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Hello Again!

von Christian Baron

Rudolstadt, 26. November 2011. Dass wir alle der Funktionsweise des kapitalistischen Systems bei Strafe des eigenen Untergangs gnadenlos ausgeliefert sind, ist keine neue Erkenntnis. Dass es in Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" genau darum, also ums große Ganze und nicht nur um die eiskalte Rache einer verbitterten alten Frau geht, hat Grażyna Kania in ihrer Inszenierung am Landestheater Rudolstadt durchaus erkannt.

Dieses Bemühen um eine klare Haltung ist für sich genommen schon lobenswert. Sie wird jedoch leider inkonsequent ausgeführt. Kanias "Besuch der alten Dame" ist über weite Strecken eine Ansammlung des Klischees vom bösen Menschen, der viel zu schlecht ist für eine andere Lebensform als den Kapitalismus. Das Volk der heruntergekommenen Stadt Güllen wird derart stereotyp dargestellt, dass einen das Gefühl beschleicht, man sähe eine RTL-Dokusoap. Da trägt die verklemmt gekleidete Schulrektorin (Charlotte Ronas) einen strengen Haarknoten, dem Bürgermeister (Hans Burka) dürfen Bart und Hosenträger nicht fehlen, der Teenager (Laura Göttner) muss im billigen Disko-Outfit daherkommen – und natürlich ist da noch die vom Volk als finanzielle Retterin ersehnte Claire Zachanassian (Verena Blankenburg), die nach ihrer Ankunft am Bahnhof mit teufelsrotem Schopf und sündhaft teuren Pelzmantel auftritt.

Luxuriöser Grabschmuck
Die Seniorin erklärt sich bereit, ihrer alten Heimat mit einer Milliarde aus der Patsche zu helfen, stellt jedoch die Bedingung, dass einer Alfred Ill (Matthias Winde) töten muss, der sie einst schwängerte und verließ. Empört lehnt das Volk das unmoralische Angebot ab, beginnt jedoch, fortan in Saus und Braus zu leben und so Ill "das Grab zu schmücken" – ganz in der Erwartung, der Stadt stünde in aller Bälde ein schöner Geldsegen ins Haus.

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Alte Dame im Getränkemarkt © Peter Scholz

Wirklich stark ist Grażyna Kanias Inszenierung da, wo es um reine Unterhaltung geht. Berechtigten Szenenapplaus ernten etwa musikalische Zwischeneinlagen wie die, als die Güllener ihre Retterin mit dem herzhaft vorgetragenen "Hello Again" von Howard Carpendale begrüßen oder auch jene Sequenz, in der ein aufgedrehter Bürger (famos in dieser Rolle: Benjamin Griebel) Turnübungen nach Befehl der Zachanassian vorführen muss. Positiv auch, dass die Rollen- und Szenenwechsel dank chorischer und atmosphärischer Unterstützung des Ensembles ohne große Veränderung in Kostümen oder Bühnenbild auskommen. Überhaupt ist letzteres spartanisch gehalten, im Mittelpunkt steht das Spiel.

Sparsame Bösewicht-Mimik
Die aus der Grundstory resultierende tragische Groteske wird denn auch von allen Beteiligten kurzweilig, von Matthias Winde herausragend heruntergespielt, ohne dass aber die wichtigste Frage auch nur ansatzweise kreativ beantwortet würde: Warum handeln die Güllener so? Das Geschehen auf der Bühne legt nahe, sie täten es, weil sie als ungebildeter Pöbel nur den Instinkten des blinden Konsumrausches folgen. Ganz im Sinne des Bildes vom gierig-bösen Einzeltäter, der ohne Rücksicht auf Verluste für seine Befriedigung über Leichen geht und obendrein zu feige ist, die Drecksarbeit selbst zu erledigen. Eine Perspektive, die die wohlfeile Attitüde eines gestrigen Kulturpessimismus pflegt.

Die alte Dame, die ganz offensichtlich den komplex angelegten Spätkapitalismus symbolisieren soll, wirkt mit ihrem stets eintönig gehaltenen Sprachduktus und der sparsamen Bösewicht-Mimik ebenso steif und unterkomplex wie die meisten ihrer Mit-Figuren. Bewiesen ist also: Etikettierungen dieser Art sind hilfreich, um Klamauk zu produzieren – aber im Dürrenmatt'schen Sinne völlig unzureichend, wenn man nicht im Brackwasser der Beliebigkeit seine Bahnen ziehen will.

 

Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrematt
Regie: Grażyna Kania, Ausstattung: Fred Pommerehn, Dramaturgie: Thorsten Bihegue, Musikalische Einstudierung: Thomas Voigt, Regieassistenz: Beate Burkia, Soufflage: Sigrid Schmieder, Inspizienz: Sabine Kolb.
Mit: Verena Blankenburg, Joachim Brunner, Hans Burkia, Benjamin Griebel, Laura Göttner, Charlotte Ronas, Markus Seidensticker, Ute Schmidt, Matthias Winde.

www.theater-rudolstadt.com

 

Mehr Dürrenmatt? Auch Luzern wurde unlängst von der alten Dame besucht – wir sahens gern mit an.

 

Kritikenrundschau

Die junge Regisseurin Grazyna Kania bürste in Rudolstadt den "Besuch der alten Dame" gegen allfällig gewohnte Sichtweisen, schreibt Angelika Bohn in der Ostthüringer Zeitung (28.11.2011). "Dass Claire ihr Elend absichtlich herbeigeführt hat, erfahren die Güllener zwar erst im Laufe des Stücks, dass Abgehängte wie sie schäbig und verwahrlost sind, behauptet die Inszenierung aber von Beginn an." Das sehe sich schön rotzig und trotzig an und habe anfangs auch ein flottes Tempo. Der Zuschauer müsse ja im Alltag oft nicht weit gehen, um Gestalten zu sehen, die ihm nun als Güllener Bürger auf der Bühne begegnen. "Doch die Figuren so weit zu prekarisieren bedeutet, sie haben keine Fallhöhe." Bohn schließt mit einem Lob für das "klasse Ensemble".

Die Figuren in Grazyna Kanias Version des "Besuchs der alten Dame" seien "abgestumpfte, ausgebrannte, von der Stütze, der Suppenküche, auf Pump oder in bloßem Gottvertrauen lebende Typen", schreibt Frank Quilitzsch in der Thüringischen Landeszeitung (29.11.2011). Dürrenmatts Parabel werde hier "zum künstlerischen Ereignis" – "was für ein Glücksfall für das kleine Theater!" Kania bringe "frische Ideen mit und schafft lustvoll Spielräume für die Schauspieler", die hier bisweilen gar "über sich hinaus" wüchsen. Mit dem Auftauchen der Zachanassian nehme die Inszenierung Fahrt auf, versprühe Witz und Ironie. Matthias Winde müsse erst "mit seiner Rolle warm" werden, steigere sich dann aber "von Szene zu Szene zu einer tollen Charakterstudie". Und auch Verena Blankenburg schlage sich "bravourös". Dazu sei der Güllener Volkschor "virtuos choreografiert" und das Simultanspiel vor und hinter der Tapetenwand "famos".

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