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Das Wort hat der Angeklagte

von Rainer Nolden

Trier, 17. November 2011. Was für ein netter junger Mann. "Adrett" hätte man gesagt, damals in den fünfziger und sechziger Jahren: Pullunder, Krawatte, weißes Hemd, Anzug. So auffällig wie ein Versicherungsvertreter. Doch hinter der Maske des Biedermanns verbirgt sich die "Bestie", wie ihn die Medien seinerzeit nannten. Das war 1967, als der smarte, intelligente Twen vor Gericht stand, weil er vier Jungen zwischen acht und dreizehn Jahren gequält und getötet hatte. Es war einer der spektakulärsten Prozesse in der Bundesrepublik, die damals etwa so alt war wie der vierfache Mörder, der 1976, nach einem Eingriff zur Kastration, den er selbst gewünscht hatte, nicht mehr aus der Narkose erwachte.

Ein Stück deutsche Geschichte

Zwischen 1968 bis zu seinem Tod hat Bartsch aus dem Gefängnis dem in Berlin lebenden amerikanischen Journalisten Paul Moor zahlreiche Briefe geschrieben, die dieser zu einem Buch gebündelt hat. Auf diesem wiederum basiert der Monolog, den Oliver Reese verfasst hat und der 1992 in Ulm uraufgeführt wurde. Seitdem ist das Einpersonenstück vielfach nachgespielt worden – jetzt auch in Trier. Dafür ist das Stadttheater in den großen Sitzungssaal des Landgerichts umgezogen. Auch Gerichtssäle sind schließlich Bühnen, auch hier wird viel Theater gespielt, und das Talent der Darsteller beeinflusst nicht selten den Ausgang des Prozesses.

In dem Raum von dumpfer 60er-Jahre-Architektur lenkt nichts vom Protagonisten dieses "Prozesses" ab, der sein Leben Revue passieren lässt. Ein verkorkstes Leben? Sicherlich, aber der Schauspieler Jan Brunhoeber hält Mitleid und Abscheu vor dem Mörder in einer bewundernswerten Schwebe. Sein Bartsch signalisiert von Anfang an, dass er nicht auf Mitleid aus ist – auch wenn er die schrecklichsten Szenen eines Familienlebens schildert, unter denen er als Kind zu leiden hatte: die unmotivierten Wutausbrüche der Mutter ebenso wie ihre Versuche hilfloser Zärtlichkeit; ein gefühlskalter Vater wie es so viele gab unter den Kriegsüberlebenden, die nicht mehr ihren Platz in der Wirtschaftswundergesellschaft gefunden haben.

Der moralische Sumpf

Unter der Regie von Britta Benedetti berichtete er kühl und distanziert über seine Jugend, über das Erwachen der seltsamen Begierden und Bedürfnisse. Ein paar Mal stockt er zu Beginn, ein paar Mal holt er tief Luft, schaut verwundert, als könne er selbst nicht glauben, dass er selbst es ist, von dem er da erzählt. Aber dann redet er sich mehr und mehr warm, wendet sich direkt ans Publikum, freilich ohne es auf seine Seite ziehen zu wollen, führt ihm ein paar Taschenspielertricks vor, während er es immer tiefer mit hinunterzieht in seelische Abgründe, die zu dunkel sind, als dass selbst noch so viele Worte Licht hineinbringen könnten.

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Jan Brunhoeber als Bratsch © Theater Trier

 

Und wortgewandt ist dieser Bartsch zweifellos, wenn ihm auch manches peinlich ist, worüber er redet – kein Wunder, ist er doch das Produkt einer absolut verklemmten Generation: die ersten verdrucksten sexuellen Erfahrungen, der Missbrauch durch einen Priester, der ganze moralische Sumpf, durch den die Heuchler knietief wateten. Hier gewinnt das Stück im Übrigen eine Aktualität, von der Reese bei der Uraufführung vor rund 19 Jahren kaum etwas ahnen konnte.

Beklemmend wie bemerkenswert

Mit reduzierten Mitteln, in fast beiläufigem Erzählton, der hier und da sogar für ein paar leise Lacher sorgt, gewährt Brunhoeber beunruhigende Einblicke in die Psyche eines kranken Menschen, der eloquent darzustellen vermag, was er getan, wodurch er dazu getrieben und wie hin und hergerissen zwischen Lust und Entsetzen er selbst dabei gewesen ist. Eine Leistung, ebenso beklemmend wie bemerkenswert.

Das unheimliche Rätsel, das diesen Jürgen Bartsch umgab, bleibt freilich auch nach diesem Abend ungelöst. So viel Aufklärung auf dem Theater – das wäre auch zu viel verlangt.


Bartsch, Kindermörder
Monolog von Oliver Reese
Regie: Britta Benedetti, Raum: Peter Müller, Kostüme: Yvonne Wallitzer, Dramaturgie: Sylvia Martin.
Mit: Jan Brunhoeber. 

www.theatertrier.de

 

Mehr: Der Schauspieler Jan Brunhoeber spielt auch in anderen Trierer Inszenierungen, zum Beispiel in Mitternachtskinder, im Oktober 2010 von Stefan Maurer inszeniert oder Sich Gesellschaft leisten, das Gerhard Weber im Juni 2010 zur Uraufführung brachte.

 

Kritikenrundschau

Wer in Britta Benedettis Inszenierung des "Bartsch" ein Monster sehen wolle, "das dem Betrachter die Chance gibt, wohltuende Abscheu zu empfinden, wird nicht bedient", schreibt Dieter Lintz im Trierischen Volksfreund (19.11.2011). Der Bartsch, den Jan Brunhoeber zeige, bleibe "merkwürdig auf Distanz. Man beobachtet ihn wie ein fremdes, ungeheuerliches Insekt, dessen Identität man vergeblich zu verstehen sucht." Sein hervorstechender Charakterzug sei hier "die vollkommene Unfähigkeit zur Empathie, zum Mitleiden mit denen, die zum Opfer seiner Verbrechen werden. Emotionen empfindet er nur da, wo es um ihn selbst geht, um das, was ihm angetan wurde." Brunhoeber und Benedetti hätten es "sich einfacher machen können, mit einem schaurigen Spektakel oder einem Sozialdrama. Ihre Interpretation ist mutig, gerade weil sie ein ausgeprägtes Gefühl der Leere hinterlässt – und damit reichlich Raum zum Nachdenken."

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