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Teufel aus der Tonne

von Ralph Gambihler

Jena, 24. November 2011. Das Theaterhaus Jena liegt, wie könnte es anders sein, im Schillergässchen 1, nur wenige Meter von Schillers Gartenhaus entfernt. Den Kotau in diese Richtung spart sich die neue Mannschaft am Theaterhaus Jena aber - und kommt gleich mit Goethes "Faust" zur Sache, so dass es ein wenig so aussieht, als habe die frisch angetretene, im Durchschnitt 28 Jahre junge Mannschaft unter dem neuen künstlerischen Leiter Moritz Schönecker die Weimarer Klassik schon mit der ersten Premiere abgehakt. Andererseits hatte das in Nachwendezeiten vor 20 Jahren gegründete Theaterhaus, das mit unkonventionellen Konzepten zu einem der interessantesten und kreativsten Häuser in Ostdeutschland wurde, bislang ein durchaus entspanntes Verhältnis zur Weimarer Klassik. Warum sollte sich das nun ändern?

Offengelegtes Inneres

Schönecker, der Markus Heinzelmann ablöst, stammt aus Trier, ist dreißig, hat in München an der Theaterakademie August Everding studiert und zuletzt von Berlin aus als freischaffender Regisseur gearbeitet. Den "Faust" zum Einstand hat er selber übernommen, und er hat dazu, zusammen mit seinem Bruder Benjamin, der als Ausstatter dabei ist, ausgiebig im Fundus gestöbert. Man sieht's schon vor der Tür. Da stehen auf dem Theaterplatz derzeit - im Rahmen des Projektes "Umschichten" (das zwei Stuttgarter Architekten umgesetzt haben) - markante Einzelteile aus ehemaligen Kulissen, eine große Holzkugel aus einer Kleist-Inszenierung etwa. Das Vorgefundene kehrt als Artefakt wieder.

Auf der Bühne, im hohen und gänzlich unverhüllten Bühnenhaus, läuft es im Prinzip ähnlich. Man sieht die Ziegel der Mauern und das Stahltor auf der Hinterseite. Aus Teilen der ausgemusterten, im Sommer demontierten Theatermaschinerie wurde eine Art Turm gebaut, der die Grundfläche um einige Meter überragt. Darunter wird von den Darstellern immer wieder das Mobiliar gewechselt. Stühle werden herein und hinaus getragen, ein Schreibtisch für Fausts Studierstube, ein großer Tisch für Auerbachs Keller, eine Matratze und ein Schrank für Gretchens Zimmer usw. Die Natur geistert in Gestalt von Topfpflanzen und ausgestopften Tieren durch die Kulisse. Für das Repertoire ästhetischer Effekte steht eine Videoausrüstung zur Verfügung. Man spielt offen, ohne die Hermetik einer geschlossenen Kunstoberfläche.

Die Tücken des Sprachkunstwerks

So weit, so schön. Die Überraschung besteht nun darin, wie wenig daraus wird. Der Abend geht fast bruchlos und "nach alter Art" über die Bühne. Die Regie, so scheint es, pflegt den Umgang mit Goethe in Form der Umklammerung. Was im konkreten Fall bedeutet, dass Fausts Sinnsuche und Schandtaten a) absolut texttreu und thesenfrei abgespult werden, b) die Ausbrüche dramatisch bis schwer pathetisch sind, c) der hohe Theaterton einem immer wieder Ohrensausen verursacht. Warum spielen junge Leute so? So gestrig? Schwer zu sagen. Man wollte für den Anfang wohl den Zauber des Sprachkunstwerks und hat ihn mit Verve verpasst.

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Ella Gaiser als Gretchen © Joachim Dette

Gespielt wird im Wesentlichen der "Urfaust", also ohne Pakt, Hexenküche und Walpurgisnacht, auch ohne Fausts Suizidgedanken und Gretchens Errettung, ergänzt dafür um einige Passagen aus "Faust I", die die Sache runder und plausibler machen, bei allem Sturm und Drang der Erstfassung. Den Faust von Mathias Znidarec muss man sich dabei als empfindsamen Menschen vorstellen. Seine Zweifel sind groß, die Qualen auch. Gerne würde man dieser Wehmutsnatur mit einer Packung Antidepressiva aushelfen. Die Therapie Gretchen hilft aber auch - zuverlässig.

Tänzeln, Federn, ein Hauch von Revue

Bei Benjamin Mährlein ist nicht ganz klar, ob er Mephisto-Klischees nur stapelt oder zugleich parodiert. Jedenfalls trägt er ziemlich dick auf mit seinem unentwegten Tänzeln und Federn, das immer irgendwie aussieht, also müsse der Teufel ganz schnell aufs Klo. Der Kerl ist weibisch, sarkastisch und aasig, wie es im Buche steht - nur ein bisschen mehr. Den überzeugendsten Eindruck hat Ella Gaiser mit ihrem Gretchen hinterlassen. Obwohl ihr züchtiges, armes Ding etwas vordergründig wirkt, passt ihr die Rolle wie eine zweite Haut. Die Kupplerin Marthe Schwerdtlein (Natalie Hünig) stakst daneben im Kostüm eines 20er-Jahre-Starlet durch die Kulisse. Das sieht toll aus, wirkt aber sinnfrei.

Was gibt es noch? Viel nachtclubtaugliche Musik in den Umbaupausen und auch sonst, was dem Abend einen Hauch von Revue verleiht. Diverse Requisiten, mit denen sich die Inszenierung auf Gegenwart lackiert: eine Luftblasenpistole für den Prolog im Himmel, einen elektrischen Baumarkt-Drehschrauber für Fausts Weinwunder, eine Hausmüll-Tonne für einen effektvollen Auftritt des Teufels. Alles in allem: Viele Einfälle, wenig Ideen.


Faust
von J.W. Goethe
Regie: Moritz Schönecker, Dramaturgie: Simon Meienreis, Jonas Zipf, Komposition: Joachim Schönecker, Live-Musik: Levi Raphael, Bühne/ Kostüme: Benjamin Schönecker & Veronika Bleffert, Video: Stephan Komitsch/ impulskontrolle.
Mit: Moses Leo, Mathias Znidarec, Benjamin Mährlein, Ella Gaiser, Natalie Hünig, Yves Wüthrich, Tina Keserovic.

www.theaterhaus-jena.de


Kritikenrundschau

Frank Quilitzsch schreibt in der Thüringischen Landeszeitung (26.11.2011): Beim fast kahlköpfigen Mathias Znidarec erinnere Faust ein bisschen an Lenin im Kreml – "grotesk, doch leider nicht so gemeint". Benjamin Mährleins Mephisto sei ein "Bewegungstalent", zwittere zwischen Mann und Weib, steppe sogar – bloß "warum eigentlich?" Ella Gaiser als Gretchen gehe nicht recht unter die Haut, kurzum: das neue Jenaer Theaterhaus-Ensemble habe "Urfaust" gewählt, "mit anderen Faust-Texten verquirlt und schön bebildert", wisse aber nicht, "warum sie ihn spielen". Es gebe einfach keine Idee. "Statt eine Haltung zur Wirklichkeit zu transportieren, arbeitet der Regisseur sich an Goethes Ästhetik ab." Die "Neuen" sprächen und spielten "wirklich gut". Regisseur Moritz Schönecker habe "nahezu alles": "gute Schauspieler", Jugend, trotzdem schon Bühnenerfahrung, "dazu Technik, die begeistert", und dennoch verlaufe die Handlung "so brav, beinahe widerstandslos", dass man sich verwundert die Augen reibe: "Wo ist hier der Stachel? Wo bleibt die Irritation?" Wo sei "das Subversive, aus dem vor 20 Jahren das Jenaer Theaterhaus entstand?"

Henryk Goldberg schreibt in der Thüringer Allgemeinen (26.11.2011): Moritz Schönecker müsse unter dem "Mythos Faust", dem "Probstein" sehr gelitten haben. Die "reichlich zwei Stunden" erzählten keine Konzeption, es gebe keine. Sie erzählten aber etwas über den Regisseur Moritz Schönecker, der ein zwittriges Wesen zu sein scheine. Mit "lässiger", "effektsicherer" Fassade, dahinter aber ein "beinahe konservativer Regisseur", "respektvoll und weithin unironisch". Schönecker könne Atmosphäre erzählen, "wenn der Gedanke dahinter den Schauspielern gilt und nicht der Didaktik". Dom-Szene, der sterbende Valentin, Erdgeist – das alles sei überflüssig. Aber wenn es gelingt, die "Schauspieler mit der Szene" zu verbinden, ergänzten und befeuert diese einander. Vollkommen "ernsthaft und unironisch" Matthias Znidarecs "Habe nun ach...". Vollkommen "durchglüht in der Begegnung mit Gretchen" und vollkommen zerstört, reduziert auf seine Schuld im Kerker. Ella Gaiser spiele Gretchen "sehr eindrücklich, sehr intensiv, sehr gut. Besser kann man nicht debütieren in einer Stadt." Ein kurzweiliger Start sei das.

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