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Wer hat die Kokosnuss geklaut?

von Michael Laages

Zürich, 26. November 2011. Oberammergau, so ist in jüngerer Zeit ja häufig zu hören, sei mittlerweile nicht nur in passions- und erlösungstechnischer Hinsicht eine lohnende Adresse, sondern auch theatralisch ein Ort neuer Wege. Und das sei vor allem das Werk des Regisseurs Christian Stückl, der außerdem seit Jahren auch den immergrünen Salzburger "Jedermann" allsommerlich vor dem Dom der Festspielstadt mit frischem Feuer ausgestattet hat und überdies (und vor allem) Hausherr ist im sehr solide, ja nachgerade innovatorisch beleumundeten Volkstheater in München. Nun hat Barbara Frey, führende Frauenbeauftragte im deutschsprachigen Theaterraum und als Intendantin am Züricher Schauspielhaus gerade mit Fremdarbeit am Wiener Burgtheater befasst (siehe Nachtkritik vom 24. November), den Mann aus München zu einer Gastarbeit in den "Schiffbau" des Züricher Theaters eingeladen, wie sie männlicher kaum ausfallen könnte.

In "Merlin oder Das wüste Land", Tankred Dorsts Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts auf der Basis der Artus-Sage verfertigtem Fantasy-Stück über die ewigen Fragen nach Glaube, Sinn und schöner Utopie, kommen Frauen zwar vor, aber durchaus nicht als denkende Wesen. Das ist noch das geringste Problem an einer Aufführung, die auf verschiedene Weise sprachlos macht.

Fragen an den großen Weltentwurf

Auch zu Beginn der Saison wurde Dorsts "Merlin" ja zur Wiederentdeckung frei gegeben; und alle Welt raunte schon vom großen, quasi zeitlos-klassischen Dorst-Entwurf über die letzten Fragen der Menschheit, passend zu allerlei aktuellen Theologie- und Sinn-Diskursen. Der Autor selbst ehrte die Inszenierung von Antú Romero Nunes am Hamburger Thalia Theater zwar durch Anwesenheit, verkrümelte sich aber zügig in die Kantine, als das Ensemble noch auf der Bühne beklatscht wurde. Vielleicht hat er bemerkt, zu was für Missverständnissen er die zeitgenössischen Theatermacher da verleitet hat nach drei Jahrzehnten.

Beweisen konnte denn auch keiner der beiden jungen Regisseure, was an dieser – pardon! – ollen Kamelle denn nun plötzlich wieder so interessant sein soll. Immerhin: Aus dem Material für reichlich zwei Abende (wie zur Uraufführung 1981) kann – und muss!– jeder sich den eigenen "Merlin" schnitzen. Nunes bevorzugte in Hamburg reichlich Clownerie und ganz viele technische Tricks des Theaters. Stückl erzählt jetzt in Zürich ein Märchen aus uralten Zeiten – mitten im Urwald und unter Urmenschen.

Es knackt im Gehölz

Stefan Hageneiers Züricher Bühne ist dabei allemal ein Ereignis für sich. Die Schiffbau-Halle des Schauspielhauses ist rundum eingerüstet mit Vorhängen, auf denen es Grün prunkt und prangt: Schlingpflanzen, Palmen, Kakteen und unendlich viel anderes Gestrüpp. In diesem Urwald sitzen wir auf zwei Tribünen an den Stirnseiten, dazwischen lockt ein trüber Tümpel, in dem es gern mal brodelt, während in und aus ihm allerlei wichtige Dinge auftauchen: der Teufels- und Menschen-Knabe Merlin, gleich darauf das magische Schwert Excalibur, später zuweilen auch liebliche Frauen. Es wird gekämpft und geliebt über und unter Wasser; drum herum wölbt sich eine monströse Waldkulisse aus ganz viel bemoostem Styropor; der Sponsor steht im Programmheft.

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Dschungelkönig: "Merlin" in Zürich © Toni Suter

Durch das Unterholz stapfen Menschen (Männer!) von heute. Mit der Zeit wachsen ihnen allerdings wallende Rauschebärte, wie den Volksmassen auf Christi Leidensweg nach Oberammergau. Die Frauen sind ganz aus verführerisch flimmerndem Glimmer (oder glimmerndem Flimmer...) – oder eben Wassernixen. Die eine, Artus' Königsgattin Ginevra, hat's mit dem sexuell offenbar interessanteren Ritter Lancelot, die andere, Elaine, verführt eben diesen Ritter ebenfalls, in Ginevras Maske, ist aber sonst zu nichts wesentlichem nütze. Die dritte zieht ab und an Parzival, den reinen Tor, in erotisch wärmende Fluten.

70er-Kommentar über die Revolte

Wenn all das nicht irgendwie überaus ernst gemeint wär, wär's nur zum Lachen. Stückls Naivität, was Schauspielerführung und Bildfindung betrifft, ist schwer zu überbieten. Und jetzt, mit derart forcierter Schlichtheit, erweist sich obendrein, und weitaus ärger als schon in Hamburg, die enorm verschwafelte Geschwätzigkeit des Textes selbst; die schwingt sich zuweilen auf bis zu Herbert Reineckers Fernseh-Penetranz im "Kommissar"- und Erik-Ode-Mantra: "Ihr Mann ist tot!" - "Mein Mann ist tot?" - "Ja, Ihr Mann ist tot ...". Undsoweiter.

Schärfe und Fokus gewinnt der Text auch nicht, wenn er durch angestrengte Erklärungen bekenntnishaft aufgemöbelt wird und etwa zu Beginn der Teufel (der fast den ganzen elend langen Abend über im Fokus einer mäßig einfallsreich genutzten Video-Kamera irgendwo weiter oben zwischen Palmen lümmelt) die Freiheits-Phantasmagorien von Merlin und Artus in breitestem Militär-Amerikanisch kommentiert und später die mörderische, terroristische Konsequenz erklärter Gutmenschen und Utopie-Beschwörer geißelt. Das Stück ist halt auch ein Kommentar über die Revolten der 70er Jahre – aber wozu braucht's das jetzt gerade?

Unterminierte Sinnsuche, neutralisierte Politik

Nur in solchen Momenten blitzt das Ziel von Dorsts Denken auf – das niemand teilen, aber zur Kenntnis nehmen muss: als Dokument der Regression, die meistens auf Revolten folgt. Doch wie ernst auch immer die verschiedenen Teile der Fabel genommen werden könnten, Dorst hat nichts als hohle, fahle, ungeschärfte Sprache dafür. In deren Tonfall, frei von jedem Glitzern und Funkeln, geht's zunächst um die egalitäre Utopie, deren Bild Merlin dem Artus eingibt: das Bild vom großen runden Tisch der Tafelrunde, mit jedem Ritter (jedem Bürger) gleich, das heißt in gleichem Abstand zum gewählten König (der Regierung); dann geht es, leicht zeitversetzt, um Parzival, dem die fixe Idee vom "Gral" eingegeben wird – und damit auch die nach der Schale mit Christi Blut vom Kreuze drin.

Durchzogen, unterminiert und überwölbt werden beide Sinnsuchereien vom Familienzwist auf Burg Camelot. Artus fand von jeher den schönen runden Tisch im Bild von Ginevra interessanter als die Lady selbst. Kein Wunder, dass die dann mehr von Lancelot hält. Im Finale, wenn der ungewollte Sohn Mordred den Untergang der Dynastie herbeiführt, hat das Familien-Drama längst und endgültig alle Politik und jeden Gedanken neutralisiert. Merlin hängt sich Brüste um und ist jetzt "die Verführung", Parzival ward schon länger nicht mehr gesehen. Nicht gerade ein großer Wurf von letzten Dingen – und Christian Stückls Urwald-Farce lässt nur noch warten auf Mowgli, Bagheera und Balou. Eine Banane spielt schon mit. Doch die Kokosnuss hat irgendwer geklaut.

Merlin oder Das wüste Land
von Tankred Dorst, Mitarbeit Ursula Ehlers
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Michael und Markus Acher, Dramaturgie: Roland Koberg.
Mit: Gabor Biedermann, Gottfried Breitfuss, Ursula Doll, Nicola Fritzen, Michael Gempert, Lukas Holzhausen, Sarah Hostettler, Fabian Müller, Yosvanys Gonzalez Muniz, Matthias Renger, Anne Schinz, Jonas Schlagowsky, Jost op den Winkel, Jirka Zett, Milian Zerzawy.

www.schauspielhaus.ch


Mehr Merlin-Inszenierungen der jüngeren Zeit: Antú Romere Nunes inszenierte das Stück im September 2011 im Thalia Theater Hamburg, Jochen Schölch im Juni 2011 am Metropol Theater München und David Mouchtar-Samorai im Mai 2010 am Theater Bonn.

 

Kritikenrundschau

Christian Stückl habe "für eine gekürzte Version des Stücks optiert. Und schon beginnen die Probleme", meint Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (28.11.2011): "Denn einiges bleibt dabei auf der Strecke: wegen der Synthetisierung, die den Stoff verknappt – oder ausfransen lässt – bis zur Unverständlichkeit; wegen irreführender Doppelbesetzungen. Last but not least aber auch wegen der Einheitsbühne, die den Bilderreichtum des Originaltextes doch sehr einschränkt bzw. der Vorstellungskraft des Publikums überantwortet." Und dann spielten auch noch "alle, ausnahmslos, spassige Karikaturen von Rittern, weshalb sie niemand ernst zu nehmen braucht, geschweige denn Interesse für ihr Anliegen aufbringt." Und so sehe die Aufführung über ellenlange Streken "klamaukhaftem Schülertheater täuschend ähnlich. Zunehmend ermattet fragt man sich, wie freiwillig der rüpelhafte Humor ist."

Auf Stefan Hageneiers Bühne sei der Artus-Mythos "ein aufgeschlagenes Dschungelbuch, ein Such- und Wimmelbild mit wuchernden Pop-up-Effekten", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (28.11.2011). Aber diese "grüne Hölle von Camelot" sei auch "so steil, rutschig und eng", dass die Darsteller "kaum Boden unter den Füßen und Platz zum Atmen haben. Bis auf Merlin bleiben sie plakativ und eindimensional, schlichte Pappfiguren ohne jedes Geheimnis." Man könne nicht behaupten, "dass Stückl sein Publikum überfordert: 'Merlin' ist Zürich ein jugendfreies Märchenspiel, holzgeschnitztes Styropor-Erzähltheater mit echten Bananen, aber ohne Idee und Passion."

Kein anderer Regisseur habe wohl je "Dorsts Stück derart unerschrocken bei seinen satanischen Hörnern (und Fragen) gepackt und daraus mit schier parzivalesker Kindlichkeit und Naivität ein solch pralles, hypertroph-tropisches Märchen- und Actionspektakel gemacht wie der Pracht- und Kraftkerl Stückl", vermutet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (28.11.2011). Allerdings seien Szenen, "in denen das wüste Geschehen sich fokussiert, beruhigt und – statt immer nur Wasserspritzer – auch mal Erkenntnisfunken schlägt", eher selten. "Sagen wir es frei heraus: Das ganze Getümmel, Gepurzel und Geschrei muss man schon auch aushalten können. Das ist Theater im Modus der Daueraufregung, mit eingebauten Nerven- und Härteproben, in denen sich die Schauspieler schon auch mal zum Affen machen. Das Herz der Finsternis erobert Stückl damit nicht."

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