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Der stille Tod des Rechts

von Christoph Fellmann

Luzern, 11. November 2011. Als das Ende dann da ist, wird Ill und mit ihm der Rechtsstaat zwischen Zypressen begraben, mit Blick aufs Mittelmeer. Ist es das Glück der Tagesaktualität oder das Geschick des Regisseurs, das dazu führt, dass der Schluss eines 56 Jahre alten, schon vor langer Zeit zu Tode gespielten Stücks einen hier und heute anspringt wie der grimmige Gesichtsausdruck des Nachrichtensprechers, der gerade den Zusammenbruch der Eurozone moderiert? Es ist das Geschick des Regisseurs, eindeutig.

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Die alte Dame ist ganz jung: Agnieszka Podsiadlik (rechts).   
© Tanja Dorendorf

Denn was Wojtek Klemm am Luzerner Theater mit dem "Besuch der alten Dame" anstellt, ist beeindruckend und auch ein wenig unheimlich. Er erzählt seinen Dürrenmatt recht linear als das, was er ist, nämlich als Parabel auf die Krisenanfälligkeit des Rechts. Und gleichzeitig führt diese Parabel, ohne allzu fest drauf zu drücken, durch die ökonomischen und moralischen Blasen der schweizerischen und europäischen Gegenwart. Wohl dosiert, klug und immer wieder hoch komisch.

Jung, hübsch, polnisch

Güllen, das ist auch bei Klemm immer noch die Schweiz. Die Güllener leben auf einer Stehrampe, nur über eine rutschige Rampe verbunden mit dem Stadion, wo sich vermutlich die Weltgeschichte abspielt. Längst ohne diese peripheren Menschen natürlich, die das Leben nur aus dem Unterschichtsfernsehen kennen, das ihnen aufs Haar gleicht. Der Zug jedenfalls hält an dieser Rampe nur noch, wenn einer die Notbremse zieht.

Und das ist hier eine Claire Zachanassian (Agnieszka Podsiadlik), die weder alt ist noch moribund, sondern jung, hübsch und polnisch. Sie ist hier aufgewachsen, hat ihre zweite Schweizer Identität aber abgespalten und als Übersetzerin (Daniela Britt) angestellt. Ohne dass Klemm auch nur ein Wort darüber verlieren muss, erzählt er mit seiner Hauptfigur auch etwas über die Fremdenfeindlichkeit der Güllener (aka Schweizer), die sich ihre Kartoffeln gerne von Saisonniers aus dem europäischen Osten ausgraben und waschen lassen, bevor sie sie zu Rösti verarbeiten.

Rechtsstaat und Folklore

Nicht lange geht es, und die sprachbegabten Güllener nehmen Aufträge sogar auf Polnisch entgegen: Eine Milliarde erhalten sie aus dem Vermögen der Zachanassian, bringen sie Ill um, der die junge Frau damals, als sie noch Landarbeiterin war, geschwängert, verraten und verlassen hatte. Und so kommt die Postmoderne endlich auch nach Güllen. Es beginnt ein schwungvoller, fast möchte man sagen: Derivathandel mit einer Milliarde, die man gar nicht besitzt – mit einem Toten als Bankgarantie, der noch lebt.

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  Sag ja zur Stiftung, sag ja zum Mord!                                                      ©  Tanja Dorendorf

Und gleichzeitig inszeniert sich das Güllener Volk in folkloristischer Aufmachung als Hort der Rechtsstaatlichkeit, so beflissen, dass der Rechtsstaat von der Folklore bald gar nicht mehr zu unterscheiden ist. Beides zieht man sich wie eine Maske über, wenn Besuch da ist, um sich vis-à-vis des Fremden seiner selbst zu vergewissern. Klemm ridikülisiert hier sehr treffsicher die so genannte Swissness, jene penetrante Mode, in der sich die Schweizer derzeit auf ihren Dialekt, ihre Bräuche und ihr Berglertum besinnen.

Dass dahinter nicht nur, aber auch politische Rhetorik steckt, zeigt Klemm in der zum Brüllen komischen Szene, in der Güllen seine Zachanassian mit einem Apéritif herzlich willkommen heisst. Die Rede des Bürgermeisters in der tannigen Tracht des wüsten Silvesterchlauses (einer Figur aus dem Appenzeller Brauchtum) ist ein Höhepunkt des Abends; auch dank Jörg Dathe, der den Dorfvorsteher als aschgraue, aber auch wahnsinnig lustige Kippfigur zwischen biederstem Bummelwitz und einer Demagogie gibt, die nicht einmal merkt, dass sie Demagogie ist. Als die Zachanassian bald darauf ihr Gewinnversprechen abgibt, verbunden mit dem Aufruf zum Mord, sagt wie bei Dürrenmatt auch bei Klemm keiner auch nur ein Wort.

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Tot im Pappkarton            © Tanja Dorendorf

Fremd gewordene Sprache

Nur, dass die "Totenstille", die der Autor verlangt, hier überbimmelt wird durch die Schellen, welche die Güllener an ihren urchigen Tannenkostümen tragen, in denen sie sich jetzt davonschleichen. Es sind Unheimliche, mitten in ihrer Heimat.

Man wird dieses Bimmeln nicht mehr los in diesem erstaunlichen Dürrenmatt-Update. Auch zum Ende rollen nochmals zwei dieser Kuhschellen über die Bühne, um den stillen Tod des Rechts zu übertönen. Da ist den Güllenern ihre eigene Sprache längst so fremd geworden wie das Polnische. Sie sagen Ja zur "Claire-Zachanassian-Stiftung" und meinen Ja zum Mord. Genau so, wie es bei ihnen zu Hause der Brauch ist, Nein zu "Minaretten" zu sagen, wenn sie eigentlich Muslime meinen.

 

Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Wojtek Klemm, Choreografie: Efrat Stempler, Bühne: Magdalena Gut, Kostüme: Julia Komacka, Musik: Martin Baumgartner, Licht: Gérard Cleven, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.
Mit: Christian Baus, Daniela Britt, Jörg Dathe, Mario Fuchs, Wiebke Kayser, Agnieszka Podsiadlik, Bettina Riebesel, Jürg Wisbach.

www.luzernertheater.ch


Weitere Updates von Schweizer Nachkriegsdramatik in Luzern? Im März 2011 hatten sich dort Hannes Rudolph und Gisela Widmer mit Biedermanns. Umgezogen Max Frisch vorgenommen.

 

Kritikenrundschau

Wojtek Klemm arbeite "mit starken körpersprachlichen Bildern, mit einer körperorientierten Symbolik, die einerseits ausgesprochen erheiternd ist, anderseits die boshafte Logik von Dürrenmatts Komödie mit aller gewünschten Drastik herausstreicht", schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (14.11.2011). Die Inszenierung habe "darin auch etwas Lehrstückhaftes, ist aber in keinem Moment didaktisch, sondern unterhaltsam, spannungsvoll, dicht – da immer sprechend auf mehreren Ebenen zugleich." Immer wieder stoppe Klemm "die in alle Himmelsrichtungen abhebende Komik – und sie ist wirklich komisch, weil stets stringent, niemals Selbstzweck – und konterkariert sie mit authentischen Momenten des Schreckens. Dürrenmatts Pointen sind böse, Wojtek Klemms Blick darauf steht ihnen in nichts nach."

Wojtek Klemm zeige in Luzern "einen atemberaubend frischen und jungen 'Besuch'", schreibt Urs Bugmann in der Zentralschweiz am Sonntag (13.11.2011). Klemm gebe dem Stück "die Erfahrung der Fremdheit mit, den Schrecken über die eigenen inneren Abgründe." Der Luzerner Musiker Martin Baumgartner mische "mit Laptop und Kinderklavier, Mikrofonen, Maultrommel und Geigenbogen, der über den Rand eines Kartons streicht, eine Tonspur dazu, die bis ins metaphysische Frösteln" reiche. Die "packende Inszenierung", in der "eine wahrhaft Dürrenmatt'sche, bitterböse und entlarvende Komik" walte, zeige "was Theater kann, wenn Text und Stück in die Körper kommen, Bewegungen und Gesten umgekehrt Sprache werden. Deshalb verliert diese 'Alte Dame' trotz radikaler Striche und Reduktion der Figuren rein gar nichts."

Es sei der "Besuch einer neuen Dame", der da in Luzern zu erleben sei, meint Romano Cuonz auf dem Radiosender DRS (12.11.2011). Das "polnische Kreativteam" komme "nicht aus der weiten Welt nach 'Güllen', sondern aus dem Vereinigten Europa in die Tourismusstadt Luzern", und so werde "die alte Dame jung und aktuell". Mit der Annäherung von außen werde "Kritik an der Schweiz, wie sie Dürrenmatt zu seiner Zeit ausgeübt hatte, zeitgemäß umgesetzt. Sie wird zur Frage, welche ein europäisches Land (…) an uns stellen könnte: Ist eine direkte Demokratie wirklich noch immer richtig und zeitgemäß? Was gewiss ist: Eine solche künstlerisch internationale Vernetzung ist fürs Sprechtheater in der Tourismusstadt Luzern ein möglicher Weg in die Zukunft."

Kommentare  
Besuch der alten Dame, Luzern: großartiger Abend!
Ein grossartiger Abend!
Besuch der alten Dame, Luzern: super Leistung
Super Leistung der SchauspielerInnen! Spannende Inszenierung, gut in die Moderne übertragene bzw. integrierte Thematik des über 50 Jahre alten Stoffs. Die Scheinmoral der Gesellschaft hätte noch eine Spur kräftiger dargestellt werden können. Trotzdem: eine sehenswerte Aufführung.
Der Besuch der alten Dame, Luzern: Ausländerfeindlichkeit
Duplizität der Ereignisse: Auf dem Nachhauseweg von der Schweiz nach Deutschland habe ich über die Inszinierung im DRS gehört. Einen Tag davor erzählten mir, unabhänging voneinander, zwei Frauen, die seit 40 Jahren in der Schweiz leben, Schweizerpassebesitzerinnen sind, von der Ausländerfeindlichkeit der Schweizer. Haarsträubende Geschichten waren das!
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