenzblätter von M.", in der sie den Schuldigen auffordert, sich bei ihr zu melden und ihm ihre Hand anbietet. Dass es sich bei dem Schuldigen um den russischen Grafen F. handeln könnte, der ihr bei einem Angriff auf das Gut ihres Vaters auf galanteste Weise das Leben gerettet hat, woraufhin sie in Ohnmacht gefallen ist... – diesen Gedanken darf die Marquise sich bei Kleist höchstens zwischen den Zeilen erlauben. Zum Happy End – nach einigen Irrungen und Wirrungen und der impliziten Klärung der Schuldfrage kriegen sich die beiden und führen eine glückliche Ehe, in der sie "viele kleine Russen" produzieren – wird der Abgrund blickdicht gemacht.

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"Der Graf hatte das Knie vor ihr gesenkt.."
© Bettina Stöß

Scheitern als Chance?

Was fängt man mit dieser Marquise von O. an? "Möchtest du auch gerne so stark und selbständig durchs Leben gehen wie die Marquise? Und möchtest du auch gerne einen so anständigen, gutaussehenden Ehemann haben, der auch noch viel Geld hat, Lisa?", fragt Sebastian Bark seine hypnotisierte Mitspielerin. Die nickt. "Und wärst du damit einverstanden, dass dich dieser Ehemann vergewaltigt, bevor ihr heiratet?" Tja.

Derart sperrig erweist sich nicht nur die Marquise als Identifikationsfigur, sondern auch Kleists Vorstellung von den Körperhaltungen, die seine Protagonisten in entscheidenden Momenten einnehmen. An Vorgaben wie "Der Graf hatte ein Knie vor ihr gesenkt; die rechte Hand lag auf seinem Herzen, das Haupt sanft auf seine Brust gebeugt, lag er, und blickte hochglühend vor sich nieder" scheitern Lucassen und Bark mit Verve.

Überwiegend sind dann aber die Momente, in denen der Verdacht, hier werde lediglich dekonstruiert, aufs schönste widerlegt wird. Zum Beispiel, wenn Bark Lucassen dazu anhält, sich jetzt mal bitte ohne jegliche Ironie von ganzem Herzen bei ihm zu bedanken, für irgendwas. Da scheint die Vermessenheit des Grafen durch, der unbedingt auf seine Art der Bezahlung seiner Schuld besteht und von Kleist durchgewinkt wird. Auch die Vermessenheit der Marquise, die arg viel auf ihre "reine Seele" hält.

Mach einfach das Licht aus

Überhaupt eignet sich das Hypnose-Machtspiel gut für die Verlebendigung der "Ich mach das allein"-Radikalität, in die sich so viele Kleistsche Figuren verhängnisvoll hineinschrauben. Passt einem der beiden Performer nicht, was der andere gerade aus der Situation macht, dann kann der genau wie das Licht einfach ausgeknipst werden.

Um das Spiel zu beenden, müssen sie sich allerdings, siehe oben, zusammentun. Und so führen She She Pop hier nicht nur nach "Testament" und "Sieben Schwestern" ihr Abarbeiten an kanonischen Texten mit anderen Mitteln und sehr sehenswert fort, sondern formulieren auch eins ihrer Arbeitsprinzipien noch einmal neu, und zwar so: Erlösung beruht auf Gegenseitigkeit.

 

She She P. ist die Marquise von O.
Szenischer Selbstversuch frei nach Kleists "Die Marquise von O...."
von und mit Lisa Lucassen, Sebastian Bark / She She Pop, Bühne und Kostüme: Sandra Fox, Dramaturgische Mitarbeit: Ilia Papatheodorou / She She Pop, Sabine Salzmann, Licht: Gregor Roth, Ton: Andrej Koch.

www.gorki.de

 

Mehr Kleist? Vom Kleistfestival des Maxim Gorki Theaters wurden folgende Inszenierungen besprochen: Das Käthchen von Heilbronn, Amphitryon, Das Erdbeben in Chili, Die Hermannsschlacht, Der Krieg und Penthesilea.


Kritikenrundschau

Sebastian Bark nennt es "einfach eine Liebesgeschichte" - und habe damit, wie so häufig in den siebzig Minuten, nicht recht, schreibt Volker Corsten in der FAZ Sonntagszeitung (13.11.2011). "Das liegt schon an der Grundkonstellation, die so ungünstig ist für die She-She-Pop-Methode, die eigene Biographie auf ein Drama, Thema oder auch nur einen Kastanienallee-Bewohner in Berlin prallen zu lassen". Denn Kleists Novelle, die sich um eine Frau dreht, die im Krieg vergewaltigt und schwanger wird, das verdrängt, per Zeitungsannonce den Vater sucht und den reuigen Täter nach allerlei Ärger tatsächlich heiratet, sehr heterosexuell. Und zudem: dramatisch, schwierig, gewalttätig. "All das ist die Beziehung von Lisa und Sebastian offensichtlich (zum Glück?) nicht. Das ändert sich auch nicht, nur weil die beiden sich ständig gegenseitig in Trance versetzen und ihr Unterbewusstsein zu Kleist und sich befragen."

Im Rahmen eines Zwischenberichts zum Kleistfestival am Maxim Gorki Theater streift Doris Meierhenrich für die Berliner Zeitung (14.11.2011) She She Pops "spielerisch-ironischen Versuch der Selbst- und Welterforschung": Die zwei Akteure nutzten die Novelle, um eine "kleine Hypnose-Show zu veranstalten. In schnellen Rollenwechseln zwischen Manipulator und Schläfer, in denen sie ihre Wünsche zum Prüfstein gegenseitiger Fremdbestimmung oder Verantwortung machen, spielen sie verqueres Gedanken-Ping Pong. Ein bisschen bekannt mit sich selbst werden sie trotzdem."

In ihrem Bericht zum Kleistfestival am Maxim Gorki Theater schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (22.11.2011): "Lisa Lucassen und Sebastian Bark arbeiten sich an all den Ohnmachten, all den Absenzen des Bewusstseins ab, die den Novellentext auszeichnen, indem sie sich gegenseitig immer wieder in Trance versetzen und dann aus dem Stück lesen lassen." Dieser Vorgehensweise "hat natürlich auch etwas Albernes, was sich gegen den Text stemmt, gegen das Erschrecken und die Ergriffenheit, die er den Lesern abverlangt." Allerdings bescheinigt die Kritikerin dem Abend ein wachsendes "reflexives Potenzial" und wachsende Durchlässigkeit für den Stoff: Mit "Langzeitwirkung arbeitet sich die Novelle durch das sie umstellende Geplänkel".

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