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Hoppe, hoppe, Herrenreiter

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 26. November 2011. Isabella versteht kein Wort, nichts. Vor ihr windet sich Angelo, ein Mann mit Föhnwelle auf dem Kopf und dem Teufel im schwitzenden Leib. In Reiterhose, Stiefeln und Bauschehemd sieht er aus, als sei er geradewegs zur Erol-Flynn-Kostümparty unterwegs gewesen, als ihm die eigene Lust in die Quere kam. Isabella fleht um das Leben ihres Bruders Claudio, der nebenan im Joch seinen Henker erwartet, das Gesetz verlangt es plötzlich wieder so: Todesstrafe für außerehelichen Sex. Angelo will aber ausnahmsweise Gnade vor hartem Recht ergehen lassen, wenn Isabella, die Nonne, ihren zugeschnürten Körper mal frei macht. Doch wie sagt er's?

Der Beau hampelt herum, als drücke ihn die Blase. Also greift er sich einen Spaten, den er sich zwischen die Beine klemmt, den erigierten Stiel liebevoll kosend, dabei lechzend, zwinkernd, ohne dass der Jungfrau ein Licht aufgeht. Schließlich absolviert der geil wiehernde Herrenreiter mit seinem Steckenpferdchen einen bravourösen Dressurritt inklusive einer feinen Traversalen. Minutenlang. Schenkelklopfen. Szenenapplaus.

Saftige Erde, erhitzte Luft, bizarre Moral

Worum ging es noch einmal? Genau, Shakespeare. "Maß für Maß". In der Inszenierung von Christian Weise. Ab und an vergisst man das bei all den hoppelnden Spaten, fliegenden Fäusten und enthemmten Motorsägen. Andauernd bohrt sich etwas in die erhitzte Luft. Eine Band unter drei Zorro-Hüten würzt den testosterongeschwängerten Dampf mit einem Lied: "Wir ficken alt, wir ficken jung . . . bummbummbumm". Jo Schramms Bühne ist voll dunkler, saftiger Erde vor einer Bretterwand, und wenn Holger Stockhaus' gestiefelter Angelo in diesem weichen, unsicheren Grund beim Stapfen oder Galoppieren einsinkt, schmatzt es.

"Maß für Maß" ist ein sogenanntes Problemstück, eine Art Komödie mit löchrigem Sicherheitsnetz und groteskem Happy-End. Das Problem? Angelo. Dessen Rolle ist im Original zwielichtig, widersprüchlich. Wie ein hochmütiger Engel schwebt er über dem Morast der Sünde, bis er ins Bodenlose seiner eigenen Verderbtheit fällt. Der Stellvertreter des Herzogs von Wien ist grausam – und gerecht zugleich. Er stellt ein absurdes Gesetz über den Menschen, will mit der Todesstrafe ein Exempel statuieren. Seine Maßlosigkeit: staatlicher Terror. Doch auf die Entlarvung seiner eigenen Affäre folgt keine Strafe, sondern Gnade. Was ist die Moral dieser bizarren Geschichte?

Politisierung endet bei der Kleidung

Der Regisseur gibt keine Antwort. Was nicht wundert, denn Christian Weise sucht keine Antworten, er findet nur Obszönitäten. So zeichnet er ein derbes, farbenpralles Unsittengemälde, in dem der Anti-Held ein verklemmter Spießer ist. Harmlos. Dass Elmar Roloffs Herzog als lascher 68er-Epigone mit Nickelbrille, Anzug und karamellisierter Stimme gleich zu Beginn des Stücks eine mögliche  Aktualisierung andeutet, bleibt nur eine Ahnung, eine vage Hoffnung. Der liberal heuchelnde Vincentio bildet äußerlich den Kontrast zum neokonservativen Hardliner Angelo. Und von hier wäre es gedanklich gar nicht weit zu den antidemokratischen, faschistoiden Tendenzen, die sich in Europa oder Amerika immer selbstbewusster breitmachen. Doch die Politisierung endet bei der Kleidung.

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"Maß für Maß" mit Lotte Ohm als Isabella und Holger Stockhaus als Angelo © Cecilia Glaesker

Wer es allerdings bei "Maß für Maß" nicht genau nimmt, weder Todesstrafe noch Diktatoren in unmittelbarer Nähe fürchtet und deftiges Knallchargentheater schätzt, freut sich über den Klamauk. Neben dem augenrollenden, zwischen Lust und Frust hechelndem Holger Stockhaus ist es vor allem Martin Leutgebs Madame Oberweite, die mit Wiener Schmäh den Erdschlamm spritzen lässt. Mit Atombusen, saugstarker Küchenrolle und mörderischen High-Heels bewaffnet reißt die voluminöse Puffmutter mit tollem Gekeif über Schamhaar ("Brunzbuschn"), Schnitzel und andere Wiener Spezialitäten ein ums andere Mal den Abend wie einen zaudernden Freier an ihre Brust. Eine herrlich geschmacklose One-Woman-Show, die für sich steht wie so vieles in diesem trashigen Shakespeare, der keiner ist.

Ausgenommen wie eine Weihnachtsgans

Die Handlung wird lediglich skizziert, juxverliebt stürzt sich die Regie auf jede sich bietende Frivolität und zerdehnt sie mit Jerry-Lewis-hafter Impertinenz bis ins Unerträgliche. Irgendwann geht es ans Köpfen des Claudio. Die Polizisten Ellenbogen und Schließer streiten sich halb berlinernd, halb sächselnd darüber, wer das Hackebeil schwingen soll. Niemand will. "Nun haben wir'n fettet, dicket Problem" unkt Ellenbogen (Johannes Benecke). Catherine Stoyans Schließer redet sich mit Schmerzen in der Schultern heraus, führt ethische Bedenken an, um am Ende argumentativ bei den Eierstöcken zu landen, die man ihr letztens entfernt hat. "Die haben mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans", sagt sie. Da geht es ihr nicht besser als dem armen Shakespeare.


Maß für Maß
von William Shakespeare, in einer Neuübertragung von Paul Brodowsky
Regie: Christian Weise, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Andy Besuch, Musik: Jens Dohle, Dramaturgie: Christian Holtzhauer.
Mit: Elmar Roloff, Holger Stockhaus, Michael Stiller, Toni Jessen, Lotte Ohm, Lukas Rüppel, Martin Leutgeb, Sebastián Arranz, Johannes Benecke, Catherine Stoyan.

www.schauspiel-stuttgart.de



Kritikenrundschau

"Sicher, in Shakespeares Komödien liegen Philosophie und Zote oft dicht beieinander", konzediert Otto Paul Burkhardt für die Südwest Presse (28.11.2011), doch Weises Regie tummele sich "fast nur noch im zweiten Bereich – und fährt dabei alles auf, was sonst eher in bildungsfernen TV-Formaten verstrahlt wird, garniert mit Zynismus und austauschbaren Weisheiten wie: Politiker sind auch nur Schauspieler. Teils lustig, oft öde." Figuren seien hier "eher Lachnummern. Die aber sind wenigstens liebevoll geschmacklos inszeniert". Shakespeare diene "nur noch als Selbstbedienungsladen für Blödelei, wie sie uns täglich überall entgegen quillt. Ein Mordsspaß, manchmal sogar wunderbar trashig. Doch meistens vorhersehbar gebürstet – auf Brüller-Klamauk."

Christian Weise nehme "wörtlich, was der auf dem Programmzettel zitierte Harold Boom schreibt", meint Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (28.11.2011). "Der Shakespeare-Experte fragt sich, ob der Dramatiker mit dem Werk die Komödie als literarische Form zu Tode reiten wollte. Weise antwortet: Super Idee! Lass uns Paul Brodowsky eine kunstfreie, schnoddrige Übersetzung machen, eine launige Kapelle engagieren und darauf achten, dass ja kein Kalauer verloren geht." Das ergebe dann "eine teilweise hochkomische, oft nur schlichte Nummernrevue, insgesamt ein harmloses, glühweinseliges Vorweihnachtskasperltheater." Golombek hält auch die Verluste fest: "Keine Chance für die – schaut man sich um in der Welt – höchst aktuelle Frage der prekären Rechtsprechung. Keine Chance auch für die Frage, wie ohnmächtig sich Menschen fühlen, die mit Staatswillkür konfrontiert werden."

Es sei "nicht zu übersehen und zu überhören, dass Weises brennendes Interesse den derben und vulgären Seiten von Shakespeares Märchen-Wien" gelte, schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (28.11.2011). Für dieses Rotlichtmilieu aber habe sich "der Spaßregisseur (…) allerhand Hübsches einfallen lassen. Es darf also gewiehert werden!" Mit "Liebe zum spielerischen Detail" entwerfe die Regie "kleine Halbweltminiaturen. Sie stecken voller Sprach- und Szenenwitz für jene Zuschauer, deren Gemüt nicht allzu empfindlich ist." Doch "bei allem Gelächter, das Christian Weise zu entfesseln vermag: eine plausible Deutung der Komödie bleibt er uns schuldig. Dazu ist seine Nummernrevue dann doch zu unterhaltungssüchtig und klamottig."

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