alt

Brumm, Kreisel!

von Ulrich Fischer

Kassel, 26. November 2011. Aufgabe des Dramatikers sei es nicht, Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, schrieb Anton Tschechow in einem Brief, der im Programmheft zu Sebastian Schugs Inszenierung der "Drei Schwestern" in Kassel abgedruckt ist. Ein Kreisel ist bei Schug das bedeutsamste Requisit. Er dreht sich an der Rampe um seine eigene Achse und brummt die Frage in den Mittelpunkt, ob das Immergleiche stets wiederkehrt oder ob es Entwicklungen gibt, vielleicht sogar zum Besseren.

Keine Trennlinie
Als Bühne hat Christian Kiehl einen hellen Rundhorizont entworfen, der ebenso an Sperrholz und Probebühne erinnert wie ans epische Theater und Bertolt Brecht. Das kommt der Regie entgegen, die kein psychologisches Kammerspiel anstrebt, sondern ein Experiment zum Thema Geschichte. Die Kostüme enthalten sowohl Elemente von heute als auch aus der Zarenzeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Stabshauptmann Soljenyj (der riesige, athletische Dieter Bach) zum Beispiel trägt zur hellgrauen Bundeswehr-Uniformjacke Knobelbecher, die an russische Offiziere vor dem Ersten Weltkrieg erinnern. Sind die Menschen der spätfeudalen Gesellschaft in Russland vor der Oktoberrevolution die gleichen wie die der postneoliberalen Gesellschaft im heutigen Deutschland? Haben wir in hundert Jahren von zwei Weltkriegen nichts gelernt?

Immer wieder lässt Sebastian Schug während des Spiels das Licht im Saal angehen, als wolle er nahelegen, es gebe keine Rampe, keine Trennlinie zwischen Zuschauerraum und Bühne, die Zeit auf der Bühne sei identisch mit der Gegenwart im Zuschauerraum. Die drei Schwestern wirken selbstbewusst, heutig. Vor allem Eva Maria Sommersberg hat gar nicht das Naive, das Irina bei Tschechow auszeichnet. Sie trägt Hot Pants, wird selbst durch leidenschaftliche Liebesgeständnisse nicht verunsichert, geschweige denn erschüttert. Zumindest die Rolle der Frau hat sich also doch mächtig geändert in den letzten hundert Jahren.

Kraft genug
So ergibt sich dann aber die Frage, warum die drei nicht aufbrechen, warum es beim Sehnsuchtsruf "Nach Moskau!" bleibt. Warum ziehen sie ihren Bruder nicht zur Verantwortung, als der, in einer Stunde der Schwäche, zugibt, das gemeinsame Erbe verschwendet zu haben? Bei Tschechow liegt es daran, dass sie neurasthenisch sind, konfliktscheu. Die Kasseler drei Schwestern hätten dagegen Kraft genug. Allerdings werden sie ausgebremst von Natalia Iwanowna, ihrer Schwägerin.

Anke Stedingk porträtiert mit dieser Natalia die interessanteste Figur. Die Schauspielerin setzt ihre Kilos zielbewusst ein, um als Komikerin zu glänzen. Sie trägt schreckliche Kostüme, am scheußlichsten ist ihr bonbonrosa Unterrock. Aber Stedink zeigt nicht nur die Geschmacklosigkeit Natalias, sondern auch ihre Aggression. Sie will dominieren und vertreibt tatsächlich zielbewusst alle drei Schwestern aus dem Haus, in dem sie am Schluss erfolgreich die Alleinherrschaft an sich reißt. Eine Schlüsselszene gibt es im dritten Akt, beim Brand. Viele haben alles verloren, und Olga plündert die Kleiderschränke, um den Opfern des Feuers Hilfe anzubieten. Eine Sirene heult, alles schreit durcheinander, Chaos! Derweil fliegen alle Kleider auf Anfisa (mit grauer Greisinnenperücke Eva-Maria Keller), die 80jährige Kinderfrau, die schließlich unter der Last zusammenbricht. Olga erlaubt ihr, sich zu setzen – was Natalia in Rage bringt. Eine Dienstbotin, sitzend in Gegenwart der Herrschaft? Sie wird handgreiflich. Anke Stedingk zeigt in diesen kurzen Momenten überzeugend die bedenkenlose Rücksichtslosigkeit der Egoistin.

Auf Kosten der Schwachen
Ist das nun ein Beweis für die Wiederkehr des Immergleichen? Setzen sich nicht auch heute die herzlosen Neoliberalen durch, mit Vorliebe auf Kosten der Schwachen? Oder ist es besser geworden? Besser – weil es keine "Dienstboten" mehr gibt, man zwar demnächst bis 67 arbeiten soll, aber nicht bis 80, und auch nicht aus dem Dienst gejagt wird ohne Gnadenbrot? Die Unfähigkeit Nataschas, sich in andere hineinzudenken, macht die Schwägerin zur Stärke – und die drei Schwestern laden Schuld auf sich durch Schwäche. Ein interessanter Befund von Tschechow, den Schug in seiner Inszenierung deutlich herauspräpariert.

Dieser Abend in Kassel will keine Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen. Im Publikum kann jeder für sich entscheiden. Die Zuschauer waren's zufrieden und dankten für eine ambitionierte und anregende Neudeutung mit lebhaftem, nicht enden wollendem Beifall.


Drei Schwestern
von Anton Tschechow, deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Sebastian Schug Bühne: Christian Kiehl Kostüme: Nicole Zielke Musik: Johannes Winde Dramaturgie: Christa Hohmann Licht: Oskar Bosmann.
Mit: Dieter Bach, Peter Elter, Bernd Hölscher, Eva-Maria Keller, Sebastian Klein, Aljoscha Langel, Agnes Mann, Aline Rank, Eva Maria Sommersberg, Thomas Sprekelsen, Anke Stedingk, Uwe Steinbruch, Jürgen Wink.

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

In Sebastian Schugs überzeugendem Regiezugriff erwachse "die verzweifelte Stimmung nicht aus der Alltagsroutine eines beschaulichen Landsitzes, sondern aus dem fiebrigen Ausgepowertsein einer (übergroßen?) Lebenserwartung. Die unaufhaltsam ansteckt wie ein Virus", schreibt Bettina Fraschke in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung (28.11.2011). Das Leben sei hier "ein trashiger Wartesaal, wo man auf Kunstlederpolstern kauert und Tee aus Thermoskannen in Plastikbecher gießt". Jeder Darsteller gebe "seiner Figur ein Profil", schärfe "auch die kleinste Rolle". Am Ende habe das Publikum das Ensemble "mit kräftigem Applaus" gefeiert.

Kommentar schreiben