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Caveman wohnt hier nicht mehr

von Esther Slevogt

Berlin, 13. November 2011. Die Bühne ist wüst und leer, wie man sich die Welt denken könnte, kurz nachdem im Zuge der Schöpfung das erste Chaos geordnet ist. Es folgt ein düsterer Ton, und mit ihm setzt sich die Drehbühne in Bewegung und damit auch sieben Schächte im Bühnenboden. Von oben senkt sich kurz darauf ein langes, gelbes Eisenrohr herab (fast wie ein göttlicher Blitz), taucht tief in einen der Schächte ein und zieht schließlich ein an ihm ängstlich klammerndes Menschlein aus der Bühnentiefe hervor.

Die Evolution: von Primat zu Primat

Mit ziemlich großer Geste also setzt Dimiter Gotscheff die Bühne selbst als Welt- und Resonanzraum des göttlichen (Dichter-)Willens in Szene, holt weit aus, fängt sozusagen bei Adam und Eva an, das Thema des Textes zu etablieren, um den es hier gehen wird: Heiner Müllers dramatisches Triptychon "Verkommenes Ufer / Medeamaterial / Landschaft mit Argonauten", einen gerade zwölf Seiten langen Text über den fatalen Antagonismus von Natur und Zivilisation, von Täter und Opfer, Unterwerfung und Verbannung der Frau aus dem Prozess der Geschichte.

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Almut Zilcher, Margit Bendokat und Wolfram Koch in Müllers Weltresonanzraum © Arno Declair

Der Schauspieler Wolfram Koch, der das Menschlein spielt, das soeben das Licht der Bühne erblickt hat, führt in einem kurzen Slapstick die Evolution vom tumben Primaten in ein nicht weniger tumbes Exemplar der Gattung Mann im Schnelldurchlauf vor. An dem gelben Rohr, das er in Besitz nimmt und bald auch als Waffe zu nutzen versteht, erlernt er den aufrechten Gang, der so natürlich schon immer kontaminiert (und korrumpiert) vom kriegerischen Unterwerfungsgedanken ist – Jason als Mann an sich, in dessen Evolutionsgeschichte sozusagen die Unterwerfung der Welt (und der Frau) paradigmatisch eingeschrieben ist.

Strukturell erinnert das ein bisschen an den berühmten Wand-Kampf zwischen Koch und Samuel Finzi, mit dem Dimiter Gotscheff 2006 seine Inszenierung der "Perser" von Aischylos eröffnete und ein ebenso federleichtes wie gültiges Theaterbild für die tragisch-lächerliche Wurzel aller Kriege im Zweikampf fand. Nun aber will der Funke nicht recht zünden. Vielleicht, weil die szenische Geduld fehlt, diese Evolutionsgeschichte wirklich zu entwickeln. Vielleicht ist sie mit ihrer Caveman-Logik (um mal Rob Beckers Broadway-Klassiker zum Thema zu zitieren) aber auch ein wenig schlicht gedacht.

Giftgelb: Medea

Dann kommt auch schon Almut Zilcher, die den Medeamaterial-Monolog spielt, eigentlich deklamiert. Wo Kochs paradigmatischer Jason/Mann eine schwarze Anzughose und rote Lackschuhe trug, den nackten Oberkörper mit mehreren Krawatten wie mit Skalps behängt, ist sie eine Frau mit schlicht-elegantem Hosenanzug und dezent glitzerndem Schmuck. Die Barbarin als wahrhaft Zivilisierte. Gelbe Pumps (Gelb! Gift! Medea, die Giftmischerin!), das war's schon mit theatralischer Zeichenhaftigkeit.

Leider modelliert Almut Zilcher Müllers Textkonglomerat aus realer Medea-Geschichte und unzähligen Übermalungen zum Virtuosenstück für große Tragödinnen. Das ist zwar bewunderungswürdig, aber auch nicht wirklich erhellend für diesen Abend. Völlig ironiefrei wird hier Müllers Pathos zelebriert und dabei die von Müller selbst längst in den Orkus der Theatergeschichte verbannte Identität von Spiel und Gespieltem klammheimlich restauriert.

Die Geburt des Autors aus dem Tod der Frau

Dabei spricht hier die Frau mit dem Kopf im Gasherd, dem strahlenden Brustkrebs, um nur mal zwei von Müllers doch auch sehr fragwürdigen Frauenklischees zu zitieren, die zwar immer freundlich herablassend die Frau als Opfer des Mannes würdigen – ihr jedoch nur als auf ihr Geschlecht reduziertes Objekt von Männerfantasie ein Existenzrecht in seinem Werk (und in der Welt) zugestehen. Hier hätte man ruhig mal das Frauenbild grundsätzlich befragen können, statt es statuarisch zu zelebrieren.

Aber vielleicht müssen eben endlich Frauen Heiner Müller inszenieren, der immer vom Tod des Autors sprach und dabei doch höchst auktorial und autoritär immer wieder in den Mustopf der Mythen, Ideologien und Theorien griff, um daraus gültige Aussagen über Stand und Zustand der Welt zu konstruieren, deren Wucht mitunter das Individuum erschlagen, für das die Welt (und auch das Theater) doch eigentlich gemacht sein sollte.

Fickzellen mit Fernheizung

Und so beobachtet man als Zuschauerin dann mit diebischer Freude, wie Gotscheffs Versuch misslingt, im dritten Teil des Triptychons "Landschaft mit Argonauten" nach Medea auch das Dichter-Ich als auktoriale Einfühlungsfigur wiederzubeleben. Wolfram Koch erscheint uns zunächst als "Ich Ich Ich" stammelndes Wesen, das sich nach schnell wiedererlangter Fähigkeit, "Ich" zu sagen, in recht verächtlicher Weise über die Profanität seiner Gegenwart erhebt.

Die "Fickzellen mit Fernheizung", als die Müller die DDR-Plattenbauwohnungen beschreibt, haben schon ein paar Generationen von Intellektuellen (in ihren Altbauwohnungen) ergötzt. Ebenso, wie die ehrfürchtige Verdammung der amerikanischen Kultur später im Text. Hier wünscht man sich deshalb endlich mal Dekonstruktion statt ewige Affirmation. Aber Koch bleibt, und das kann man nur als kleinen historischen Sieg über die arrogante Dichterpose werten, diesmal weit unter seinen Möglichkeiten, also ziemlich blass.

Das Ende der Funktionäre

Aber dann Margit Bendokat: Sie ist die Frau, die Müllers spätes Langgedicht "Mommsens Block" spricht, in dem der von der Wende kalt erwischte (und um sein Material gebrachte) Heiner Müller der Frage nach seiner eigenen Unfähigkeit, noch weiter schreiben zu können, nachgeht. Wieso hat der gefeierte Historiker Theodor Mommsen den letzten Band seiner römischen Geschichte nicht geschrieben?, fragt Müller also und kriecht in Mommsens nach 1990 wieder aufgestelltes Monument vor der Humboldt-Universität, auf dessen Sockel wohl zu DDR-Zeiten Karl Marx gestanden hat. Die Antwort: Weil er für die späten römischen Kaiser nur Verachtung empfand – so wie Müller für die Zeit nach 1989, die er nicht mehr für beschreibenswert hielt.

Und wie Margit Bendokat diesen Text spricht, der ja auch ein tragisches Zeugnis von Dichterhochmut ist, ist es ein Ereignis. Denn sie nähert sich Müllers marmornen Versen mit der Weisheit derer, über die Müller sich in großer Pose erhebt, mit der Weisheit derjenigen nämlich, die eben nicht mehr bloß das Material für Dichter und Funktionäre sein, sondern selber leben wollten, in ihren Fickzellen mit Fernheizung. Und so zerpflückt Margit Bendokat mit großer Intelligenz (die als Bauernschläue und Naivität getarnt daher kommt) die Müller'schen Konstrukte von Geschichte und ihrer Verwertbarkeit durch erhabene Dichter und Denker, die dann im entscheidenden Moment sich der Wirklichkeit und dem Denken verweigern, und öffnet plötzlich einen Blick auf Müller, den man den ganzen Abend über vermisst hat.


Verkommenes Ufer / Medeamaterial / Landschaft mit Argonauten / Mommsens Block
von Heiner Müller
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme: Mark Lammert, Sound Design: Martin Person, Licht: Matthias Vogel, Mitarbeit Regie und Dramaturgie: Fabiane Kemman, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Margit Bendokat, Wolfram Koch und Almut Zilcher.

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Wer kümmert sich außer Dimiter Gotscheff noch um Heiner Müllers Texte? Frank Castorf natürlich, der die "Hamletmaschine" in seinen Kean nach Alexandre Dumas einließ. Peter Jordan zeigte Müllers Macbeth-Bearbeitung in Dortmund, Hasko Weber das Frühwerk Der Bau in Stuttgart. Lars-Ole Walburg eröffnete seine Intendanz in Hannover 2009 mit Wolokolamsker Chaussee.

Kritikenrundschau

Eberhard Spreng schreibt auf der Webseite des Deutschlandfunks (14.11.2011): Leider trete nach der stummen Einleitung auf der kahlen Bühne "der Müller-Text" auf und verweise die Akteure in "die Rolle von Rezitatoren". Almut Zilcher starre mit "irreverzückten Augen" Löcher ins Publikum, ihre "mutwillige Gestik" behaupte Bedeutung. Es komme aber keine "erkenntnisstiftende Spannung" zustande. Auch in Wolfram Kochs "Landschaft mit Argonauten" träte nur Müllers sprachliche Selbstgewissheit zutage, als sei sein Text oder seine Texthaltung der einzige Ort, an dem Sprache von der deutschen Geschichte künden könne. "Soviel Selbstgewissheit" sei heute nicht mehr in Mode. Erst Margit Bendokat finde in "Mommsens Block" mit listiger Ironie die "richtige Haltung, ja den geeigneten Sicherheitsabstand" zu Müllers "großmäuliger Vorlage", seiner letzten "deutschen Weltbeschreibung". Hier sei Ironie, "die schreckliche Grundhaltung so vieler heutiger Theaterleute", endlich einmal "kunstvoll ausgearbeitet", keine "Verlegenheitsposition, sondern kritische Distanz", die einen historischen Bruch kenntlich mache.

Ulrich Seidler schreibt in der Berliner Zeitung (15.11.2011) als auch in der Frankfurter Rundschau (15.11.2011): "Gut anderthalb Stunden Müller-Verse" brächten "jedes Fassungsvermögen zum Überlaufen" und schnüre auch dem "Durchblutetsten" die Gefäße ab. Gotscheff-Müller-Abende seien "Fanveranstaltungen". Mit dem "Selbstbewusstsein eines allwissenden Endzeit-Chronisten" schmiede Müller Gegenwart, Geschichte und Mythos ineinander. Gotscheffs "bedeutungsrünstige und zugleich asketische Sprechtanz-Rituale" gestatteten dem Zuschauer keinerlei "Ablenkung". Der "müllertreue Bulgare Gotscheff" leihe dem Dichter "postumen Atem"; und die Spieler stellten "ihre Leiber als Posaunen zur Verfügung". So singt Seidler: "Gepriesen sei Wolfram Koch − ein Kraftpaket aus Gedankenwucht, Testosteron und Spiel-Listigkeit!" Und: "Es regne Segen auf Almut Zilcher! Diese herrliche, vom Leben angefressene Theatergöttin" beglaubige "umstandslos jeden Blutdurst und jeden Herzbruch". "Ein Halleluja nicht zuletzt auf Margit Bendokat! Diese hochwürdige Hausmeister-Erscheinung" verballere noch die abgehobenste Dichtung als "proletarisches Kalaschnikow-Gekicher".

Rüdiger Schaper schreibt in der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (15.11.2011): Wiederbegegnungen mit Heiner Müllers Werk förderten den "Phantomschmerz". Kein Dramatiker nach ihm habe "mit solcher Schärfe Gegenwart und Geschichte, Politisches und Privates durchdrungen". Der "Müller-Argonauten-Abend" sei "zugleich befreiend und anstrengend, erhellend wie verdunkelnd". Margit Bendokat, Almut Zilcher und Wolfram Koch gäben dabei "typische Müller-Clowns und GotscheffKatastrophiker". Koch als Jason, der Primat, der Krieger könne "herrlich Pausen setzen", Begriffe dehnen eine und den Text – aus Distanz – leicht machen. Jason strotze bei Koch vor Energie, "ein sympathischer Schuft". Almut Zilcher spiele "überraschend ins Tragische hinein", fast "klassisch ihr Wehklagen". Margit Bendokat zerstöre "Mommsens Block" mit "lustiger Berliner Art", als würde Angela Merkel "eine kabarettistische Rede über die Bundesrepublik halten, gespiegelt im römischen Kaiserreich". Bendokat mache Müller "verstehbar, weil sie ihm die Schwere nimmt und Luft zum Atmen gibt". Dieses Experiment mit offenem Ausgang sei "besser gelungen als manche fertige Produktion".

In der Tageszeitung Die Welt (15.11.2011) schreibt Elmar Krekeler: Gotscheff entlarve Heiner Müller "wider Willen". Müllers Texte seien gealtert und blieben leer wie Gotscheffs "riesige Rampe für Tragödientheater". Almut Zilcher spiele ihr "ganzes Tönerepertoire" durch. "Sie rührt mit den riesigen Händen in der Luft. Die Haare fliegen. Der Hosenanzug ächtzt." Eine "großartige Zirkusnummer". Wolfram Koch als "Müllers Alter Ego", ein "weltekelnder Sprachsuchender" ziseliere und erprobe Sätze, "von denen man dreißig Jahre später faserige Zähne bekommt". "Die Wälder brannten in EASTMAN COLOR ". Oder: "Frauenwärme ist ein Singsang". Koch sei grandios, er lasse die Sätze fliegen, "weit kommen sie nicht." Margit Bendokat rette "Mommsens Block", indem sie "Müllers Gedicht, Hochmut, Weinerlichkeit" entlarve. "Sie stellt sich ein bisschen doof, ist aber klüger als der Text".

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.11.2011): Zu sehen gewesen seien drei "hervorragende Darsteller", zu hören "ein hochgestochener Dramentext"– aber Dimiter Gotscheff sei leider nicht als Regisseur tätig geworden. Die Darsteller verausgabten sich sprachgymnastisch "zunehmend formlos, dabei voll dunkel glühender Leidenschaft". Erst Margit Bendokat gelinge zum Schluss "ein resoluter Zugriff auf die rhetorischen Gaumenreize des Autors". Sie "kichert und doziert, kommandiert und fiepst, grinst hämisch und schluchzt in ein blau-weiß-kariertes Taschentuch." Dem Text schade es überhaupt nicht, wie sie "zur Attacke auf ihn bläst und ihn dem Publikum zum Lachen vorwirft". Sie zeige, wie man mit Müller-Texten spielerisch umgehen müsse. In Dimiter Gotscheffs Requiem indes werde "das Wort nicht Theaterfleisch, sondern nur Abluft".

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (15.11.2011): Dimiter Gotscheff und sein Bühnenbildner Mark Lammert hätten einen "enigmatischen Text" nüchtern und hermetisch inszeniert. Eine "dunkel funkelnde Zumutung", was "selten genug an diesem kundenorientierten Theater" vorkomme. Schon der Text sei "wie eine schwere Droge, nach deren Einnahme man sich selbst und die Welt schwärzer wahrnimmt". "Gotscheff und Lammert" setzten nicht auf "Versimpelung" sondern stellten die Nicht-Inszenierbarkeit aus. Wir sähen eine Bühne, die "sich selbst zerstört, eine stillgelegte, leer laufende Illusionsmaschine". Statt Assoziationsbebilderung gebe es "trockenste Abstraktion". Die drei "hochkonzentrierten Monologe" mieden die "Pathosfallen weiträumig". "Stattdessen: Leichtigkeit, Genauigkeit und eine erstaunliche Komik." Der "hinreißende" Wolfram Koch werde in Minuten "vom sabbernden Säugling zum Mann", vom "grunzenden Steinzeitmenschen zum aufrechten Mitteleuropäer". Almut Zilcher gebe in "präzisen Setzungen" mit "aggressiver Komik" das "ausgenutzte Muttertier", das jetzt Amok läuft, sich dann aber in "etwas breiigen Gefühlsmatschausbrüchen" verheddere. Margit Bendokat arbeite sich "höchst komisch durch 'Mommsens Block'. Ein Abend wie eine ungesunde Droge."

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